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Anmerkungen zu der dritten Staffel von „Sherlock“

Hinweis: Dieser Artikel behandelt die komplette dritte Staffel von „Sherlock“ und enthält daher viele Spoiler!

Wie weit darf man es mit dem Zuschauer treiben? Diese Frage habe ich mir während der dritten Staffel von „Sherlock“ einige Male gestellt. Ich mag „mindfucking“ Filme und Serien, ich liebe es, in die Irre und auf falsche Fährten gelockt zu werden. Jedoch gibt es auch innerhalb der Serienfiktion Grenzen und die Gefahr, dass alles nur noch zum Spiel wird.

Folge 1 – Der leere Sarg

Bild: ARD Degeto/BBC/Hartswood Films 2013

Bild: ARD Degeto/BBC/Hartswood Films 2013

Die erste Folge beginnt mit der erwarteten Wiederkehr von Sherlock Holmes (Benedict Cumberbatch), im Mittelpunkt steht daher das Wiedersehen mit seinen Mitstreitern und insbesondere John Watson (Martin Freeman). Insbesondere die erste halbe Stunde ist sehr unterhaltsam: Es werden mögliche Szenarien abgehandelt, wie Sherlock sein Ableben inszeniert haben könnte, immerhin gibt es nach seiner eigenen Sherlocks Aussage 16 Varianten – allein, wie er es letztlich getan hat, wird nicht aufgelöst, vielmehr reichen die verschiedenen Möglichkeiten. Hier reflektiert die Serie sehr schön die vielen Spekulationen, die es nach dem Ende der zweiten Staffel gab, außerdem vereint diese erste Folge alle Qualitäten der ersten beiden Staffeln: Sie ist temporeich, steckt voller Anspielungen und unterhält sehr gut.

Die offensichtlichste Quelle für diese Folge, auf die auch der Titel anspielt, ist die Kurzgeschichte „Das leere Haus“, in der Sir Arthur Conan Doyle die Umstände von Sherlocks vorgetäuschtem Tod enthüllt und er nach London zurückkehrt, um Moriartys Kompagnon zu überführen. Johns Verlobung mit Mary Morstan findet bei Doyle indes in dem Roman „The Sign of the Four“ statt (in dieser Folge Mary zu sehen, wie sie in Johns Blog eine Geschichte liest, die ein Auszug aus diesem Buch ist), der in der nächsten Episode aufgegriffen wird. Daneben gibt es weitere kleinere Anspielungen auf Geschichten von Arthur Conan Doyle, insgesamt deutet sich aber an, dass die ‚bromance‘ zwischen Sherlock und John größeren Raum einnehmen wird.

Folge 2: Im Zeichen der Drei

Bild: ARD Degeto/BBC/Hartswood Films 2013

Bild: ARD Degeto/BBC/Hartswood Films 2013

Bereits der Titel verweist auf die offensichtliche Inspiration der Folge – „The Sign of the Four“ – und im Mittelpunkt steht Marys (Amanda Abbington) und Johns Hochzeit. Nun hätte ich kaum gedacht, dass ich jemals über eine „Sherlock“-Folge sagen werden, dass sie langweilig ist. Aber in dieser Episode wird sehr viel Zeit darauf verwendet, abermals Sherlocks und Johns Verhältnis zu beschreiben, bekannte Charakterzüge noch einmal deutlich zu machen, es gibt viele Anekdoten und kleine Witzeleien, die mit einem letztlich wenig interessanten Fall und vielen kleineren Fällen kombiniert werden. Vielleicht hätte mir diese Folge besser gefallen, wenn ich eine große Sherlock/Cumberbatch-Aficionada wäre. Fraglos spielt er diese Rolle großartig, harmoniert mit Martin Freeman nahezu perfekt und ist seine Rede auf der Hochzeit wirklich amüsant – aber die Figuren und Schauspieler allein tragen nicht eine ganze Folge. Dass es zu einem Vorfall auf der Hochzeit kommt, ist natürlich klar, einzig überraschend sind hier abermals Marys Qualitäten, die energisch zur Tat schreitet. Jedoch stimmt insgesamt das Erzähltempo nicht, außerdem wird auf die Ereignisse der vorgehenden Episode nicht Bezug genommen. Weder Johns Kidnapping wird erwähnt, noch gibt es weitere Entwicklungen mit Charles Magnusson, der anscheinend in dieser Staffel der große Bösewicht sein soll. Stattdessen werden weiterhin Sherlocks Seelenleben und Persönlichkeit erkundet, auch wird sein Bruder Mycroft – der ohnehin immer breiteren Raum einnimmt – immer mehr zu einem Verbündeten und zugleich einem Widersacher. In Verbindung mit einer stärkeren Handlung wäre es eine sehr interessante Entwicklung gewesen, aber so bleibt doch der fade Nachgeschmack, dass in einer Serie, die pro Staffel aus drei Folgen besteht, viel Zeit verschwendet wurde.

Folge 3: Sein letzter Schwur

Bild: ARD Degeto/BBC/Hartswood Films 2013

Der Plot der Folge basierten im Wesentlichen auf Arthur Conan Doyles Kurzgeschichte „The Adventure of Charles August Milverton“, auf die bereits der Name Charles August Magnussen (Lars Mikkelsen) anspielt. Er ist hier ein Zeitungsmogul, der über ein umfangreiches Archiv voller belastender Materialien verfügt (die Verweise auf Rupert Murdoch sind mehr als deutlich). Sherlock und John Watson wollen einige der Briefe zurückholen, zumal Magnussen auch Mary erpresst. Und was bereits für John Watson galt, trifft auch auf seine Frau zu: Wer sich mit dem Ehepaar Watson anlegt, bekommt es mit Sherlock Holmes zu tu!

Die Anspielungen auf Sherlocks Heroinsucht und andere Fälle sind gelungen, auch ist grundsätzlich sehr zu begrüßen, dass er mit Charles August Magnussen wieder einen ebenbürtigen Gegenspieler hat. Allerdings wird diese Figur nahezu verheizt: In der ersten Folge der Staffel erwähnt, in der zweiten vergessen, wird er nun innerhalb einer Folge zu dem Mann, der Sherlock am meisten hasst, stilisiert, dann wird aber seine Überlegenheit dramaturgisch nicht ausgenutzt, sondern er verschwindet dank eines soziopathischen Anfalls von Sherlock von der Bildfläche. Dafür bleiben viele Fragen offen: Magnussons „mind-palace“ ist eine raffinierte Idee, wie konnte er aber so viele Menschen erpressen, ohne physische Beweise zu haben? Reicht tatsächlich eine Behauptung schon aus? Falls ja: Warum sollte ich mich auf die Glaubwürdigkeit der Behauptung verlassen? Ohnehin verlangt Drehbuchautor Steven Moffat, dass man vieles hinnimmt – allein weil es eine weitere Wendung verspricht. Es gibt so viele abgerissene und wieder aufgegriffene Erzählstränge, dass es fast schon wahllos wirkt. Und dass Mary sich plötzlich als Auftragsmörderin entpuppt, mag sicher zum Teil mit Johns Faible für gebrochene Menschen zusammenhängen, ist aber selbst für John schwer zu glauben. Und wie konnte sie anfangs auch Sherlock täuschen? Sogar bei der überraschenden Wiederkehr von Moriarty zumindest der schale Nachgeschmack, dass er ein wenig zu früh zurückkehrt. Gerade wenn ich mich auf die Tendenz einlasse, dass es mehr im Sherlocks Seelenleben geht, wäre es doch spannender, wenn Moriarty noch eine Staffel einfach nur in Sherlocks Kopf weitergelebt hätte. Zumal er mit Magnussen einen vielversprechenden Nachfolger gehabt hätte. Abgesehen davon halte ich es durchaus für möglich, dass das Video bereits vor seinem Tod entstanden ist und nun einem Masterplan folgend von einem seiner Schergen benutzt wird. Schließlich ist ein Kopfschuss nicht so leicht vorzutäuschen – es sei denn, wir erfahren nun, dass Sherlock damit die ganze Zeit gerechnet hat, schließlich war er der einzige, der den Selbstmord mit angesehen hat.

Fazit

Bild: ARD Degeto/BBC/Hartswood Films 2013

Bild: ARD Degeto/BBC/Hartswood Films 2013

Insgesamt steht in dieser Staffel der Charakter von Sherlock viel mehr im Mittelpunkt als die Fälle, die Jagd nach den Bösewichtern. Indem die Serie zunehmend die soziopathische Seite des Detektivs erkundet, bleibt weniger Zeit für die Einführung von Gegenspielern und Ermittlungen, so dass die Aufklärung allein Sherlocks ‚Superkräften‘ anzulasten ist. Außerdem wird seine Involvierung in die Geheimdiensttätigkeiten seines Bruders beständig betont, daher wird er immer mehr zum ‚Agenten seiner Majestät’, wird zu einem Helden, der gelegentlich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden muss. Vom Detektiv aus der Baker Street bleibt somit immer weniger übrig und ich frage mich, ob er durch die ständige Betonung seiner Genialität sowie Exzentrik nicht auch seine Individualität einbüßt. Es mag zunächst widersprüchlich klingen: Aber ist dieser Sherlock, der insbesondere durch die Fähigkeiten seines Gehirns beeindruckte, nicht längst eine so entrückte Figur geworden, dass diese Talente nicht mehr besonders gefragt sind? Ist er mehr Geheimagent denn Privatdetektiv? Mir hat jedenfalls das Geheimnisvolle gefehlt, die Neugier und die Spannung. Sicher war „Sherlock“ niemals eine „detective show“, sondern eine Serie über einen Detektiv (so hat es Mark Gatiss selbst einmal formuliert), aber auch eine Serie über einen Detektiv braucht mehr als immer noch eine Wendung, noch eine Drehung und noch ein überraschendes Moment. Und hier läuft die Serie meiner Meinung nach trotz der guten Schauspieler, der vielen tollen und originellen Szenen Gefahr, den Bogen schlichtweg zu überspannen.

„Im Zeichen der Drei“ und „Sein letzter Schwur“ werden am 8. und 9. Juni um 21:45 Uhr in der ARD ausgestrahlt.

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Verbrechen in Glasgow – „Der unvermeidliche Tod des Lewis Winter“ von Malcolm Mackay

(c) S. Fischer

(c) S. Fischer

Glasgow ist Schauplatz von Malcom Mackays „Der unvermeidliche Tod des Lewis Winter“, Auftakt seiner Trilogie um ein schottisches Verbrechersyndikat. Im Mittelpunkt steht Calum MacLean, freischaffender Auftragskiller mit gutem Ruf und Hang zur Einsamkeit. Deshalb arbeitet er am liebsten alleine und hat sich bisher keiner Organisation angeschlossen. Als nun aber der beste Auftragskiller der Branche, Frank MacLeod, aufgrund einer Hüftoperation verhindert ist, bekommt e vom aufstrebenden Gangsterboss Peter Jamieson den Auftrag, Lewis Winter zu ermorden – und damit auch die Gelegenheit, sich ihm anzuschließen.

Aus verschiedenen Perspektiven entfaltet sich im Folgenden die Handlung, in deren Mittelpunkt der titelgebende unvermeidliche Tod des Lewis Winter steht. Calcums Vorbereitungen des Mordes, die letzten Tage des Lewis Winters und schließlich die Ermittlungen von DI Michael Fisher werden gut und spannend geschildert. Besonders interessant ist dabei, dass Malcolm Mackay nicht von den großen Bossen, sondern aufstrebenden Partizipierenden des Verbrechens erzählt: Jamieson und seine rechte Hand Frank Young leiten zwar bereits eine Organisation, aber sie gehören noch nicht zu den ganz Großen, sondern haben sich erst einigen Respekt und ein eigenes Revier erarbeitet. Calum MacLean weiß, dass er in seiner Arbeit gut ist, er sucht und akzeptiert die Einsamkeit als Teil des Jobs und schätzt am meisten seine Freiheit: Jedoch wäre eine Bindung an eine Organisation der nächste Schritt. DI Fisher ist ein erfahrener und integerer Cop, ein ehrgeiziger Ermittler, der die großen Bosse gerne überführe würde, sich aber mit den Realitäten und somit den kleinen Fischen abfinden muss. Daneben gibt es weitere Nebenfiguren, die sich allesamt auf unterer bis mittlerer Ebene befinden und somit ist in diesem ersten Teil vor allem das Wachsen der Organisation, das Entstehen der Verbindungen zu erkennen, die – so lässt es die Leseprobe am Ende hoffen – in den weiteren Teilen ausgebaut wird.

Bemerkenswert ist zudem die Unaufgeregtheit – nicht zu verwechseln mit Lakonie, denn Mackas Sätze sind zwar kurz, aber er erzählt äußert detailliert –, mit der von der Welt des Verbrechens erzählt wird. MacLean ist ein typischer Selbständiger, der sich fragen muss, ob er lieber freischaffend mit allen Risiken bleibt oder sich in Festanstellung in die Absicherung eines Syndikats begibt, unterdessen ist MacLeod etwas weiter und denkt nach seiner Hüftoperation über den Ruhestand nach. Außerdem sind Mackays Figuren allesamt rational in ihren Handlungen, hier gibt es keine Psychopathen oder geniale Verbrecher, sondern Amateure, Einsteiger und Profis, die ihr Handwerk beherrschen. Die guten Akteure des Verbrechensmarktes überdenken ihre Handlungen und deren Folgen, die Ungeschickten ignorieren sie – und die Tragischen nehmen sie in Kauf. Denn Verbrechen, so erscheint es letztlich bei Mackay, ist ein Geschäft wie jedes andere.

Malcolm Mackay: Der unvermeidliche Tod des Lewis Winter. Übersetzt von Thomas Gunkel. S. Fischer 2014. Der zweite Teil folgt nach Verlagsangaben im Frühjahr 2015.

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Den Haag und Serbien – Über „Tribunal“ von André Georgi

(c) Suhrkamp

(c) Suhrkamp

Die besten Krimis blicken über den eigenen Rand hinaus, sind – auf verschiedenste Weise – gesellschaftskritisch und regen zum Nachdenken an. Auf den ersten Blick scheint das alles auf „Tribunal“ von André Georgi zuzutreffen. Seine Hauptfigur ist die Polizistin Jasna Brandic, die seit zwei Jahren für den Schutz des Serben Marco Kovac zuständig ist. Kovac soll in Den Haag beim Kriegsverbrechertribunal der Prozess wegen des Massakers von Višegrad (dort führt Ivo Andrc’ „Brücke über die Drina“) gemacht werden, bei dem er mit 15 Mitgliedern seiner paramilitärischen Einheit „Die Wölfe“ über 4000 Moslems vergewaltigt und ermordet haben soll. Aber die Beweislage schwierig: Noch vom Gefängnis aus hat Kovac gute Verbindungen, wird vermutlich von Teilen der serbischen Regierung geschützt, viele Zeugen sind eingeschüchtert und haben Angst, gegen Kovac auszusagen. Außerdem droht ständig ein Anschlag, deshalb sind die Sicherheitsvorkehrungen sehr hoch. Dennoch kommt es zu einem Attentat und einem Zwischenfall im Gerichtssaal. Daraufhin droht der gesamte Prozess zu platzen. Jasna muss noch einmal nach Serbien reisen, um dort einen von Kovac‘ Komplizen zu finden, der angeblich bereit ist, gegen ihn auszusagen.

Der erste Teil von „Tribunal“ ist mit kurzen Sätzen, schnellen Perspektivwechsel und viel Action sehr temporeich. Durch diesen filmischen Erzählstil wird auch die Spannung langsam aufgebaut – hier schreibt also fraglos jemand, der sein Handwerk versteht. Allerdings bleibt es bei dieser oberflächlichen Spannung, denn André Georgi in seinem Thrillerdebüt nicht in die Tiefe, sondern entscheidet sich im Zweifelsfall immer für Action statt Psychologisierung. Nun könnte das im Thriller prinzipiell funktionieren, wenn nicht Jasna zunehmend persönlich in den Fall involviert wäre. Ohnehin bin ich keine große Freundin von persönlichen Verwicklungen ermittelnder Staatsbeamter in die Fälle. Als Motivation für private Ermittler mag ein persönliches Motiv notwendig sein, aber Jasna Brandic macht in erster Linie ihren Job, den sie bereits mit Besessenheit erfüllt. Außerdem stammt ihre Familie aus Serbien und so hat sie eine zusätzliche Motivation, diese Verbrechen aufzuklären. Dann stellt sich jedoch heraus, dass sie nicht nur mit einem, sondern mit zwei gesuchten Kriegsverbrechern verwandt ist. Hieraus ergeben sich viele spannende Fragen, die im Rahmen dieses Thrillers zu verhandeln möglich gewesen wäre. Wenn ich mir vorstelle, ich riskierte mein Leben, damit ein Massenvergewaltiger und -mörder vor Gericht kommt, ich habe so viele Zeugenaussagen über begangene Gräueltaten gelesen, dass mein eigenes Sexualleben darunter mehr als leidet, und erfahre, dass mein totgeglaubter Vater und Bruder an diesen Taten beteiligt waren, dann wäre ich verstört, würde mich fragen, was mit ihnen nicht stimmt – und ob mit mir vielleicht auch etwas nicht stimmt. Die Erklärung, dass sie nach dem Aufdecken der Vertreibung und Ermordung ihrer Großmutter und Tante Selbstjustiz geübt haben und sich einer Miliz angeschlossen haben, mag damals in der Situation dem Bruder und Vater als Rechtfertigung ausgereicht habe, aber auch der Tochter, die ihr Leben dem Kampf gegen solche Männer gewidmet hat? In „Tribunal“ anscheinend ja. Deshalb wird diese komplexe psychologische Situation nicht erkundet, sondern André Georgi bleibt bei äußeren Ereignissen, bei Folter und einer minutiös geschilderten Verfolgungsjagd, deren Ende bereits Seiten vorher verraten wurde. Dadurch wird weder die Identifikation mit Jasna erhöht – ein Hauptgrund für persönliche Verwicklungen – noch wird sie als Figur komplexer. Dazu hätte André Georgi zusätzlich zu den spannenden äußeren Handlungen den Figuren auch ein ausgefeiltes Innenleben geben müssen. Damit ist „Tribunal“ als Pageturner dank der handwerklichen Fertigkeiten des Autors solide. Er ist spannend, durchaus unterhaltsam und eignet sich als Vorlage für einen Fernsehfilm. Aber leider steckt dieses Buch auch voller verschenkter Möglichkeiten.

André Georgi: Tribunal. Suhrkamp 2014.

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Krimi-Kritik: „Sense“ von Jörg Juretzka

Im April erscheint Jörg Juretzkas neues Buch „TaxiBar“, ich werde ihn demnächst interviewen und ein Porträt über ihn schreiben. Deshalb lese ich derzeit fast ausschließlich seine Bücher und sehe mich von Seite zu Seite in meiner Überzeugung bestätigt, dass er einer der besten und leider viel zu unbekannten deutschsprachigen Krimi-Autoren ist. Deshalb werde ich hier im Zeilenkino eine kleine Reihe starten über ihn starten.

Biographische Angaben in aller Kürze

Jörg Juretzka (c) Harald Hoffmann

Jörg Juretzka (c) Harald Hoffmann

Geboren 1955 in Mülheim an der Ruhr schreibt er nach eigener Aussage seit er denken kann („also seit meinem 35. Lebensjahr“). Er ist gelernter Tischler, war Blockhüttenbauer in Kanada, hat eine Weile Drehbücher u.a. für die Fernsehserie „Was nicht passt, wird passend gemacht“ geschrieben und liest angeblich nie Bücher von Frauen (naja). Kristof Enrico Kryszinski ist die Hauptfigur seiner zehn bisher erschienenen Kriminalromane, außerdem hat Jörg Juretzka noch zwei Bücher über den erfolglosen Schundautor Folkmar „Folle“ Windell, eine Krimi mit Jörg Fiedler sowie einen Kinderkrimi geschrieben.

Gestatten: Kryszinski, Kristof Enrico Kryszinski

Ex-Häftling Kristof Kryszinski ist Privatdetektiv in Mühlheim an der Ruhr, der „Perle des Ruhrgebiets“, war mal heroinsüchtig, nimmt seit dem kalten Entzug im Gefängnis aber nur noch Drogen, die er nicht spritzen – davon allerdings jede Menge. Er trinkt, wohnt in den ersten Romane der Reihe über seiner Lieblingsbar „Endstation“ und hat eine Katze – ein „fieses Aas“. In „Prickel“ dem ersten Buch der Reihe verhilft er einem jungen Mann aus der Patsche, sucht den verschwundenen Doberman des Schrottplatzsbesitzer Heiner und gerät – wie eigentlich immer – in ziemlich großen Schlamassel. Ohnehin ist es neben dem Aufspüren von vermissten Personen eine besondere „Begabung“ von Kryszinski, sich selbst möglichst tief in die Sch*** zu reiten.

„Sense“ – Der zweite Fall

(c) Unionsverlag

(c) Unionsverlag

In „Sense“ wird er von der schicken Anwältin Veronika zu einer ihrer wichtigsten Mandantinnen geschickt. Die Duisburger Spielautomatenkönigin vermisst ihren „Prinzgemahl Sascha „Pascha“ Sentz“, der Tage zuvor wie immer die Einnahmen der Spielhallen eingesammelt hat, seither aber verschwunden ist. Bereits im ersten Kapitel des Buchs wird er gefunden – und zwar tot in Kryszinsikis Wohnung. Daraufhin wird der Privatdetektivk zum Hauptverdächtigen und in den folgenden Kapiteln springt die Handlung beständig zwischen dem Verlauf der Suche und Kryszinskis Verhören durch seine alten Erzfeinde auf Seiten der Polizei, die Komissare Menden und Hufschmidt. Später kommen noch Kryszinskis eigene Nachforschungen hinzu, in denen er mehrfach verprügelt wird, aber dank einiger Zufälle alles aufklären kann.

„Sense“ liest sich temporeich und ist vor allem sehr lustig. Kryszinski hat einen schnodderigen Humor, den Juretzka in rotzige und lakonische Sprache packt. Außerdem bevölkern eine Reihe von wiederkehrenden Nebenfiguren die Romane, so dass es beständig ein Wiedersehen mit beispielsweise Pierfrancesco Scuzzi gibt, Dealer mit dem schlimmsten Musikgeschmack der Welt und Kryszinskis bester Freund. Außerdem gibt es noch Charlie, einer von Kryszinski besten Kumpels und Chef der „Stormfuckers“, einer Motorradgang, zu der Kryszinski mehr oder weniger gehörte (davon erzählt der dritte Band „Der Willy ist weg“). Sowohl ihnen als auch den nur in den einzelnen Teilen auftauchen Figuren verleiht Juretzka mit wenigen Sätzen und vor allem ihrer Sprechweise ein sehr eigenes Profil, darüber hinaus wirken sie trotz gelegentlicher Zuspitzungen äußerst lebendig. Darüber hinaus trägt der Ich-Erzähler Kryszinski sehr zu dem sehr originellen Stil dieser Romane bei.

„Sense“ ist sicher nicht der beste Teil der Reihe, dazu greift allzu oft der Zufall ein, auch ist der Plot nicht allzu raffiniert. Aber neben den Sprüchen steckt in scheinbar genretypischen Passagen wie beispielsweise einer Verfolgungsjagd sehr viel psychologische Raffinesse, außerdem verweist Juretzka mit seinen Außenseiterfiguren auch immer auf gesellschaftliche Probleme.

Jörg Juretzka: „Sense“. Neuauflage vom Unionsverlag 2012 (erstmals 1998 erschienen).

Reihenfolge:

Bei kaliber.38 gibt es Interview mit Jörg Juretzka, in dem er auch auf die Reihenfolge seiner Romane zu sprechen kommt: „Die Reihenfolge der Entstehung ist eigentlich nicht wichtig, da ich den Inhalt von „Sense“ bei der Überarbeitung zeitlich hinter den zuerst erschienenen „Prickel“ gepackt habe. Die Reihenfolge der Kryszinski-Romane ist daher:

(c) Unionsverlag

(c) Unionsverlag

Prickel
Sense
Der Willy ist weg
Fallera
Equinox
Wanted
Bis zum Hals
Alles total groovy hier
Rotzig & Rotzig
Freakshow
TaxiBar (erscheint im April 2014)

Jörg Juretzka im Zeilenkino:

Über „Prickel“
„Platinblondes Dynamit“ (1. Band mit Volkmar Windell)
„Der Willy ist weg”
„Fallera”

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„Downton Abbey“ – Die vierte Staffel

Seit jeher habe ich eine Schwäche für den Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Weimarer Republik war stets meine Lieblingsepoche, ich liebe die Literatur aus dieser Zeit – und Filme, die in diesen Jahrzehnten bis in die 1930er Jahre spielen. Deshalb bin ich auch bei „Downton Abbey“ eine Seherin der ersten Stunde, ich mochte das Betuliche der Serie, die Upper-Class-Probleme, die drei stereotypen Töchter und konnte mit den Intrigen unter den Hausangestellten als notwendiges Handlungsbeiwerk leben. Aber spätestens mit der dritten Staffel zeichnete sich immer deutlicher ab, dass dieser Serie eine klare Richtung fehlt und auch den Drehbuchautoren die Ideen ausgehen. Das ohnehin schon langsame Erzähltempo wurde weiter verschleppt, manche Handlungsstränge waren so ausführlich und zeitraubend aufgebaut, dass es eine Wohltat war, als sie beendet waren. Doch nach dem Schock aus dem Weihnachtsspecial, in dem mit Matthew einer der Protagonisten starb, war ich gespannt, wie die Serie weiter gehen würde. Immerhin bot dieses Ausscheiden einige Möglichkeiten: der Fokus könnte von Mary auf die weitaus interessantere Edith gelenkt werden, deren Potential bislang nicht ausgeschöpft wurde, oder Mary könnte jenseits der Erwartungen, den richtigen Mann zu heiraten, neue Perspektiven entwickeln. Allein die Besetzung könnte verändert werden, außerdem könnte es nach den vielen Liebesverwicklungen wieder andere Konflikte geben.

(c) ITV

(c) ITV

Jedoch geschah nur wenig. Marys Trauer wurde kurz abgehandelt, so dass sogleich ein neues Verehrer-Duo, bisweilen -Trio ihr den Hof machte. Das eigentlich interessantere Thema – Marys Versuche der Mitbestimmung – wurde zugunsten der Liebeshandlung zurückgeschraubt. Die bereits in der letzten Staffel allzu präsenten Anna und Bates müssen eine weitere Prüfung bestehen, insbesondere ihnen hätte eine Pause gut getan – und das gleiche Thema hätte auch mit einer anderen Hausangestellten behandelt werden können. Aber insbesondere bei den Angestellten bekommt niemand Raum für Weiterentwicklung, stattdessen werden bekannte Handlungselemente einfach wiederholt: Anna ist so gut, Bates ist so undurchsichtig, Mrs. Hughes ist weise, Butler Carlson konservativ (er erinnert mich immer an Sam aus der „Muppet Show“) und die Footmen sowie Küchenangestellten sind hauptsächlich als komische Figuren in der Serie. Sicher ist es angesichts der Einschaltquoten riskant, beliebten Charakteren weniger Handlung zu geben. Für die Serie wäre es aber besser. Vielleicht würde den Autoren dann auch einfallen, was sie mit Cora machen könnten, die in acht Folgen und einem Special eigentlich immer die gleiche Kopfbewegung und Betonung zeigte. Ohnehin war ich von dem Special enttäuscht. Nachdem es dort in den letzten Staffeln immer wichtige Entwicklungen gab, war es dieses Mal eine nahezu slapstickhafte Sonderepisode, in der es außer dem Gastauftritt von Paul Giamatti wenig zu sehen gab – gut, die Anspielung auf die Affären des Prinzen von Wales sind amüsant. Immerhin hat Edith insgesamt mehr Raum in der Serie bekommen. Ausgerechnet sie, die sich stets an die Konventionen halten und Erwartungen erfüllen wurde, hadert nun am meisten mit ihnen und lehnt sich – mit zunehmendem Mut – gegen sie auf.

Als ich bei Twitter meinen Unmut äußerte, wies mich Lena auf den begrenzten Kosmos dieser Serie hin. Sicherlich gibt das enge Setting Grenzen vor, aber zumindest örtlich könnten es die Autoren durch eine Erweiterung des Handlungsortes umgehen – das haben andere Serien vorgemacht. Allerdings wäre das noch nicht einmal nötig, würden Figuren nicht allzu plump und gleichartig ersetzt: Als die hübsche, rebellische Sibyl starb, kam die ebenso hübsche und ebenfalls rebellische Rose, von der bereits in der letzten Staffel schändlich wenig zu sehen war. Sicher ist ihre Rebellion nicht politisch und gesellschaftlich, sondern infantiler gegen die Mutter gerichtet, aber vielleicht hätte man sie erwachsen werden lassen können. Nachdem die intrigante O’Brien gegangen ist, kommt zunächst eine andere undurchsichtige Hausangestellte, die immerhin dann recht schnell abermals ersetzt wird. Somit bleibt erstaunlicherweise Robert Crawley einer der wenigen Charaktere, von dem im Lauf der Serie ein anderes Bild entsteht. Ist er in der ersten Staffel ein äußerst verständnisvoller Vater und Ehemann, wird mit zunehmendem Fortgang und zeitlicher Veränderung immer deutlicher, wie reaktionär und konservativ er tatsächlich ist.

Insgesamt gibt es daher nur wenig Positives: eine Szene, in der Mary gerade noch gelöst mit einem ihrer Verehrer in der Küche isst und dann sofort in die gesellschaftlich erwartete Rolle fällt, als das Küchenmädchen Ivy hinzukommt; dass Violet weiterhin die hellsichtige, knurrige alte Dame bleibt und einige lustige Dialoge hat; dass die Autoren langsam mit Ex-Chauffeur Tom etwas anfangen zu können – und sich die veränderten Zeiten durchaus gut in den Haltungen und Positionen abzeichnen. Ob das alles reicht, damit ich die Serie weiterhin gucke, habe ich noch nicht entschieden. Für sie spricht, dass sie mit acht Episoden überschaubare Staffeln hat – und ich hin und wieder auch ein wenig Soap ganz gut vertragen kann.

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Krimi-Kritik: „Hinterher ist man immer tot“ von Eoin Colfer

„Der großartige Elmore Leonard hat gesagt, man sollte eine Geschichte niemals mit dem Wetter anfangen lassen. Das ist schön und gut – und leicht gesagt. Ihre Anhänger werden es sich brav in ihre Moleskine-Notizbücher geschrieben haben. Trotzdem beginnt eine Geschichte manchmal mit dem Wetter, und dann ist ihr scheißegal, was irgendein Genre-Genie empfiehlt, auch wenn es sich um den großen EL handelt. Fängt also alles mit dem Wetter an, so sollte es auch am Anfang stehen, sonst dröselt sich alles auf, die Einzelteile fliegen einem nur so um die Ohren, und man hat keine Ahnung mehr, wie man sie zusammenbekommt.“ In diesem großartigen ersten Absatz von Eoin Colfers „Hinterher ist man immer tot“ ist bereits alles enthalten, was seinen Kriminalroman zu einem großen Spaß werden lässt: der reflektierte Erzähler, der beständig auf sich selbst und Genreregeln verweist, eine deutliche Haltung gegenüber diesen Regeln sowie der trockene Stil, der bestens unterhält. Außerdem ist dieser Beginn mehr als ein amüsanter Aufhänger: Der Anfang von Daniel McEvoys zweitem Abenteuer hängt in der Tat ursächlich mit einer besonderen Wetterlage zusammen – und Eoin Colfer kommt im weiteren Verlauf mehrmals auf Elmore Leonard zurück (dass dieser tatsächlich großartig ist, muss ich wohl nicht erwähnen).

(c) List

(c) List

Mit „Hinterher ist man immer tot“ knüpft Eoin Colfer nahtlos an „Der Tod ist ein bleibender Schaden“ an: Ex-Soldat und Ex-Türsteher Dan findet allmählich in seine neue Rolle als Barbesitzer hinein, kümmert sich um seine ehemalige Nachbarin Sophia und versucht, die Ereignisse der letzten Zeit zu verdauen. Dann ereilt ihn die Hiobsbotschaft, dass Little Mikes Mutter gestorben ist. Dadurch droht der ohnehin fragile Frieden zwischen ihnen zu zerbrechen. Prompt ordert Mike ihn zu sich und beauftragt ihn mit einem scheinbar harmlosen Botengang: Er soll in New York ein Paket mit Schuldverschreibungen abliefern. Ehe sich Dan versieht, wird er von zwei Cops entführt, die ihn in einem Snuff-Video zu Geld machen wollen, gerät in tödliche Auseinandersetzungen und trifft seine Stiefgroßmutter. Noch wendungsreicher als im ersten Teil schlägt die Handlung in beachtlichem Tempo abenteuerliche Haken. Dazu trägt vor allem bei, dass Dans Ritterlichkeit und seine absurd anmutende Weigerung, selbst den fiesesten Gangster zu töten, ihn beständig in die Bredouille bringen. Über weite Strecken ist das sehr amüsant zu lesen, zumal Dan dadurch auch den Charme eines liebenswerten Verliererverbrechers behält. Allerdings bewegt sich Eoin Colfer in diesem zweiten Buch auch beständig an der Grenze der Glaubwürdigkeit. Sicher hat ein Mann, der in der Kindheit misshandelt wurde, als Soldat in der irischen Armee im Libanon war und dann als Türsteher gearbeitet hat, eine andere Toleranzgrenze als beispielsweise eine Journalistin, allerdings prasselt die Gewalt in so schneller Folge auf Dan ein, so dass eine Veränderung in seinem Charakter selbst mit seinem Hintergrund notwendig erscheint. Immerhin muss er einige Male mit sich hadern, fast erklärt er sich sogar bereit, einen Menschen zu töten.

Ein großer Reiz dieses Kriminalromans liegt darin, dass Dan der Erzähler seiner Geschichte ist. Dadurch legt sich über die Handlung ein Filter – beispielsweise erscheinen fast alle Frauen in diesem Roman auf den ersten Blick als beschützenswert, ja, nahezu angewiesen auf Dans Ritterlichkeit, allerdings zeigt sich alsbald, dass sich einige von ihnen sehr gut selbst helfen können. Zudem ermöglichen Dans Präsenz und Selbstreflektion als Erzähler inmitten der abenteuerlichen Krimi-Handlung Einschübe und Überlegungen, Verweise aufs Genre und mögliche Verwicklungen. So steht am Anfang eines Kapitels: „In jedem Noir-Krimi, den ich je gelesen habe, gibt es eine Stelle, wo der Detektiv nach einer Prügelei wieder zu sich kommt. Diese Stellen haben mir nie gefallen, weil manche Schriftsteller ihre Sachen viel zu gut machen und die diese Szenen einem Mann wie mir, der so häufig Prügel bezogen hat, dass man ihm was vom IQ abziehen müsste, viel zu sehr unter die Haut gehen.“. Was folgt ist ebenso offensichtlich wie amüsant: Dan wacht nach einer Prügelei auf – und gerät prompt in einen noch viel größeren Schlamassel.

War es im ersten Teil vor allem der irische Kriminalroman, der von Eoin Colfer mit allerhand Seitenhieben behandelt wurde, erweitert er den Rahmen nun auf den noir. Dadurch wird „Hinterher ist man immer tot“ wie sein Vorgänger zu einer sehr vergnüglichen Krimilektüre.

Eoin Colfer: Hinterher ist man immer tot. Übersetzt von Conny Lösch. List 2014.

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Krimi-Kritik: „Unruhe“ von Jesper Stein

„Ich bin achtundreißig, geschieden, ich habe eine fünfjährige Tochter. Ich habe eines der am häufigsten durchgecheckten Herzen auf der Welt. Und ich habe panische Angst zu sterben“, sagt Kommissar Axel Steen eines Morgens zu sich selbst. Er ist Mordermittler bei der Kopenhagener Polizei, hat bei seinen Vorgesetzten aufgrund seines oftmals eigenmächtigen Handelns sämtlichen Kredit verspielt – sofern er jemals welchen hatte. Aber „(e)r wusste, er meckerte zu viel und beschwerte sich zu oft, nahm Abzweigungen vom Dienstweg, die jeglicher Rechtsgrundlage entbehrten. Seine Personalakte war voll von Dienstaufsichtsbeschwerden – eingereicht sowohl von Kriminellen, die behaupten, sie seien bedroht worden, als auch von Kollegen, die sich von ihm unter Druck gesetzt fühlten.“ Noch dazu denkt er dauernd an seine Ex-Frau Cecilie, die mittlerweile in einer neuen Beziehung mit einem Karrierejuristen des dänischen Geheimdiensts PET lebt, bekämpft seine Schlafprobleme mit einem Joint und wird tagsüber von gelegentlichen Kurzschlafattacken heimgesucht.

(c)  Kiepenheuer & Witsch

(c) Kiepenheuer & Witsch

Mit Axel Steen hat Jesper Stein in seinem Krimidebüt „Unruhe“ einen Ermittler mit vielen Macken geschaffen, aber natürlich ist er auch einer der besten Ermittler der Kopenhagener Polizei. Deshalb soll er mit seinem korrekten und bei den Vorgesetzten beliebten Kollegen mit dem sprechenden Namen John Darling auch einen brisanten Fall untersuchen: Während sich Polizei und Autonome aufgrund der Schließung eines alternativen Jugendzentrums im Stadtteil Nørrobro (neben Nordvest) Straßenschlachten liefern, wird eine Leiche gefunden, die auf einem Friedhof an einer Mauer lehnt. Der Mann trägt die Kleidung eines Autonomen und auf den Friedhof hatten nur Polizisten Zutritt. Sollte auch nur der Verdacht die Runde machen, dass die Polizei einen Autonomen ermordet hat, würde die Lage eskalieren. Deshalb sollen Steen und Darling den Fall so schnell und unauffällig wie möglich aufklären.

Die titelgebende Unruhe ist somit nicht nur Teil der Ermittlerfigur, sondern auch wesentliches Merkmal der Atmosphäre, in der Steen ermittelt. Längst sind Autonome aus ganz Europa auf den Weg nach Dänemark, die Presse beäugt die Arbeit der Polizei kritisch, die Chefs üben Druck aus und wollen das richtige Ergebnis erhalten. Dadurch erhält man beim Lesen nicht nur viele Eindrücke von der Stadt Kopenhagen, sondern auch von den medialen und polizeilichen Strukturen. Darüber hinaus verweist „Unruhe“ weitaus weniger ausgestellt als zuletzt beispielsweise Arne Dahls Eurocop-Reihe auf die europäische bzw. weltweite Dimension von Verbrechen und die Universalität von kriminellen Taten.

Am bemerkenswerten ist jedoch, dass „Unruhe“ der erste Fall mit Axel Steen ist, der als Figur viele genretypischen Entwicklungen schon hinter sich hat: die Ehe ist bereits gescheitert, Affären sind begonnen, er ist bei seinen Vorgesetzen schon in Misskredit geraten, hat aber durchaus noch einflussreiche Fürsprecher. Gelegentlich erinnert er sich an alte Fälle, die oftmals mit Lösung erzählt werden. Dadurch ist Axel Steen eine nicht unbedingt originelle, aber sehr runde, reife Hauptfigur. Ohnehin ist „Unruhe“ gerade für den oftmals gescholtenen skandinavischen Krimi erfreulich frei von Stereotypen. Axel ist nicht depressiv oder melancholisch, sondern von seiner Arbeit besessen und etwas selbstmitleidig. Der Fall ist nicht besonders düster oder grausam, sogar das Wetter spielt nur am Rande eine Rolle. Sicher gibt es einige störende Kleinigkeiten wie beispielsweise ein Handy, das gerade noch leer war, sehr schnell wieder benutzt werden kann. Auch sind alle Frauenfiguren sehr auf ihre Funktion für Axel bzw. den Fall beschränkt sind. Aber Jesper Stein behält die Übersicht über seine Handlung, der Fall ist spannend und ausgeklügelt, lediglich die letzte Wendung wäre nicht notwendig gewesen, und die titelgebende Unruhe gibt bis zur letzten Seite den Takt vor. Deshalb ist „Unruhe“ ein gelungenes Krimidebüt, das sehr viel Lust auf eine Fortsetzung macht.

Jesper Stein: Unruhe. Übersetzt von Patrick Zöller. Kiepenheuer & Witsch 2013.

Andere:
tatort:krimi

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