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Krimi-Kritik: „Freakshow“ von Jörg Juretzka

(c) Unionsverlag

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Eigentlich hat Kryszinski mehr als genug zu tun: Er will den flüchtigen Kindervergewaltiger Benjamin Peelaert aufspüren, einen Bugatti finden, seinen Hund Struppi aus einer Klinik freikaufen und herausfinden, warum er den sprachgestörten Alfred, bekannt aus „Fallera“, in einem Waldstück zwischen Mülheim und Duisburg völlig verstört aufsammeln musste. Eigentlich sehnt er sich deshalb nach „einem Bier, einer Zigarette, einem Tag Schlaf“, allerdings hat er mal wieder keine Wohnung und kein Geld, deshalb nimmt er noch einen Job als Nachtwächter – Objektschützer! – an, der ihm von der guten Frau Dr. Marx, ebenfalls aus „Fallera“ bekannt, vermittelt wird. Er soll verhindern, dass von der Großbaustelle rund um die Einrichtung für betreutes Wohnen in Duisburg-Mündelheim noch mehr Baumaterialien gestohlen werden. Schon bald stellt Kryszinki fest, dass diese ganzen Fälle miteinander in Verbindung stehen – und gerät mal wieder bis zum Hals in der Gülle steckt.

Zahllose Handlungsfäden laufen in „Freakshow“ parallel, wer Juretzka kennt, ahnt allerdings, dass sich schon bald Überschneidungen ergeben. Außerdem ist Kryszinski im Verlauf der Reihe immer mehr zum Kämpfer der Schwachen und Ausgestoßenen geworden – und so setzt er sich auch dieses Mal für jugendliche Ausreißer und Behinderte ein, legt sich mit Pädosexuellen und christlichen Fundamentalisten an, bekommt ordentlich „auf die Fresse“ und steht immer wieder auf. Dabei behält Jörg Juretzka stets die Kontrolle über die verschiedenen Handlungsstränge, ja, es gelingt ihm sogar, dass wir ihm glauben, dass sich Kristof Kryszinski mit Sekten, pädosexuellen Sadisten, Frau Spirititolu von der Tierklinik und privaten Sicherheitsdiensten gleichzeitig anlegen kann. Es ist indes kein Wunder, dass Kryszinski am Ende dieses Romans im Spiegelbild nur noch einen „hageren Serienkiller mit manisch, schwarz umrandeten Augen“ entdeckt. Denn die bitterste Pille kommt am Schluss, dann zeigt sich, was der Titel eigentlich bedeutet.

Jörg Juretzka: Freakshow. Rotbuch 2011. Taschenbuchausgabe im Unionsverlag.

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Krimi-Kritik: „Wanted“ von Jörg Juretzka

(c) Ullstein

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Ein Fremder kommt nach sechs Tagen hektischem Ritt in Buttercup, North Carolina an. „Es war Mittagszeit, heiß wie nur je ein Augusttag in dieser dumpf brütenden Ebene, und wer sich leisten konnte, ritt seine Mätresse oder lag sonst wie japsend im Schatten.“ Der Fremde bringt also sein Pferd („Erst das Pferd und dann der Reiter. Eine meiner kleinen Regeln. Man sollte nie vergessen, wer wen auf seinem Rücken trägt und warum eine Umkehrung dieses Arrangements keine gute Idee wäre.“) in einen Mietstall und begibt sich dann in den örtlichen Saloon.

Ja, „Wanted“ ist ein Kryszinski-Roman. Wenngleich der Privatdetektiv aus Mülheim an der Ruhr schwer verletzt im Krankenhaus in der „Perle des Ruhrgebiets“ liegt und sich ein Zimmer ausgerechnet mit Hauptkommissar Menden teilen muss, „mein Schatten an der Wand, mein Schwert des Damokles, mein Antipod, meine Nemensis“, gibt es doch Verbindungen zwischen Buttercup und Mülheim. Zwischen diesen Orten wechseln die Abschnitte des Buchs und so zeigen sich Parallelen und Überschneidungen, die sich allmählich zu einer Interpretation des Geschehens zusammenfügen. Dadurch ist „Wanted“ ein Roman, in den man erst einmal hineinfinden muss – und in dem es nicht immer simpel ist, die einzelnen Figuren und ihre Gegenparts zu identifizieren. Sobald man sich aber auf diese Geschichte und das Vorgehen eingelassen hat, macht es sehr viel Spaß, die Verbindungen aufzudecken. Dabei findet Juretzka für jede Figur ein passendes Wild-West-Gegenstück, was zu allerlei Amüsement führt. Und dass sich Journalisten als Zombies entpuppen, passt dann nicht nur gut ins Bild dieses eigenwilligen Romans. 😉

Dennoch ist „Wanted“ mehr als eine Genrespielerei des Autores: Die jeweiligen Plots um Grundstücksspekulationen, Bestechung, Korruption sowie Bedrohungen zeigen, dass es einige Vorgänge und Typen bereits seit über 100 Jahren gibt – und manchmal eine Stadt im Heute genauso vorgeht wie ein skrupelloser Großgrundbesitzer im Wilden Westen. In diesem Sinn: Reite weiter, einsamer Fremder!

Jörg Juretzka: Wanted. Ullstein 2004.

Jörg Juretzka im Zeilenkino:
„Prickel“
„Sense“
„Platinblondes Dynamit“

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Krimi-Kritik: „Ein dunkler Sommer“ von Thomas Nommensen

(c) Rowohlt

(c) Rowohlt

Für Entführung mit Todesfolge wurde Frank Brückner vor zehn Jahren zu einer Haftstrafe verurteilt. Damals soll er ein zehnjähriges Mädchen gekidnappt haben, das an dem Ort, an dem es gefangen gehalten wurde, gestorben ist. Nun hat er seine Haftstrafe abgesessen und wird frei gelassen. An die damaligen Ereignisse hat er nur eine bruchstückhafte Erinnerung, traut sich selbst daher nicht vollends über den Weg und will auf Anregung seines Psychiaters herausfinden, was damals passiert ist. Deshalb nimmt er Kontakt zu ehemaligen Zeugen auf, außerdem besucht er Orte, die eine Rolle gespielt haben. In der Gegenwart ermitteln Hauptkommissar Arne Larsen und sein Kollege Frank Kuhlmann an dem Mord an einem Werkstattbesitzer, der allerhand Dreck am Stecken hat und – wenig überraschend – an dem Prozess gegen Frank Brückner beteiligt war: Er änderte seine Aussage, so dass Brückner für die fragliche Zeit kein Alibi mehr hatte.

Mit kapitelweise wechselnden Perspektiven erzählt Thomas Nommensen in „Ein dunkler Sommer“ nun von Frank Brückner, einem dicken Jungen, der den Mord an dem Werkstattbesitzer beobachtet hat, dem pensionierten Kommissar Gregor Harms, der trinkt und unter Aussetzern leidet, der Familie des damals gestorbene Mädchens und anderen Personen. Dadurch dauert es einige Kapitel, bis der eigentliche Fall in den Mittelpunkt rückt, außerdem bekommt man schon sehr früh viele, vielleicht sogar zu viele Informationen. Von vorneherein steht fest, dass die Fälle zusammenhängen, auch scheinen fast alle Figuren, denen ein Kapitel gewidmet ist, involviert zu sein. Nimmt anfangs Gregor Harms viel Raum ein, der damals die Ermittlungen leitete, aber immer noch unter den Folgen leidet. Mit zunehmendem Verlauf rückt er indes an den Rand – fast glaubt man ihn vergessen –, um dann am Ende wieder aufzutauchen. Dadurch gehen Stringenz und Tempo verloren. Auch zieht sich der finale Showdown ungemein lange hin. Durch die Eliminierung jeglicher Verdächtiger im Vorfeld bleibt aber zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Täter übrig (den ich natürlich nicht verrate). Nachdem die erste Gefahr gebannt ist, wird zudem jede Kleinigkeit nochmals sorgsam erwähnt, weitere Hintergründe werden im Gespräch von Larsen und Kuhlmann geklärt, so dass jede Einzelheit gedeutet wird. Das nimmt dem gesamten Kriminalroman Spannung, vor allem aber dem Leser Raum für eigene Gedanken.

Schließlich folgt noch ein Epilog, der den Eindruck verstärkt, dass in diesem Buch die Ideen für zwei Geschichten zusammengefasst worden sind – oder nachträglich zu viel eingefügt wurde. Das ist schade, da zum einen die eine Grundidee auf den ersten hundert Seiten bereits gut eingeführt wird – die Sprache Brückners deutet schon daraufhin –, sie jedoch dann keine Rolle mehr spielt, sondern erst am Schluss durch eine unglaubwürdige Volte wieder aufgegriffen wird. Und zum anderen sorgt die Fülle an Ideen dafür, dass trotz über 400 Seiten über Arne Larsen, der ja die Hauptfigur dieser neuen Reihe werden soll, nicht viel zu erfahren ist – außer dass er gerne an Tatorten und Aufenthaltsorten von Verdächtigen ist, um ihnen näher zu kommen, aber kein Profiler sein will, und eine unsichere Beziehung mit einer Journalistin führt. Insgesamt gibt es daher viele vielversprechende Ansätze in diesem Krimi-Debüt, aber mit einer stärkeren Konzentration auf eine Geschichte und einen Hintergrund sowie rund 100 Seiten weniger wäre „Ein dunkler Sommer“ ein besserer Kriminalroman geworden.

Thomas Nommensen: Ein dunkler Sommer. Rowohlt 2014.

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Krimi-Kritik: „Rotzig & Rotzig“ von Jörg Juretzka

„Der Mann war noch nicht ganz aufgeschlagen, noch nicht ganz tot, als am Kellergeschoss eine Stahltür aufsprang und zwei rotznasig und unterernährt wirkende Jungs von vielleicht neun oder zehn Jahren herausstürmten, sich auf den Leichnam stürzten und ihm ebenso ungerührt wie routiniert die Taschen auf links zogen. Ich hatte instinktiv ein paar Schritte rückwärts gemacht und stand nun da, schockgefroren, die Flanke meines Toyotas im Kreuz, Katzenkorb an der Hand, Pappkarton mit CDs, Dosenbier, Rasierzeug und anderem Lebenswichtigem unterm Arm, und fühlte mich von einer Sekunde auf die andere geradezu wundervoll eingestimmt auf den Job, den ich da angenommen hatte.“

Nein, Kristof Enrico Kryszinski hat nicht wirklich den Job gewechselt, sondern ermittelt mal wieder verdeckt. Er soll im Auftrag einer Mülheimer Wohnungsbaugesellschaft einen Mietstreik in der Hochhaussiedlung Wohnpark Nord verhindern, der sich aufgrund fortgesetzter Einbrüche und Vandalismus abzeichnet. Als Hausmeister hat er mehr oder weniger uneingeschränkten Zugang zu allen Räumlichkeiten, deshalb erscheint dieser Job als ideale Tarnung. Nachdem ihm sein Vorgänger nun vor die Füße gefallen ist, macht er sich mit der Umgebung vertraut. Es ist eine Siedlung, wie sie in fast jeder Großstadt zu finden ist. Hier gibt es die rotznasigen Zwillinge Üffes und Sien (eigentlich Yves und Sean), einige einsame Frauen, Möchtegern-Gangster namens Nordpark Hoodies und die unvermeidlichen Blockwarte, die für Recht und Ordnung sorgen wollen. Da er mit Scuzzi in einer ähnlichen Siedlung aufgewachsen ist, ist dieser Job für Kryszinski fast ein Heimspiel. Er kennt die meisten Tpyen und Tricks und versucht vor allem, Üffes und Sien das Handwerk zu legen. Als er sich aber deren Familie genauer ansieht, stößt er nicht nur auf eine medikamentenabhängige Mutter und einen merkwürdigen Stiefvater, sondern auch auf eine äußerst desinteressierte Dame von Jugendamt. Das stimmt ihn misstrauisch, außerdem hat Kryszinski bekanntermaßen ein gutes Herz, deshalb kann er diese Jungs nicht einfach so aufgeben – so sehr sie ihm auch auf die Nerven gehen.

(c) Unionsverlag

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„Rotzig & Rotzig“ beginnt wie ein typischer Kryszinski-Roman, in dem insbesondere Üffes und Sein einen witzigen Kontrapunkt zu Kryszinskis Gegrummel setzen. Ungefähr nach der Hälfte nimmt die Geschichte jedoch eine Wendung, die für schreckliche Zwischenfälle und unschöne Wahrheiten sorgt. Und es ist Juretzkas große Kunst, diese ernsthaften und grausamen Momente hervorragend in die gewohnt lustigen und deftigen Szenen einzufügen. Mit Kinderhandel und Kinderpornographie nimmt er sich abermals brisante Themen vor und zeigt inmitten von Kryszinskis turbulenten und gefährlichen Nachforschungen, wie verzweigt und einflussreich ein Netzwerk von Kindervergewaltigern sein kann. Diese Ermittlungen treiben Kryszinski an den Rand des Erträglichen und sie werden weitreichende Folgen haben. Für ihn – und die Reihe.

Noch eine Bemerkung zum Schluss: Juretzkas Schreibstil ist fraglos Geschmackssache – ich schätze ihn sehr und kann bei seinen Büchern viel lachen, andere werden damit nichts anfangen können. Wer aber vor Juretzkas Büchern zurückschreckt, weil „Rotzig & Rotzig“ bereits der neunte Band einer Reihe ist und er die Vorgänger nicht alle lesen möchte, dem sei dieser Band als Einstieg empfohlen. Denn es wäre schade, diesem eigenwilligen Privatdetektiv keine Chance zu geben.

Jörg Juretzka: Rotzig & Rotzig. Rotbuch 2010. Taschenbuchausgabe im Unionsverlag.

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Krimi-Kritik: „Alles total groovy hier“ von Jörg Juretzka

Schisser ist verschwunden! Schisser hatte mit Scuzzi die grandiose Idee, im Süden Spaniens die Stormfuckers Ranch zu gründen, eine Art Erholungsort für alte Biker, deshalb haben sie Geld gesammelt, Schisser ist auf Erkundungstour gegangen und weder er noch die 100.000 Euro sind zurückgekehrt. „Du bist Detektiv, Kristof“, hatte Charly, Präsident der Stormfuckers und damit auch meiner, festgestellt. „Also fahr runter und finde heraus, was da los ist. Und nimm Scuzzi mit. Der kann Spanisch.“ Also sind Scuzzi und Kryszinski mit einem alten Wohnmobil Schisser nachgefahren und in einer gottverlassenen Gegend gelandet, in der es außer ihnen nur noch eine Hippie-Kommune und ein Bande von Roma gibt. Für Scuzzi gleicht diese Ecke schon bald einem Paradies. Er wird in der Hippie-Kommune mit offenen Armen aufgenommen, die Frauen finden ihn unwiderstehlich und Drogen gibt es in rauen Mengen. Nur Kryszinski will sich nicht so recht einfügen, ihm ist „jegliche Zusammenballung von Aussteigern seit jeher suspekt“, außerdem will er ein Pils und erfährt deshalb schnell, wie es ist, ein Außenseiter zu sein. Außerdem entdeckt er erste Spuren auf Schissers Verbleib und dadurch wird ihm die ganze Bande noch suspekter – und schließlich deckt er eine ungeheure Geschichte auf, die einen noch lange nach Ende des Buches beschäftigt.

(c) Unionsverlag

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„Alles total groovy hier“ ist ein starkes Buch aus der Kryszinski-Reihe, wenngleich hier das Muster, dass meist die schönsten Frauen die größten Verbrecher sind, die Spannung mindert. Aber gerade aus dem Zusammenprall der verschiedenen Welten entsteht viel böser Witz, der durch die verborgene Unmenschlichkeit der Hippies im Nachklang noch fieser wird. Außerdem setzt sich hier fort, was sich bereits in „Bis zum Hals“ abzeichnete: Nachdem eine ganze Weile auf abenteuerlichste Weise ermittelt wurde, erfolgt eine Wendung ins Ernsthafte – in diesem Fall der menschenverachtende Umgang mit afrikanischen Flüchtlingen. Daneben ist Außenseitertum ist das übergeordnete Motiv dieses Kriminalromans: Die Hippies gerieren sich als Außenseiter, wenngleich sie jeden verstoßen, dessen Individualität sich nicht in ihr Kollektiv einfügt. Sie erwarten ein bestimmtes Verhalten, einige kehren nach zwei Wochen vermeintlicher Freiheit in ihr bürgerliches Leben zurück. Die Roma des benachbarten, verfallenen Dorfes kennen nur Ausgrenzung und Vertreibung, deshalb sind sie Fremden gegenüber misstrauisch und bewerfen sie mit Steinen. Und dann gibt es noch die Afrikaner, die ihr Leben riskieren, um über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Sie sind nicht nur gesellschaftliche Außenseiter, sondern ihr Leben wird behandelt als sei es weniger wert. Ihr Schicksal ist der mehr als bittere Kern dieses guten Buches.

Jörg Juretzka: Alles total groovy hier. Unionsverlag 2009.

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Krimi-Kritik: „Bis zum Hals“ von Jörg Juretzka

„Na, das hast Du ja sauber hingekriegt, Kryszinski.“ Wenn es etwas gibt, das ich an Kommissar Hufschmidt hasse – besonders hasse, heißt das, also mehr noch als alles andere, das ich eh schon hasse an ihm –, dann ist das seine gespielte Coolness im Angesicht des Entsetzlichen.“

Denn auch Kommissar Hufschmidt hat der Anblick des Toten auf der Straße mitgenommen. „Er war aschfahl und brauchte die offene Tür seines Opels als Stütze“, dennoch will er cool wirken. Zumal er überzeugt ist, dass er Kryszinski nun endlich erwischt hat. Für die Polizisten ist die Sache klar: Kryszinski ist vermutlich mal wieder total dicht viel zu schnell gefahren und hat den armen Kerl nicht rechtzeitig gesehen, den er dann überfahren hat. Als Kommissar Menden am Unfallort eintrifft, stellt Kryszinski die Sache aber klar – irgendwie: „Ich bin unschuldig“, war alles, was mir einfallen wollte. Menden sehen und diesen Satz äußern ist manchmal wie zwei Sektenwerbern die Tür öffnen und sie gleich wieder schließen. Es hat etwas Automatisches, Zwangsläufiges. Beide Seiten wären irgendwie baff, würde es anders laufen.“. Aber nicht nur das: „Außerdem war ich fühllos, entrückt, wie anästhesiert. Man fährt schließlich nicht alle Tage einen Menschen über den Haufen. Noch nicht einmal ich, sollte ich vielleicht hinzufügen. Und dann noch ohne Absicht.“ Denn tatsächlich ist Kryszinski unschuldig. Ihm wurde der bedauernswerte Mann einfach vor das Auto geworfen. Jedoch lässt Kryszinski sich nicht ohne weiteres als Mordwaffe gebrauchen und ermittelt deshalb auf eigene Faust. Er findet heraus, dass der Tote aus Russland stammt – und hat schon bald nicht nur verschiedene Geheimdienste, sondern auch die Hells Angels am Wickel.

(c) Ullstein

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Mit „Bis zum Hals“ kehrt Kryszinski nach seinen Ausflügen in die Schweiz, auf ein Kreuzfahrtschiff und den Wilden Westen wieder ins Ruhrgebiet zurück. Er trifft alte Bekannte wie Stormfuckers-Chef Charly und in dem Pathologen Dr. Korthner einen neuen Freund. Dieser hat früher als Laborarzt gearbeitet und die Blutproben polizeilicher Untersuchungen analysiert. Darunter war auch mal eine von Kryszinski. „Das Ergebnis hängt gerahmt im Büro des Stationsarztes.“ Er wirkte völlig begeistert. Ich weniger, denn unterschwellig ahnte ich, worauf das hinauslief. „Weder vorher noch jemals nachher ist eine höhere Dosis und größere Vielfalt an psychotropen Wirkstoffen in einer einzigen Blutprobe nachgewiesen worden. (…). Was meine Kollegen und ich uns immer gefragt haben: Sie wurden ja damals in Ausübung einer Straftat verhaftet, waren also nicht nur bei Bewusstsein, sondern obendrein aktiv. Wie … wie haben Sie es geschafft, diese Vielzahl an teilweise gegenläufig wechselwirksamen Substanzen physisch und vor allem auch psychisch zu koordinieren?“. „Schwer zu sagen“, gab ich zu. „Aber wenn ich mich recht erinnere, brachte eine halbe Flasche Wodka für gewöhnlich so was wie ein bisschen Ordnung in den ganzen Kuddelmuddel.“ Dank Korthners Begeisterung für seine Blutwerte erfährt Kryszinski etwas über den Toten, hat außerdem zukünftig eine Anlaufstelle für eigene Verletzungen und es wird bereits deutlich, dass Kryszinski über eine wichtigen Eigenschaft für Ermittlungen im Russenmilieu verfügt: eine hohe Alkoholverträglichkeit. Und angesichts der während dieser Ermittlungen konsumierten Wodka-Mengen hätten dort wohl nur wenige Privatdetektive bestehen können.

Durch die für Juretzkas Kryszinski-Reihe typische Ich-Erzählform und die vielen direkten Dialoge entsteht ein hohes Erzähltempo, außerdem unterhält und amüsiert er mit wenigen Worten. Darüber hinaus gibt es immer wieder Momente, in denen sich mit einem kurzen Satz eine ganze Welt offenbart. Nachdem Kryszinski mit Anoushka, der Frau des Toten, einen Zusammenstoß mit Unbekannten hatte, fliehen sie über die Autobahn, auf der vor kurzem ein Unfall stattgefunden hat und retten sich in ein Auto. „Der Abschleppwagenfahrer blickte überrascht, angepisst, verstehend, einsichtig. Alles binnen eines Fingerschnippens. Doch er sagte kein Wort. Stattdessen schwang er sich in seinen Sitz, knallte die Tür und startete den Motor. Sah noch mal zu uns rüber, zusammengepfercht auf einem Beifahrersitz, sah Anoushka an, barfuß, abgerissen nach einer Nacht auf der Flucht, ihren von Bindfäden zusammengehaltenen Koffer umklammernd wie einen letzten Halt in einer Welt ohne Boden, mich mit meiner schwellenden, blutenden Stirn, registrierte unsere gehetzten, immer und immer wieder nach hinten wandernden Blicke und fuhr einfach los. „Ich komme aus dem Kosovo“, sagte er, als er uns an einer S-Bahn-Haltestelle rausließ, und wünschte uns Glück.“ Dieser überraschende Moment der Solidarität der Flüchtenden berührt und bleibt in Erinnerung.

Dennoch ist „Bis zum Hals“ einer der konventionelleren Kryszinski-Romane: Der hartgesottene Privatdetektiv trifft eine femme fatale und jede Menge zwielichtiger Gestalten, es kommt zu einigen Scharmützeln und alles endet in einem übertrieben actionreichen Finale. Dass es alles unterhaltsam ist, steht außer Frage. Aber dass in der Reihe noch weit mehr Potential steckt, zeigt Juretzka insbesondere in den folgenden Romanen.

Jörg Juretzka: Bis zum Hals. Ullstein 2007.

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Krimi-Kritik: „Equinox“ von Jörg Juretzka

(c) Ullstein

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Nachdem er von seinem Ausflug in die Berge („Fallera“) heil zurückgekehrt ist, hat Kryszinski neuen Ärger am Hals. Schuld ist genau genommen sein Freund Scuzzi, der erst seinen Lieferanten verloren und sich dann trotz aller Warnungen mit albanischen Gangstern eingelassen hat. Erwartungsgemäß wurde er von ihnen über den Tisch gezogen, das konnte wiederum Kryszinski nicht mit ansehen, also hat er es ihnen auf seine Weise heimgezahlt. Nun ist den Albanern aber zu Ohren gekommen, wem sie den Verlust zweier Taschen voller Drogen verdanken – und so konnte er der Gelegenheit nicht widerstehen, an der Seite von Jochen Fuchs als zweiter Privatdetektiv auf dem Kreuzfahrtschiff „Equinox“ anzuheuern. Mit von der Partie ist auch Scuzzi, der beim Vorstellungsgespräch mehr als überzeugt hat: „Denn das war es, das war die unfassbare Wahrheit: Sie hatten Scuzzi hier auf dem Schiff zu so einer Art General-Musikdirektor gemacht. Einen Mann, der alle Alben von Supertramp besaß, von Lionel Richie und, mein Gott, sämtliche LPs und Singles von Phil Collins und Genesis. Ein Mann, dessen Plattenschrank man auch „die Top 10 000 der seichtesten Titel aller Zeiten“ nennen könnte“, dieser Mann bestimmt nun zu Kryszinski größter Qual über die gesamte Musik, die an Bord zu hören ist.

Kaum hat das Schiff abgelegt, findet sich ein erster Toter an Bord. Mit der Diagnose „Selbstmord“ des Bordarztes Dr. Koethensieker ist Kryszinsiki alles andere als einverstanden, deshalb ermittelt er haarsträubend auf eigene Faust und kommt den wahren Tätern auf die Spur. Dazwischen muss er mehrmals seinen eigenen Hals retten – im wahrsten Sinn des Wortes, denn der Täter enthauptet seine Opfer in der Regel – und sich vom Detektiv zum Animateur degradieren lassen. Das sorgt für eine filmreife Szene, in der Kryszinki die gelangweilten Kreuzfahrtpassagiere zu einem französischen „Kochkürs“ der besonderen Art einlädt.

Allein schon die Vorstellung von dem seit seiner Haft leicht klaustrophobischen und sich ständig mit Autoritäten anlegenden Kryszinski auf einem hierarchisch organisierten Kreuzfahrtschiff ist großartig. Dann teilt er sich noch eine Kabine mit dem pedantischen Fuchs und dem dauerzugedröhnten Scuzzi, dessen Musik er auf dem Schiff ohnehin schon ständig ausgesetzt ist. Das alles zerrt an Kryszinskis Nerven, hält ihn aber nicht davon ab, noch im Bord-Supermarkt zu betrügen und auf verdienstvolle Fertigkeiten zurückzugreifen, um inmitten eines besonderes rabbattierten Einkaufs an eine Stange Zigarretten zu kommen. „Und ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass das jahrelange Training im „Reise-nach-Jerusalem“-spielen nach dem Regelwerk des Rockerclubs „Stormfuckers“ ein ums andere Mal Früchte trug. Okay, ein paar der alten Knacker um mich herum nochten nie wieder so richtig auf die Beine gekommen sein, aber ich kriegte sie zu fassen, meine Stange Camel „ohne“, oh ja.“ Und diese Zigaretten braucht Kryszinski äußerst dringend, schließlich hat sich Fuchs von den Schiffsoberen einwickeln lassen und untersucht den Mordfall nicht mit vollem Einsatz, Scuzzi ist ebenfalls beschäftigt und ohnehin keine große Hilfe, also bleibt es allein Kristof überlassen, die Hintergründe zu ermitteln.

Dass Kryszinski auch außerhalb des Ruhrgebiets glaubwürdig bleibt, hat Juretzka mit „Fallera“ bereits bewiesen, nun ist sein Kumpel Scuzzi ebenfalls mit von der Partie. Daneben gibt es eine Vielzahl schrulliger Nebencharaktere, die mit Biss und Herz beschrieben sind. Dadurch ist „Equinox“ in erster Linie gewohnte Juretzka-Unterhaltung mit sehr viel Sprachwitz, tollen Charakteren und allerhand bissigen Seitenhieben auf den Tourismus und die Selbstgefälligkeit wohlhabender Menschen. Das bereitet ausreichend Vergnügen, dass mich die Vorhersehbarkeit des Plots und der Bösewichte beim Lesen nicht allzu sehr gestört haben. Aber „Equinox“ ist vor allem für Fans der Reihe ein Vergnügen.

Jörg Juretzka: Exquinox. Ullstein 2003.

Jörg Juretzka im Zeilenkino:
„Prickel“
„Sense“
„Fallera“
„Platinblondes Dynamit“

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