Schlagwort-Archive: Krimi

Krimibestenliste 2022 – Die zehn besten Kriminalromane des Jahres

Jeden Monat stimme ich bei der Krimibestenliste ab und einmal im Jahr dann stimmen wir über das ganze Jahr ab. Heute wurde sie veröffentlicht, die Krimibestenliste des Jahres 2022. Eine kommentierte Liste mit mehr Informationen und ein PDF zum Herunterladen gibt es im Blog von Jury-Sprecher Tobias Gohlis.

(1) Riku Onda: Die Aosawa-Morde. Aus dem Japanischen von Nora Bartels. Atrium 2022. 568 Seiten.

(2) Sybille Ruge: Davenport 160×90. Suhrkamp 2022.

(3) Christoffer Carlsson: Was ans Licht kommt. Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann. Rowohlt 2022. 492 Seiten.

(4) Åsa Larsson: Wer ohne Sünde ist. Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger, Holger Wolandt. Bertelsmann 2022. 590 Seiten.

(5) Jacob Ross: Die Knochenleser. Aus dem Englischen von Karin Diemerling. Suhrkamp 2022. 376 Seiten.

(6) Oliver Bottini: Noch einmal sterben. DuMont 2022. 476 Seiten.

(7) Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda. Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Diogenes 2022. 367 Seiten.

(8) Johannes Groschupf: Die Stunde der Hyänen. Suhrkamp 2022. 265 Seiten.

(9) Cherie Jones: Wie die einarmige Schwester das Haus fegt. Aus dem Englischen von Karen Gerwig. CulturBooks 2022. 325 Seiten.

(10) Dror Mishani: Vertrauen. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Diogenes 2022. 351 Seiten.

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Covers in distress – „Sie sind ein schlecher Bulle, gnädige Frau“ von Lydia Tews

Anfang der 1980er Jahre gab es so einige Autorinnen, die mit Ermittlerinnen auf dem deutsch- und englischsprachigen Krimi-Markt Bücher in Erscheinung traten. Cover- und Titelgestaltung sind wichtige Paratexte und gerade im Hinblick auf die (intendierte) Rezeption dieser Bücher eine wahre Fundgrube. Deshalb starte ich hiermit eine lose Reihe. Den Anfang macht:

Lydia Tews: Sie sind ein schlechter Bulle, gnädige Frau. Erscheinen bei Knaur 1982.

Lydia Tews war eine der ersten Autorinnen, die eine Krimi-Reihe mit einer Polizistin hatte und so ist eine Frau auf dem Cover zu sehen. Allerdings frage ich mich, was genau diese Frau eigentlich in dem Auto – ein wirklich hübscher R4 – macht. Tot ist sie nicht, denn ihre Füße sind klar angespannt. Sucht sie etwas? Warum hat sie dann ihren linken Schuh verloren? Und es sieht auch so aus, als würde sie eher auf dem Rücken liegen bzw. maximal auf der Seite. Hatten R4s überhaupt Handschuhfächer? Liegt sie in dem Auto, um sich auszuruhen? Wartet sie auf jemanden? Nochmal: Warum hat sie nur einen Schuh an? Meine erste Assoziation war, dass sie so halb im Auto liegt, weil sie eigentlich nur auf einen Mann wartet, der sie küsst. Deshalb auch der sinnlich verlorene Schuh. Nichts von dem passt zu einer professionellen Ermittlerin. Eine weitere Interpretation ist, dass das Cover eine Polizistin zeigt, die nachts ein verdächtiges Auto durchsucht, das von innen ziemlich hell beleuchtet ist. Dann sorgen die Beine und der elegant-leicht-lasziv-verlorene Schuh dafür, dass diese Frau möglichst feminin wirkt – und zwar trotz ihrer Arbeit.

Der Titel ist für mich eine klare Anspielung auf P.D. James „An unsuitable job for a woman“, im Original 1972 erschienen, wurde des bereits ein Jahr später von Heyne in der Übersetzung von Dietlinde Bindheim unter „Kein Job für eine Dame“ herausgebracht.

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Über „Müll“ von Wolf Haas

Im Grunde genommen lässt sich „Müll“ von Wolf Haas mit einem Satz besprechen: Wer die vorherigen acht Brenner-Romane mochten, wird auch diesen Roman mögen.

Die etwas längere Version geht folgendermaßen: Auf einem Wiener Mistplatz (in Berlin sagen wir dazu Recyclinghof) wird ein menschliches Knie gefunden. Es folgen weitere Leichenteile, nur das Herz fehlt. Die herbeigerufene Polizei hat schnell eine mögliche Erklärung gefunden: die Ex-Frau des Toten hat ihn getötet, entsorgt und ist nun auf der Flucht. Das sieht die Tochter des Paares aber anders – und nicht nur sie: der neue Mistler war mal bei der Polizei. Und deshalb sieht sich Simon Brenner die Sache etwas genauer an.

„Müll“ hat alles, was einen guten Brenner ausmacht: Zuallererst die Erzählstimme, die durch diese Geschichte führt und für allerhand Charme und bösen Witz sorgt. Die eigenwillige Mischung aus Verknappung und Ausführlichkeit. Dazu ist insbesondere der Anfang dieses Romans auf dem Mistplatz schlichtweg großartig: Mit wenigen Sätzen und originellen Charakteren schafft Haas eine so dichte, unwiderstehliche Atmosphäre – das muss man erst einmal können. Dazu gibt es diesem Roman so manche Witze, die nur funktionieren, weil man sich so bereitwillig auf die Erzählstimme einlässt: dass Kommissar Kopf immer aus dem Bauch heraus entscheidet. So geschrieben klingt es fast albern. Aber es ist bei Haas tatsächlich lustig.

Deshalb lese ich Haas einfach gerne – es gibt nicht viele, die einen so eigenen Sound und Stil haben, der niemals manieriert oder nur noch routiniert abgespult wirkt. Für die Krimibestenliste, bei der ich ausnahmsweise mitkommentieren durfte, habe ich es so formuliert: Gewohnt beiläufig. Gewohnt komisch. Gewohnt gut.

Wolf Haas: Müll. Hoffmann und Campe 2022. 288 Seiten. 24 Euro.

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Über „Tote ohne Namen“ von Louisa Luna

Es sind zwei Tote ohne Namen, mit denen es die Privatdetektivin und gelegentliche Kopfgeldjägerin Alice Vega in Louise Lunas Kriminalroman zu tun bekommt: zwei mexikanische Mädchen, zwischen 12 und 14 Jahren alt, zu Lebzeiten zur Prostitution gezwungen, nach dem Tod einfach abgeladen. Alter, Todesart und die Seriennummer der eingesetzten Spirale verbindet sie – und letztere verrät noch mehr: Es muss außer ihnen noch vier weitere Mädchen geben. Weil nun eine der Toten einen Zettel mit dem Namen von Alice Vega in der Hand hält, kommt die Polizei auf die Idee, sie zu engagieren – unter der Hand versteht sich, bar bezahlt.

Tatsächlich lässt sich Vega darauf ein und lässt noch einen Kollegen von der Ostküste nach San Diego einfliegen: Max Caplan ist anders als sie. Ein ehemaliger Polizist, geschieden, hat eine Tochter und denkt über einen ruhigen Job als Detektiv für eine Anwältin nach. Die beiden haben eine Vergangenheit – „Tote ohne Namen“ ist der zweite Teil einer Reihe –, aber es gut, dass erst dieser Teil erscheint: dass diese Geschichte hier nur angedeutet wird, dass diese Figuren bereits einen Schritt weiter sind in ihrer Entwicklung und Beziehung, verleiht ihnen etwas angenehm widerspenstig-brüchiges. (Außerdem scheint dieser erste Fall auch mit einer Gefährdung von Caplans Tochter Nellie zu enden, das ist sehr oft ein recht überflüssiges und einfaches Mittel, um die Dramatik zu steigern.)

Vega und Caplan beginnen nun also mit den Nachforschungen und versuchen, die noch lebenden vier Mädchen zu finden und die Hintermänner auszumachen. Von Anfang ist ihnen klar, dass weder der verantwortliche Detective Roland Otero noch die zwei Männer von der DEA mit offenen Karten spielen. Deshalb stecken sie schon bald in einem Schlamassel aus Korruption, Drogenhandel, Erpressung, Menschenhandel und Zwangsprostitution. Aber Vega vertraut auf die Waffe, die sie in ihrem Kofferraum hat – ein gelungener Running Gang, der dann erst auf Seite 188 mit viel Understatement aufgelöst wird – und ihrem Kampfgeist. Sie ist eine gelungene Figur, es ist klar, dass auch sie einige Traumata in der Vergangenheit hat, aber sie wird dadurch nicht zu einer überlebensgroßen Rächerin. Vielmehr vertraut sie auf sie sich selbst und die Hilfe anderer. Zusammen mit Max Caplan – der hier der bodenständigere von beiden ist – ergibt sie ein gutes Ermittlungsduo, von dem ich mehr lesen möchte.

Louisa Luna verbindet in „Tote ohne Namen“ sehr gute hardboiled-Unterhaltung mit gesellschaftspolitischen Untertönen: Kinderhandel von Lateinamerika in die USA ist ein großes Problem, die Kinder werden verschleppt – und die Gleichgültigkeit der US-Behörden ist groß. Die zeigt sich in „Tote ohne Namen“ nicht nur in dem Verhalten vieler Figuren, sondern vor allem in der kurzen Schilderung des Besuchs in einem Lager, in dem Kinder mit unklarem Aufenthaltsstatus „verwahrt“ werden. Die Ausbeutung von Kindern wird regelrecht hingenommen, sogar von Jugendlichen, die aufgrund ihrer eigenen Privilegien aus Langeweile und Überheblichkeit wohl kaum mehr wissen, was richtig ist – und deren Eltern ihnen da offensichtlich auch keine Hilfe sind. Dazu kommt ein Durcheinander an Zuständigkeiten von Behörden, eine Einwanderungspolitik, die ihren Namen nicht verdient – und immer wieder Gleichgültigkeit, bei der man nicht weiß, ob sie aus Abgestumpftheit oder tatsächlicher Verachtung kommt. Aber letztlich es auch egal. Es geht hier um Menschen, um die sich niemand kümmert. Deshalb fiebert man mit Luna und Caplan unweigerlich mit, die zumindest einigen Mädchen helfen wollen.

Louise Luna: Tote ohne Namen. Übersetzt von Andrea O’Brien. Suhrkamp 2021. 444 Seiten. 15,95 Euro.

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Sturmflut-Nacht – Über „Dammbruch“ von Robert Brack

(c) Ellert & Richter Verlag

„Ein Sturmflut-Thriller“ steht auf dem Cover vom Robert Bracks „Dammbruch“ – und ja, diese Geschichte spielt in der Hamburger Sturmflut 1962. Doch bitte, dieses Buch ist doch deshalb kein „Sturmflut-Thriller“. Das klingt nach Maulwurf-Krimi, Blockchain-Thriller und Bodensee-Roman. Aber für dieses Etikett kann das Buch nur wenig. Tatsächlich nämlich ist „Dammbruch“ ein atmosphärisch dichter Roman, der von zwei verbrecherischen Menschen in Hamburg im Jahr 1962 erzählt. Lou Rinke plant seinen nächsten Einbruch und Betty ihren nächsten Mord. Sie ahnen beide nicht, dass das heranziehende Sturmtief Vincinette ihre genau geplanten Vorhaben nicht vereiteln, aber erschweren und in dieser Nacht zueinander führen wird.

Robert Brack braucht keine langen Erklärungen für den Hintergrund oder seine Figuren, sie sind einfach da und entstammen vor allem ihrer Zeit: Lous Eltern sind väterlicherseits Verbrecher, mütterlicherseits Kommunistin (was in der BRD auf das Gleiche hinausläuft), er versucht, seinen Einbrüchen zumindest etwas Klassenkämpferisches abzugewinnen. Und Betty. Betty ist geflohen. Betty hat Fürchterliches erlebt. Betty pflegt nun ehemalige Wehrmachtssoldaten und tötet sie. Das ist ihre Rache, eine Rache, die allzu verständlich ist, ohne dass ihre Erlebnisse jemals detailliert ausgeführt werden. Das müssen sie gar nicht, man weiß auch so, was passiert ist.

Das Sturmtief nun spült diese beiden Menschen mit anderen zeitweilig Geretteten einen Rohbau. Sie trauen einander nicht, sind aber doch aufeinander angewiesen. Mit ihnen treffen dann auch Lous romantischen Verbrechensvorstellungen auf Bettys harte Erfahrungen. Das ist spannend, düster und in dem Ausgang erstaunlich zufriedenstellend.

Robert Brack: Dammbruch. Ellert & Richter 2020. 240 Seiten. 12 Euro.

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Über Max Annas’ “Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit”

Es gibt keinen Kartoffelsalat in Max Annas‘ zweiten „Morduntersuchungskommission“-Band „Der Fall Melchior Nikoleit“. Das ist einerseits ganz gut, denn diese Szene, in der Oberstleutnant Otto Castorf von der Morduntersuchungskommission Jena „total betrunken“ nach Hause kommt und seine Frau Birgit ihm sagt, da sei noch Kartoffelsalat im Kühlschrank, hat bei mir einen tagelangen Heißhunger auf Kartoffelsalat ausgelöst. Andererseits ist das auch schade, denn Otto trinkt immer noch mehr als vorher, redet aber nicht mehr wirklich mit seiner Ehefrau. Vielmehr glaubt er, sie habe eine Affäre. Aber auch darüber redet er nicht. Ganz eingestellt hat er das Reden indes nicht. Er erzählt sogar seiner Mutter auf der Beerdigung seines Vaters, was er gemacht hat, am Ende des ersten Teils. Und sein Bruder weiß es eh.

Ein Toter in Jena

(c) Rowohlt

Diese Tat hallt nach, aber Otto macht vorerst weiter wie bisher bei der Polizei in Jena 1985. Ein junger Mann wurde tot aufgefunden. Melchior Nikoleit war ein Punker, hatte sogar eine Band – und diese Typen sind alles andere als gerne gesehen in der DDR. Sie sind „Gammler“, ihre Haare sind zu lang, die Klamotten schmuddelig und kaputt und sie stören die Ordnung. Aufgeklärt werden soll die Tat aber dennoch. Zumal sie auch einen guten Vorwand liefert, sich diese Punkerszene mal genauer anzusehen …

Auf vier Teile hat Max Annas seine „Morduntersuchungskommission“-Reihe angelegt – und dieser zweite Teil hat mich immer wieder an die „Kommissar Beck“-Reihe erinnert – eine Art Mischung aus Buch und Serie. Wegen der sozialistischen Tristesse in Thüringen. Wegen der soziologischen Erkundungen des Alltags, die in der Summe zu einer der Gesellschaft werden. Beispielsweise bei der Frage, ob Otto und Birgit ihre älteste Tochter auf ein Sportgymnasium gehen lassen, weil sie gut schwimmt. Eigentlich eine gute Chance, aber ein Leipziger Kollege hat zu ihm gesagt: „Da gibst du ein Mädchen ab und kriegst einen Mann wieder.“ Und das geht Otto nicht mehr aus dem Kopf. An Beck erinnerte mich auch Ottos Herangehensweise an die Fälle: Er bemüht sich zumindest um Verständnis für die Jugendlichen, er erinnert sich an sein eigenes Heranwachsen, den Vater, der ideologisch immer noch ein wenig strenger war als Ottos Ausbilder.

Außerdem die Erzählweise – hier nun eher die Serie: Annas splittert die Perspektiven zwischen Otto, der Pfarrerstochter Julia Frühauf und den NVA-Offizier Erich Marder, die im Gesamtbild ein vielstimmiges Bild von dieser Zeit vermitteln. Besonders beeindruckt hat mich Julia Frühaufs Perspektive. Fast beiläufig erzählt sie, wie selbstverständlich Gewalt ein Teil ihrer aller Erziehung war. Beständig versucht sie, diese Sehnsucht nach etwas anderem im Leben in Worte zu fassen, die die Heranwachsenden empfinden. Die Erregung, wenn sie verbotenerweise in Häuser eindringen; die vorsichtige Rebellion mit Kleidung und Frisur; die Versuche, die englischen Texter anderer – das meint hier westlicher – Punkbands zu verstehen. Dazu aber gibt diese Perspektive gibt nicht nur Einblick in die wachsende Unruhe der Jugend, sondern auch die Verbindungen zwischen Punk-Szene und kirchlicher Opposition.

Die dritte Perspektive gehört Erich Marder, Offizier bei der NVA, und besorgt, weil ein Foto verschwunden ist. Ein Foto, auf dem er mit Kameraden von der Wehrmacht neben erschossenen britischen Offizieren zu sehen ist. Dieses Foto könnte ihm eine Menge Ärger bereiten, obwohl er ja „nicht einmal ein richtiger Nazi gewesen“ ist. Nazi kann es in der DDR ja auch gar nicht geben (was natürlich abgesehen von der Geschichte bereits im ersten Teil deutlich widerlegt wurde.) Erich Marder ist zudem der Vater einer der Punk-Kollegen von Melchior. Es ist abermals eine Vater-Kind-Beziehung, die abermals ideologisch durchdrungen und belastet ist. Überhaupt sind die Väter in diesem Kriminalroman vor allem streng, brutal und ignorant – mit Ausnahme von Otto.

Ideologischer Alltag

Ideologien durchziehen hier jeden Winkel des Lebens. Zwei Hauptverdächtige gibt es für den Mord an Melchior Nikoleit: den verdienten Genossen Marder – und Melchiors Vater, einen Antiquitätenhändler, der regelmäßig in den Westen fährt und unter Verdacht steht, dorthin abhauen zu wollen. Ersterer kann nicht der Mörder sein, das geht einfach nicht – der Vater hingegen wäre der ideale Täter. Auch eine Morduntersuchung macht vor Ideologien nicht halt. Annas schlägt natürlich nicht denselben Haken wie im ersten Teil. Tatsächlich mündet sein Roman in ein Ende, der alles andere als Beck-mäßig ist. Wie er damit weitermacht, darauf bin ich schon sehr gespannt.

Und es gab dann doch wieder einen für mich ebenso denkwürdigen Satz wie „Es ist noch Kartoffelsalat im Kühlschrank“: „Ein Küchentisch, der zum Schreibtisch umfunktioniert worden war, zweitüriger Kleiderschrank, Weinkisten mit Schallplatten, obenauf lag BAP, von denen hatte Otto schon einmal gehört, Westrock aus Düsseldorf oder so.“

Max Annas: Morduntersuchungskommision: Der Fall Melchior Nikoleit. Rowohlt 2020. 336 Seiten.

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Nachwort zu “Heaven My Home” von Attica Locke

Am 2. Oktober 2019 wurde die Polizistin Amber Guyger in Dallas zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil sie im Jahr zuvor den Buchhalter Botham Jean erschossen hat, als er in seiner Wohnung vor dem Fernseher saß und Eiscreme gegessen hat. Botham Jean war ihr Nachbar – Amber Guyger hatte die Wohnungen verwechselt und dachte, er sei ein Einbrecher. Nach der Verkündung des Urteils hat Botham Jeans jüngerer Bruder Brandt um das Wort gebeten und in einer kurzen Ansprache Amber Guyger vergeben. Dann bat er, die Verurteilte umarmen zu dürfen. Dieses Bild ihrer Umarmung, diese Geste der Versöhnung, wurde weithin gefeiert, gepriesen – und scharf kritisiert. Denn Amber Guyger ist weiß, Botham und Brandt Jean sind Schwarz.

Foto: Carsten Klindt

„Schwarze sind die versöhnlichsten Menschen auf der Welt“, sagt der alte Leroy Page mehrmals in Attica Lockes „Heaven, My Home“ – und Lockes Hauptfigur, der Schwarze Texas Ranger Darren Matthews, erkennt zunächst nicht, ob Page es stolz oder beschämt sagt. Erst beim zweiten Mal bemerkt er die Bitterkeit in Pages Stimme. Als Attica Locke „Heaven, My Home“ schrieb, lagen die Schüsse auf Botham Jean noch in der Zukunft. Aber es gibt unzählige Beispiele, bei denen Schwarze weißen Tätern vergeben haben. Das Konzept der Vergebung, der forgiveness, reicht zurück in die Zeit der Sklaverei, es hatte Bestand durch die Jim-Crow-Ära und wurde in der Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King jr. noch einmal bestärkt: „Forgiveness is not an occasional act, it is a constant attitude“. Mit Vergebung sei Fortschritt zu erreichen, Vergebung sei der Weg in die Zukunft.

Unumstritten war dieses Konzept niemals, am berühmtesten ist wohl Malcolm Xs „We will fight back“. Und auch an den jüngsten medialen Vergebungen entzündete sich breite Kritik. Das kulturelle Ritual der Vergebung funktioniert in eine Richtung: Schwarze vergeben Weißen. Sie vergeben, weil sie – wie es Roxane Gay in der New York Times formulierte – überleben müssen. Vergebung soll ermöglichen, in einer rassistischen Gesellschaft zu leben und sowohl historische wie auch gegenwärtige Schmerzen anzuerkennen. Doch wohin, fragt sich nun Darren Matthews bei Attica Locke, hat die Vergebung geführt?

Vergebung als kollektives Bedürfnis verlangt, den Zorn über die Abwertung und Verletzung zu unterdrücken; Morde, Gewalt und Ungerechtigkeiten hinzunehmen, Loyalität gegenüber den Unterdrückern zu bekunden. Deshalb kann sie helfen, sich der Kriminalität und Grausamkeit systemischer Ungerechtigkeit und Gewalt zu stellen, mit der Vergangenheit abzuschließen. Aber sie kann auch zu einem rituellen Vergessen führen; sie beseitigt die Unterdrückung nicht, fordert keine Reue oder Wiedergutmachung, bringt keine radikalen sozialen Veränderungen. Schwarze vergeben, aber die, denen sie vergeben, machen weiter, ja, sie wählen sogar einen Rassisten ins Weiße Haus. Was also, so Darren Matthews, macht Vergebung aus ihnen: „Heilige oder Handlanger“?

Attica Locke (c) Mel Melcon, Los Angeles

In ihrem Buch liefert Attica Locke keine Antwort auf diese Frage, vielmehr spürt sie ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit nach. Die Wahl Donald Trumps ist für Darren Matthews ein „Verrat an der Versöhnung“, die Obama verkörpert hat. Zeitlich ist „Heaven, My Home“ zwischen der Wahl und Inauguration Donald Trumps angesiedelt, und auf jeder Seite ist zu spüren, dass sich die Stimmung im Land geändert hat. Lähmende Unsicherheit und Entsetzen prägen die eine Seite; Triumph die andere. In den vier Wochen, seit Trump gewählt wurde, haben Kirchen gebrannt, wurden Kinder in Schulkantinen bespuckt, wurde eine mexikanische Frau auf einem Supermarktparkplatz vor den Augen ihres Mannes und ihrer Kinder angegriffen. Matthews weißer Vorgesetzter bei den Texas Rangers fürchtet, durch das neue Weiße Haus könnten die Ermittlungen gegen die Arische Bruderschaft beendet werden. Matthews bester Freund, der weiße FBI-Agent Greg Heglund, glaubt, indem er einen Schwarzen einem Hassverbrechen überführt, könnte er dem Justizministerium vermitteln, dass das FBI jedes Hassverbrechen ernstnimmt und sie kein „liberaler Hokuspokus“ sind. Und Darren Matthews, einer der wenigen Schwarzen bei den Strafverfolgungsbehörden in Texas, „wundert sich ganz benebelt vor Wut darüber, was eine Handvoll verängstigter Weißer einer Nation antun konnte“.

Einst ist Darren Matthews aus Überzeugung und Liebe zu seinem Heimatstaat Texas Ranger geworden, er hat geglaubt, dass Veränderungen möglich sind – auch in Texas, in dem die Zeichen des Ku-Klux-Klans kaum verhüllt werden. Deshalb hat er sein Jura-Studium abgebrochen, nachdem er von der (tatsächlich stattgefundenen) brutalen Ermordung von James Byrd Jr. durch Rassisten in Jasper, Texas erfahren hatte. Sein Onkel William war ebenfalls ein Texas Ranger, er war überzeugt, das Gesetz würde die Schwarzen retten, weil es sie schütze, wenn man Verbrechen gegen Schwarze genauso eifrig verfolgt wie Verbrechen gegen Weiße. Damit verkörpert er eine Hoffnung: Wenn es mehr Schwarze Gesetzeshüter gibt, könnte das Leben von Schwarzen auch besser geschützt werden. Dagegen ist Williams Bruder Clayton, ein Strafverteidiger, überzeugt, dass das Gesetz eine Lüge ist, vor der Schwarze Schutz brauchen – denn es sind Regeln, die von Anfang an gegen sie gerichtet waren. Dieser Konflikt zwischen seinen Onkeln, bei denen er aufgewachsen ist, bestimmt Darren Matthews Leben – und nun fragt er sich, ob Clayton nicht doch richtig lag, wenn er sagte, dass „Gerechtigkeit stets relativ“ sei.

Darren Matthews ist geprägt durch seine Erziehung und seine Erfahrungen, er ist mit den Geschichten der Bürgerrechtsbewegung groß geworden, mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die nun zerstört scheint. Dazu kommt die Widersprüchlichkeit, als Schwarzer in diesem Bundesstaat zu leben, ihn zu lieben, obwohl ihm Hass entgegenschlägt. „I make heaven my home, I shall not be moved“ lautet die Zeile des Blues-Songs, der diesem Roman seinen Namen gegeben hat – und der den Schmerz umfasst, kein tatsächliches Zuhause zu haben, keine Heimat, die an einen konkreten Ort gebunden ist. Dazu kommt aber in der Gegenwart der Wille, sich nicht vertreiben zu lassen, abermals die eigene Geschichte auslöschen zu lassen.

Diese Widersprüchlichkeit und die schwierige Geschichte machen Texas zu einem sehr geeigneten Ort für Kriminalliteratur. Schon Jim Thompson verortete sein Central City in „The Killer Inside Me“ in Texas, Joe R. Lansdale spürt seit Jahren den Verwerfungen der US-amerikanischen Gesellschaft in kleinen osttexanischen Orten nach. Attica Locke nun widmet sich aus Schwarzer Perspektive der intrinsischen Widersprüchlichkeit des Lebens Schwarzer Texaner im Osten des Bundesstaats entlang des Highway 59. Er beginnt im Süden in Laredo und geht im Norden bis nach Texarkana. Würde man ihm über Texas hinaus folgen, käme man bis nach Minnesota, so als würde er die USA in zwei Teile schneiden. Dabei quert er Houston, vor allem aber reihen sich kleine Ortschaften an dieser Straße. Manche Siedlungen wie Hopetown am Caddo Lake, einst von befreiten Sklaven gegründet, sind noch nicht einmal auf der Karte verzeichnet. Sie liegt ganz in der Nähe von Jefferson im Nordosten an der Grenze zu Louisiana, wo einige Bewohner versuchen, mit touristischen Touren und Attraktionen von ihrer glamourösen Vergangenheit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg zu profitieren. Hier ermittelt Darren Matthews in dem Verschwinden des neunjährigen Levi.

(c) Polar Verlag

Wie in Attica Lockes erstem Matthews-Roman „Bluebird, Bluebird“ liegen wesentliche Elemente zur Lösung des Falls in der Geschichte des Ortes, die hier aktiv umgeschrieben werden soll. Die einflussreiche, wohlhabende, weiße Rosemary King will den Schmerz der Sklaven und Natives nicht nur aussparen, sondern sie abermals verraten, ausbeuten und vertreiben, sie auslöschen aus der Geschichte. Die grausamen Spuren der Vertreibung der Caddos, die nun überwiegend in Oklahoma leben, das Blut der Sklaverei werden weggewischt, stattdessen will sie an die wirtschaftliche Blütezeit erinnern, ohne zu erwähnen, worauf dieser Wohlstand fußt. Es bleiben ausladende Kleider, herrschaftliche Anwesen und Raddampfer sowie das blühend weiße Bild einer Stadt, die einst an einer wichtigen Handelsroute lag. Doch diese Orte sind auch die Heimat von einem Schwarzen Mann wie Leroy Page, von den Haisnai, die zu den Caddos gehören, die von den Weißen vertrieben wurden. Ihr Wort für Verbündete ist „tayshas“, es hat dem Staat Texas seinen Namen gegeben, dessen Staatsmotto noch immer Freundschaft ist. Aber Verbündete waren die Weißen nie – und auch in der Gegenwart entstehen Zweifel an der Verbundenheit sogar in langjährigen Freundschaften wie der von Darren Matthews und Greg Heglund.

Attica Locke erzählt, wie vielfältig sich die Geschichte in ein Land und die Menschen einschreibt. Bei Darren Matthews ist durch die Geschichten, die ihm erzählt wurden, die vielen Ungerechtigkeiten und geerbten Vorurteile eine Blindheit gegenüber den Verfehlungen älterer Schwarzer Männer entstanden, als müsse er für die Gerechtigkeit sorgen, die sie nicht erfahren haben: „Entweder sie oder wir, stimmt’s“? Doch zugleich will er die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht ganz fallenlassen, er will nicht glauben, dass ein neunjähriger Junge, aufgewachsen mit einem Vater aus der Arischen Bruderschaft, zwangsläufig ein Rassist wird. Und er hadert damit zu verstehen, warum die Enkelin des alten Mack nichts dabei findet, wenn ein weißer Mann sie rassistisch beleidigt. Vielleicht hat sie andere Erfahrungen gemacht als er, vielleicht sind die Geschichten der Bürgerrechtsbewegung zu weit weg für sie.

„Bluebird, Bluebird“ hat gezeigt, dass man die Gegenwart besser verstehen kann, wenn man die Vergangenheit voll und ganz kennt. „Heaven, My Home“ erzählt nun, dass diese Kenntnisse nicht immer zu mehr Klarheit in der Gegenwart verhelfen. Doch Geschichte kann man nicht entkommen. Sie begleitet und prägt die Menschen, sie lässt sich nicht lösen von der Gegenwart – für niemanden.

Attica Locke: Heaven My Home. Übersetzt von Susanna Mende. Polar Verlag 2020.

Dieser Text ist mein Nachwort zu Attica Lockes “Heaven My Home” und zuerst in dem Buch bzw. auf der Seite des Polar Verlags erschienen.

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