Schlagwort-Archive: Wien

Über „Müll“ von Wolf Haas

Im Grunde genommen lässt sich „Müll“ von Wolf Haas mit einem Satz besprechen: Wer die vorherigen acht Brenner-Romane mochten, wird auch diesen Roman mögen.

Die etwas längere Version geht folgendermaßen: Auf einem Wiener Mistplatz (in Berlin sagen wir dazu Recyclinghof) wird ein menschliches Knie gefunden. Es folgen weitere Leichenteile, nur das Herz fehlt. Die herbeigerufene Polizei hat schnell eine mögliche Erklärung gefunden: die Ex-Frau des Toten hat ihn getötet, entsorgt und ist nun auf der Flucht. Das sieht die Tochter des Paares aber anders – und nicht nur sie: der neue Mistler war mal bei der Polizei. Und deshalb sieht sich Simon Brenner die Sache etwas genauer an.

„Müll“ hat alles, was einen guten Brenner ausmacht: Zuallererst die Erzählstimme, die durch diese Geschichte führt und für allerhand Charme und bösen Witz sorgt. Die eigenwillige Mischung aus Verknappung und Ausführlichkeit. Dazu ist insbesondere der Anfang dieses Romans auf dem Mistplatz schlichtweg großartig: Mit wenigen Sätzen und originellen Charakteren schafft Haas eine so dichte, unwiderstehliche Atmosphäre – das muss man erst einmal können. Dazu gibt es diesem Roman so manche Witze, die nur funktionieren, weil man sich so bereitwillig auf die Erzählstimme einlässt: dass Kommissar Kopf immer aus dem Bauch heraus entscheidet. So geschrieben klingt es fast albern. Aber es ist bei Haas tatsächlich lustig.

Deshalb lese ich Haas einfach gerne – es gibt nicht viele, die einen so eigenen Sound und Stil haben, der niemals manieriert oder nur noch routiniert abgespult wirkt. Für die Krimibestenliste, bei der ich ausnahmsweise mitkommentieren durfte, habe ich es so formuliert: Gewohnt beiläufig. Gewohnt komisch. Gewohnt gut.

Wolf Haas: Müll. Hoffmann und Campe 2022. 288 Seiten. 24 Euro.

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Über „Der Anruf“ von Olen Steinhauer

Ein Mann und eine Frau treffen sich in einem Restaurant. Vor Jahren waren sie ein Paar. Er wollte damals mit ihr zusammenziehen, sie hat ihn verlassen. Die reduzierte Ausgangssituation in Olen Steinhauers „Der Anruf“ klingt nach einem Liebesroman. Doch Henry und Celia haben einst als CIA-Agenten in Wien gearbeitet. Damals kam es zu einer Geiselnahme auf dem Wiener Flughafen, bei der alle Insassen der entführten Maschine starben. Seither wird vermutet, dass es damals einen Verräter in dem Büro in Wien gegeben haben muss. Deshalb ist dieses Abendessen nicht nur das Wiedersehen zweier ehemals Liebenden.

Der Anruf von Olen Steinhauer

(c) Blessing

Mit zwei Ich-Erzählern entfaltet Olen Steinhauer auf jeweils zwei Zeitebenen das Geschehen: Es gibt die zurückliegenden Ereignisse in Wien und die Gegenwart in Carmel-by-the-sea. Und da Celia und Henry nicht nur miteinander gearbeitet haben, sondern auch eine Beziehung hatten, wird das übliche Spiel um Vertrauen und Verrat noch um Eifersucht und verletzte Gefühle erweitert. Das Abendessen wird zu einem nervösen Tanz, ein Abtasten und Erahnen des Wissens und der Gefühle des Gegenübers, je länger der Abend jedoch dauert, je mehr Wein getrunken und Gänge verspeist wurden, desto härter wird der Ton. Aus dem Tanz wird ein Verhör, das immer mehr Fragen aufwirft. Weiterlesen

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Sehen und Verschwinden – Über „Lichtschacht“ von Anne Goldmann

(c) Argument Ariadne

(c) Argument Ariadne

Eigentlich wollte ich das Buch nur kurz anlesen, um es dann in den nächsten Tagen zu beenden. Eigentlich wollte ich nämlich noch weiter an einem Beitrag schreiben, mein Aufenthalt beim Filmfest München planen und einige Mails verschicken. Stattdessen schreckte ich von einem Anruf hoch und stellte fest, dass über zwei Stunden vergangen waren, seit ich das Buch ‚mal kurz angelesen‘ habe. Unmerklich hat mich Anne Goldmann mit ihrer gänzlich unprätentiösen Schreibweise in den Bann gezogen, hat mich ihre Hauptfigur Lena mit ihrem Willen, ein neues Leben zu finden, ihrer Beeinflussbarkeit, ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit und gleichzeitiger Sehnsucht nach Halt und Stabilität fasziniert.

Dabei ist die Geschichte von „Lichtschacht“ auf den ersten Blick denkbar einfach: Nachdem Lena zur Zwischenmiete die Wohnung einer Bekannten bezogen und auf Vordermann gebracht hat, raucht sie auf der Dachterrasse einen Joint und beobachtet drei Personen – einen Mann und zwei Frauen – auf einem gegenüberliegenden Häuserdach. Offensichtlich haben sie Spaß, sie lachen und trinken Wein. Einen Moment lang schaut Lena nicht hin und plötzlich ist eine der Frauen verschwunden. Stattdessen sitzen nur noch zwei Personen ruhig auf dem Dach, schließlich legt der Mann der Frau einen Arm um die Schulter. Lena ist verwirrt. Sie hatte schon einmal im Rausch einen Anfall von Verfolgungswahn, also hätte sie vielleicht lieber die Finger von dem Joint gelassen, dann würde sie sich jetzt auch nicht einbilden, sie hätte die Frau vom Dach fallen sehen. Deshalb geht sie schlafen, aber das Verschwinden der Frau lässt sie nicht los. Sie redet sich ein, dass sie vermutlich einfach vom Dach in die Wohnung gegangen ist, als sie gerade nicht hingesehen hat, oder sie die ganze Episode nicht richtig wahrgenommen hat. Also richtet sich weiter in ihrem neuen Leben mit einem Halbtags- und Katzensitterjobs ein, schließt Bekanntschaften, verliebt sich erst in Max, dann in Georg, ihre Gedanken kehren jedoch beständig zu der Frau zurück. Fast scheint sie zu spüren, dass etwas nicht stimmt. Halbherzig schleicht sie sich in das fragliche Haus, aber sie ist „keine gute Detektivin“, deshalb weiß sie nicht, wonach sie suchen sollte und findet nichts heraus. Auch lässt sie sich von Georg ablenken. Das dunkle Gefühl bleibt indes.

Wie der Protagonist Jeffries (James Stewart) in Hitchcocks „Rear Window“ ist Lena bei ihren Nachforschungen eingeschränkt. War Jeffries durch einen Beinbruch auf einen Rollstuhl angewiesen, so dass er dem Verdacht, sein Nachbar hätte seine Frau ermordet, nur als Beobachter nachgehen konnte, halten Lena innere Einschränkungen ab. Sie ist eine ambivalente Persönlichkeit, die mitunter anlehnungsbedürftig erscheint, jedoch Wert auf ihre Unabhängigkeit legt. Mal ist sie gutgläubig, dann wieder resolut mit ihren Urteilen. Als sie Georg das erste Mal begegnet, hält sie ihn für einen Aufschneider, sein ruhiger Freund Max gefällt ihr besser. Dann offenbart Max in einer Situation psychische Labilität, in der Georg durch seine Ruhe besticht. Diese Souveränität gefällt ihr, sie wünscht sie sich in ihrem eigenen Leben und erhofft sich dadurch ein wenig Anerkennung und Selbstvertrauen. Zugleich ist ihr Leben von Abwesenheit bestimmt. Ihre Mutter starb früh, ihr Vater war viel auf Reisen, ein nicht-vergessener Geburtstag versetzt sie bereits in Hochstimmung. Deshalb erzählt der Roman auch vom Sehen und Gesehen werden. Lena befürchtet, dass die Frau niemand vermisst – so wie auch ihr Verschwinden lange unbemerkt bleiben würde, weil sie niemand wirklich sieht. Als sie dann mehr über die Frau vom Dach erfährt, erkennt sie nicht nur eine äußerliche, sondern eine beständig größer werdende innerliche Ähnlichkeit, die ihre Ängste, aber auch ihren Mut befeuern.

Sicher war ich schnell auf der richtigen Fährte und habe mich auch nicht von den an sich gut platzierten Ablenkungen von meinem Verdacht ablenken lassen. Aber wie zuletzt bei dem Film „Prisoners“ ist die Auflösung in diesem Buch eine Nebensächlichkeit, eine Konzession an die Form, aber nicht das Wesentliche des Buches. „Lichtschacht“ ist atmosphärisch ungemein dicht, Lena ist als Charakter mit ihren Ecken und Widerhaken faszinierend rund und die Mischung aus Suspense und Selbstfindung ist überzeugend. Ein famoses Buch!

Anne Goldmann: Lichtschacht. Argument Ariadne 2014.

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Unterwegs – Die Städteführer-Apps aus dem Michael Müller Verlag

Bereits im letzten Jahr habe ich die Gelegenheit bekommen, eine der Reiseführer-Apps des Michael Müller Verlags zu testen. Und da aus diesem Verlag meine liebsten Reiseführer kommen, habe ich das natürlich gerne gemacht. Das Ziel unserer jährlichen Städtereise mit Freunden war Prag, also hatte ich schnell die Gelegenheit für einen Praxistest.

Erster Versuch mit der Prag-App 2012

Auf den ersten Blick ist ein Reiseführer als Smartphone-App sehr verführerisch. Ich schleppe bereits einiges an Fotoausrüstung durch die Gegend, habe außerdem immer etwas zu trinken dabei, deshalb wäre es eine Erleichterung, nicht auch noch den Reiseführer mitnehmen zu müssen. Das Telefon nehme ich sowieso mit, damit wäre der Reiseführer auch stets parat – und die Möglichkeit, unterwegs noch einmal schnell etwas nachzugucken. Weiterlesen

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„Ein dickes Fell“ – Steinfest und der Film, Teil VIII

(c) Piper

„Ein dickes Fell“ ist einer meiner Lieblingsromane von Heinrich Steinfest; er ist kunstvoll komponiert, die vielen Anspielungen greifen wunderbar ineinander und viele Knotenpunkte des Steinfestschen Universum werden hier aufgegriffen und neu verbunden. Auf die dicht verwobene Handlung werde ich hier nicht im Einzelnen eingehen – außerdem werde ich wesentliche Aspekte des Inhalts verraten. Also daher eine Anmerkung gleich zu Beginn: Es ist am besten, erst das Buch und dann diesen Beitrag zu lesen. 🙂

(c) Kinowelt Home

Ein „Tiffany“-Erlebnis und „Léon – Der Profi“
In „Ein dickes Fell“ ist die weibliche Hauptfigur die Auftragsmörderin Anna Gemini. Sie wurde zu diesem Beruf von dem Film „Léon – Der Profi“ inspiriert, da er es ihr ermöglichte, erstmals diesen Berufsstand nicht als widerwärtig zu sehen. Denn in dem Film spielt Jean Reno einen „schüchternen, Milch trinkenden, melancholischen“ Killer, der sogar sein erhaltenes Geld kaum anrührt. Als nun das Nachbarmädchen Mathilda (Natalie Portman) in Not gerät, hilft er ihr und bildet sie auf ihren Wunsch im Umgang mit Waffen aus. Weiterlesen

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