Eine Anmerkung zu Sybille Ruges „Davonpart 160×90“

(c) Suhrkamp

Seit Monaten will ich etwas schreiben zu Sybille Ruges sensationellen Debütroman „Davenport 160×90“ – und habe es die ganze Zeit nicht geschafft. Nun wurde bereits einiges zu diesem Roman gesagt und geschrieben, vielem stimme ich zu. Die Sprache ist großartig – sie kühn und treibt voran, ohnehin ist das Tempo hoch in diesem Roman. Er steckt voller Anspielungen, Referenzen und Verweisen – vieles wird im CrimeMag aufgedeckt, dort findet sich auch eine Plotzusammenfassung und viele weiterführende Hinweise in Alf Mayers begeistertem Text.

Tatsächlich wird Heiner Müller in den Reaktionen häufig genannt, diese Referenz ist ja durch den Paratext des Buches auch angelegt. Aber da gibt es etwas, was ich hinzufügen möchte. Denn ich musste beim Lesen nicht an Heiner Müller denken. Sondern an Derek Raymond. Genauer: Derek Raymond, in dessen „Nightmare on the streets“ es den Polizisten Kleber regelrecht zugrunde richtet, dass seine geliebte Frau an seiner Stelle gestorben ist. Natürlich gibt es stilistische Unterschiede, auch ist das Buch anders aufgebaut. Aber: in der wuchtigen, sprachlich scharfen Beschreibung der Trauer, die existentiell ist und sowohl Kleber als auch Sonja Slanski wirklich bis in die Knochen erschüttert, sind diese Bücher gewissermaßen aus einem ähnlichen Geiste heraus geschrieben – sie sind beide novels in mourning.

So hat Raymond in seinen „Hidden Files“ (dt.: Die verdeckten Dateien, Dumont Noir 1999. Übersetzt von Michael K. Iwoleit, Reinhold H. Mai) den Noir-Roman beschrieben: „Mit dem Wort Dasein meine ich den einzige für die Menschheit gültigen Vertrag. (…) Dieser Vertrag ist die Grundlage des Noir-Romans, dessen Abscheu vor der Gewalt, die so genau wie möglich geschildert wird, um Menschen daran zu erinnern, wie widerlich sie ist, ihn dazu veranlaßt, gegen jeden Tod zu protestieren, der einen Menschen vor seiner Zeit ereilt, und das ist es, was ihn zu einem Roman in Trauer macht.“ (S.129)

Aber es ist nicht der Tod, den Sonja Slanski betrauert – in ihm spiegelt sich auch eine Trauer über die Gesellschaft wider, die ihre eigenen Fehlentwicklungen hinnimmt und Verwerfungen für „normal“ hält. In beiden Büchern trauern zwei zutiefst nihilistische Menschen: Sonja Slanski glaubt an nichts und niemanden, sie verdient Geld mit Deals, die anderen zu schmutzig sind, einzig ihr russischer Ziehvater vermag es gelegentlich ihr eine Freude zu machen, indem er ihr etwas teures und abwegiges schenkt. Sonja Slanski erwartet nichts mehr, sie hat womöglich nie etwas erwartet. Aber dann weckt dieser Tod eine Wut, eine eiskalte und gefährliche Wut (wie z.B. die des namenlosen Sergeants in „Ich war Dora Suarez), die sie zu dem Täter führt. Kleber richtet seine Trauer zugrunde, er verfällt vor Leid und Schmerz dem Wahnsinn. Nur die Liebe, die ist für ihn überall, sogar wenn er zerschossen am Boden liegt.

Sybille Ruge: Davenport 160×90. Suhrkamp 2022. 264 Seiten. 15 Euro.

Mehr Derek Raymond und u.a. “Nightmare on the streets” gibt es auch in der ersten Folge meines Podcasts “Abweichendes Verhalten”, die unter diesem Link und bei allen gängigen Podcatchern sowie Spotify finden ist.

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2 Gedanken zu „Eine Anmerkung zu Sybille Ruges „Davonpart 160×90“

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