Ein Luxushotel in Florenz. Eine Frau hat einen Stricher mit ins Zimmer genommen. Sie will ihm ihre Geschichte erzählen, damit sie sie wenigstens einmal erzählt hat. Sie weiß, dass er sie nicht weitererzählen wird. Und selbst wenn: Niemand würde ihm glauben.
Im Folgenden erfahren wir in Isabelle Lehns grandiosen Roman „Die Spielerin“ aber nicht diese Geschichte. Vielmehr lesen wir von einem Prozess gegen diese Frau, von der drohenden Pleite einer Nachrichtenagentur, die durch das Investment eines Brauerei-Erbens verhindert werden soll. Die Frau – „man umschreibt sie als Frau mittleren Alters“ – wird nur A. genannt und hat in der Telefonakquise gearbeitet. Sie sagt vor Gericht kein Wort. Stattdessen erzählen in den Kapiteln verschiedene Personen von A. Allesamt Männer. Ihr Vater, ihre Kollegen, ein Journalist, der über sie schreibt.
Nach und nach setzt sich ihr bisheriges Leben zusammen – zumindest einige Eckpunkte: Aufgewachsen in Südniedersachen hat sie eine Ausbildung bei der Sparkasse gemacht, wollte aber nicht in Einbeck versauern. Sie ist nach Zürich gegangen, um in der Investmentabteilung einer deutschen Bank zu arbeiten. In den 1990er Jahren bedeutet das zweierlei: Dort arbeiten fast ausschließlich Männer. Und diese Jahre umfassen eine ungeheure Spekulationsgier, vom Währungstausch der D-Mark bis zur Asienkrise.
Insbesondere dieser Teil – der zweite Teil – liest sich wie ein Wirtschaftskrimi. A. lernt alles, was sie in dieser Branche können muss: Worauf sie spekulieren muss. Wie man Geld vermehren, waschen, beiseiteschaffen und umetikettieren kann. Ihre größte Stärke: Sie ist in diesem Spiel immer die, die die Männer um sie herum sehen wollen. Sie ist unsichtbar, wenn sie es sein muss. Sie ist ein Objekt der Begierde, wenn es von ihr erwartet wird. Das allerdings, so merkt ein Kollege an, gehe nur, bis sie 32 Jahre alt sei. Danach nicht mehr.
A nutzt den „male gaze“, den männlichen Blick, und ist deshalb erfolgreich. Sie weiß genau, dass die Männer nicht wahrnehmen, was ihren Erwartungen an „so eine Frau“ nicht entspricht. Die überaus kluge Isabelle Lehn weiß das auch – und macht das Nicht-Sehen, das Nicht-Erkennen zum Erzähl- und Strukturprinzip ihres vielschichtigen, flirrenden Romans. Es liefert die so kluge Pointe dieses Buchs, das auch mit uns und unseren Wahrnehmungen spielt. Je mehr wir über A. erfahren, desto lustiger wird im Nachhinein, was manche Männer anfangs über sie erzählt, über sie gedacht haben. Aber genauso gnadenlos entlarvt dieser Roman die eigene Ignoranz, wenn sich nach und nach zeigt, wie es nach A.s Aufenthalt in Zürich weitergeht.
Und an dieser Stelle möchte ich sehr deutlich machen, dass man mit diesem Roman den größten Spaß hat, wenn man vorher nichts über den Inhalt weiß. Aber dies ist eine Besprechung – und über diesen Roman kann ich nicht schreiben, ohne etwas zu verraten, was ich vorher nicht wusste. „Die Spielerin“ basiert auf einem wahren Fall, auf den Isabelle Lehn durch einen Artikel des Journalistin Sandro Mattioli gestoßen hat, der sich online finden lässt. Sie nutzt die wenigen Fakten, die über die damalige Angeklagte bekannt geworden sind. Der Rest ist Fiktion. So. Und ab hier lesen alle auf eigene Gefahr weiter.
Es gibt nämlich von Anfang eine weitere Erzählstimme in diesem Roman, ein „Wir“. Anfangs wirkt es fast ein bisschen alttestamentarisch. Ich habe mich gefragt: Wer ist dieses Wir? Sind das die Zuschauer beim Gerichtsprozess, sind es wir Lesenden? Es ist kein griechischer Chor, der alles kommentiert; aber dieses Wir ordnet das Material. Es zieht im Hintergrund die Fäden. Und dann stellt sich heraus, dass dieses Wir die kalabrische Mafia ist. Und A. ist keine Marionette, sondern ein Teil eines Netzes.
Die Mafia wird in diesem spannenden Roman endlich mal als Wirtschaftsunternehmen, als fester Bestandteil des kapitalistischen Systems betrachtet. Und das größte Problem dieses Unternehmens: Sie haben viel Geld aus dubiosen und illegalen Quellen. Sie müssen es waschen. Genau da kommt A. ins Spiel. Die Maifa scheint weitaus progressiver zu sein als das Bank-Wesen: Zum einen haben die Männer dort weit weniger das Bedürfnis, ihre potente, aggressive Männlichkeit herauszustellen. Zum anderen erkennen sie sehr früh, wie groß der Vorteil ist, dass A. eine Frau ist. Niemand glaubt, dass Frauen aus eigenem Antrieb Verbrecherinnen sind. (Davon erzählt stilistisch ganz anders auch Ivy Pochoda in „Sing mir vom Tod“)
Bis zuletzt lässt sich das Bild von A. nicht vollständig zusammensetzen. Ihre Motive werden nicht ergründet, ihr Handeln nicht begründet. Manches lässt sich ausschließen: Sie wird nicht gierig wie ihre Kollegen – Gier ist hier ein rein männlicher Verhaltenszug. Auch wird sie nicht größenwahnsinnig oder eitel. Vielmehr erscheint es, als spiele sie das Spiel, das der Kapitalismus ihr vorgibt. Sie nutzt dessen Regeln zu ihrem eigenen Vorteil.
In einigen Kritiken war zu lesen, dass offenbleibt, ob A. tatsächlich Strippenzieherin oder Spielfigur war – ich finde, es ist recht eindeutig, dass A. genau weiß, was sie tut, auf wen sie sich eingelassen hat und wie sie aus der Sache wieder herauskommen kann. Zu glauben, sie sei manipuliert worden, macht genau das, was viele Männer in diesem Roman machen: A. unterschätzen.
Isabelle Lehn: Die Spielerin. S. Fischer Verlag 2024. 272 Seiten. 25 Euro.