Schlagwort-Archive: England

Über “Das Nest” von Sophie Morton-Thomas

Vögel sind die Leidenschaft von Fran. Schon morgens schleicht sie sich aus ihrem Wohnmobilheim an der Küste Norfolks, um sie zu beobachten. Dann muss sie nicht mehr darüber nachdenken, warum sich ihr Mann in seine Arbeit vergräbt oder ihre Schwester kaum noch mit ihr spricht. Warum ihr Sohn Bruno keine Freunde findet, stattdessen seiner gleichaltrigen Cousine Sadie hinterherläuft, die so viel reifer ist als er. Und ob ihr Schwager wieder trinkt.

Von Anfang ist in Sophie Morton-Thomas‘ Debütroman „Das Nest“ klar, dass etwas nicht stimmt. Aber man bekommt nicht zu fassen, was es ist. Warum ist das Verhältnis zwischen Fran und ihrer Schwester so angespannt? Warum will Frans Ehemann, dass sich ihr Schwager von ihrem Sohn Bruno fernhält? Überhaupt Bruno – er ist ein merkwürdiges Kind. Ständig betonen Fran und ihr Mann, wie sehr sie ihn lieben, wie kindlich er im Vergleich zu seinen Mitschülern ist, wie unschuldig. Sie wollen ihn unbedingt beschützen. Doch vor was?
Morton-Thomas nimmt sich etwas zu viel Zeit, um dieses Setting und die Atmosphäre zu etablieren. Dann passieren mehrere Dinge gleichzeitig, die diese fragile Routine stören: Roma errichten ihr Lager auf einem Feld direkt neben dem Campingplatz, den Fran verwaltet. Innerhalb kurzer Zeit verschwinden erst die Vertretungslehrerin ihres Sohnes, dann ihr Schwager. Außerdem tauchen toten Vögel auf, denen die Köpfe abgerissen wurden.
Erzählerisch bleibt Sophie Morton-Thomas überwiegend in der Perspektive von Fran, die ständig mit ihren Vögeln beschäftigt ist. Vor allem das titelgebende Nest der seltenen Seeschwalbe dominiert ihre Gedanken, es wird regelrecht zu einer Obsession. Doch es wird immer klarer, wie sehr sie mit allen überfordert ist – und dass sie manche Gedanken, Sorge, Bedürfnisse nicht aussprechen kann. Wie so einige Menschen in ihrer Umgebung. Dadurch entwickelt sich unter dieser simplen Oberfläche ein komplexes Familiendrama, in dem die Nuancen fein aufeinander abgestimmt sind. Man muss aufpassen und sorgfältig lesen, um sie nicht zu verpassen.
Das Ende enthält sicherlich eine Spur zu viel Großherzigkeit. Aber die Subtilität der psychologischen Spannung überzeugt.

Sophie Morton-Thomas: Das Nest. Aus dem Englischen von Lea Dunkel. Pendragon 2025. 302 Seiten. 22 Euro.

Diesen Beitrag teilen

Krimi-Kritik: „Killer Rock“ von Andrew Cartmel

Ach, was hatte ich für einen Spaß mit „Murder Swing“, dem ersten Roman von Andrew Cartmel mit dem Vinyl-Detektiv! Damals geriet er in eine irre Verschwörung, als er nach einer seltenen Jazz-Platte suchte. In „Killer Rock“ sucht er nun nach einer seltenen Rock-Platte.

(c) Suhrkamp

Alles fängt fast genauso an wie in „Murder Swing“: er bekommt den Auftrag die Single der Band Valerian zu suchen, die zu gleichen Zeit wie ihr rares Album „All the Cats Love Valerian“ erschienen ist. Aber eigentlich – das ist ebenfalls von Anfang an klar – geht es seinem Auftraggeber vielmehr darum, den damals verschwundenen Sohn der toten Lead-Sängerin zu finden. Gemeinsam mit seiner Freundin Nevada und der Unterstützung von seinem besten Kumpel Tinkler sowie der Taxifahrerin Clean Head macht sich der namenlose Vinyl-Detektiv an die Arbeit.

Die Verbindung aus allerhand Musikgeschichte sowie -referenzen mit einem Kriminalfall, sehr originellen Charakteren und einem bissig-witzigen Erzählstil geht auch in „Killer Rock“ wieder auf. Dazu trägt vor allem bei, dass Cartmel lediglich droht, auf bereits bekannte Erzählmuster abermals zurückzugreifen, aber jedes Mal die Kurve bekommt. Und nicht nur das: Kennt man „Murder Swing“, erscheint die Bedrohung gelegentlich sogar wesentlich größer, als sie in diesem Fall ist.

Bestand ein Großteil meines Vergnügens bei „Murder Swing“ aus den Jazz-Referenzen, habe ich auch sehr gerne etwas über Rock gelesen und gelernt. Cartmel hat einen Sinn für die kleinen Absurditäten und große Exzentrik des Lebens und seiner Charaktere. Außerdem vergisst er bei allen Volten und allem kichernden Spaß den eigentlichen Fall nicht, der in „Killer Rock“ noch etwas gerader erzählt ist als in „Murder Swing“. Es gibt auf dem Krimi-Markt hierzulande nicht viele Bücher, die so perfekt unterhalten. Im nächsten Band wird es um Big-Band-Swing gehen. Ich kann es kaum erwarten.

Andrew Cartmel: Killer Rock. Übersetzt von Susanne Mende. Suhrkamp 2020.

Diesen Beitrag teilen

Über „Das Grab im Moor“ von Belinda Bauer

Als vor einigen Monaten die Longlist zum Man Booker Prize veröffentlicht wurde, fand sich unter den AutorInnen auch die Krimi-Autorin Belinda Bauer. Der Name sagte mir nichts, also dachte ich, lese ich doch den nominierten Roman „The Snap“. Doch dann unterhielt ich mich mit einem Kollegen, der sagte, ihr Debüt sei doch damals™ auch so gefeiert worden und tatsächlich finden sich zu „Das Grab im Moor“ allerhand werbende Superlative. Das machte mich noch neugieriger – und so las ich zuerst diesen Roman über einen Jungen, der die Leiche seines vor 20 Jahren ermordeten Onkels finden will und deshalb Kontakt mit dessen inhaftierten Mörder aufnimmt.

Jugendliche oder gar kindliche Protagonisten, die noch dazu auch als Erzähler fungieren, leiden oftmals darunter, dass sie schlichtweg viel zu klug und analytisch für ihr Alter sind. Das trifft bei „Das Grab im Moor“ nicht zu. Ganz im Gegenteil: Der 12-jährige Steve Lamb trifft allerhand unkluge Entscheidungen und ist von typischen Teenager-Unsicherheiten und -Sorgen betroffen. Doch er hat eine Mission: Er will im Exmoor die Leiche seines Onkels Billy finden, der vermutlich vor 20 Jahren von dem Serienkiller Arnold Avery ermordet wurde, als er ungefähr so alt war wie Steve jetzt ist. Steve ist überzeugt, dass nur der Leichenfund seine Leben verbessern wird: seine schroffe Großmutter steht noch immer jeden Tag am Fenster und wartet darauf, dass Billy zurückkehrt. „Sie hatte ihr Leben als Gloria Manners begonnen. Dann war sie Ron Peters‘ Frau geworden. Danach war sie Letties Mum gewesen, und dann Letties und Billys Mum. Dann war sie lange Die Arme Mrs. Peters gewesen. Jetzt war sie Stevens Nan. Doch sie würde immer Die Arme Mrs. Peters bleiben; nichts konnte daran etwas ändern, nicht einmal ihre Enkel.“ Und auch Lettie – Steves Mum – weiß, dass für ihre Mutter nur Billy zählt und muss sich selbst eingestehen, dass Billys jüngerer Bruder ihr Lieblingskind ist.

Die Lambs sind eine Familie der Unterschicht. Geld und Zuneigung sind knapp, enttäuschte Erwartungen und Hoffnungen an der Tagesordnung. Steve verfolgt sein Ansinnen heimlich und beharrlich, schließlich nimmt er sogar Kontakt mit Arnold Avery auf. Und Avery ist natürlich begeistert. Selbst als Vorzeigehäftling hat er bei einer Verurteilung wegen sechsfachen Mordes und dreifacher Kindesentführung nur wenig Hoffnung auf eine vorzeitige Entlassung, die Briefe des Unbekannten versprechen zunächst Abwechslung, als er schließlich bemerkt, dass der Absender ein Kind in genau dem Alter ist, das er bevorzugt, versprechen sie Macht und Befriedigung.

Belinda Bauer spürt in diesem Zusammentreffen von Kind(ern), Müttern und Mördern den persönlichen Folgen einer Gewalttat nach und entwirft das todtraurige Szenario einer Familie, die den Verlust des einen Kindes niemals verwunden hat – und darüber hinaus alle Lebenden zu vergessen scheint. Es ist als hätte sich Lettie und Gloria jegliches Glück versagt, eine Entscheidung, unter der Steve und sein Bruder leiden, Das Gefühl das Unglücks, der Trauer, der allzu großen Last überträgt sich regelrecht auf sie und droht auch ihnen jegliches Glück zu nehmen. Nur eine große Tat scheint diese Kette unterbrechen zu können und genau zu dieser will sich Steve aufschwingen. Dabei überblickt er nicht alle Konsequenzen und ist doch bereit, sie letztlich zu tragen. Und dadurch ist „Das Grab im Moor“ ein spannender, psychologisch ausgefeilter und eindringlicher Spannungsroman.

Belina Bauer: Das Grab im Moor. Übersetzt von Marie-Luise Bezzenberger. Goldmann 2010.

Diesen Beitrag teilen

Krimi-Kritik: „Miss Terry“ von Liza Cody

Dieses Buch hat mich unfassbar glücklich gemacht. Nicht, weil es eine Geschichte erzählt, die auf irgendeine Art und Weise glücklich machen würde, sondern weil es nach langer Zeit mal wieder ein Buch war, das ich tatsächlich nicht aus der Hand legen wollte. Und weil es ein Buch ist, in dem Frauen furchtbar naiv und schrecklich klug, unvorstellbar leichtgläubig und gnadenlos abgebrüht sind. Und weil es ein Buch ist, dass einen warmherzigen Kern hat.

(c) Argument

(c) Argument

Miss Terry heißt eigentlich Nita Tehri, aber ihr Nachname wird immer wieder falsch ausgesprochen. Nita korrigiert die Aussprache dann sanft, denn sie ist eine sehr freundliche und geduldige Grundschullehrerin, die gerade erst eine Wohnung in einem kleinen Haus in der Stadt gekauft hat. Langsam kommt sie mit den Nachbarn in Kontakt und lebt ihren sorgsam geregelten Tagesablauf. Doch dann wird in der Guscott Road gegenüber ihrer Wohnung ein Müllcontainer aufgestellt, in dem die Leiche eines Babys gefunden wird. Das Baby soll dunkle Haut haben – und weil Nita die einzige nicht-blütenweiße Frau in dieser Gegend ist und zudem vor kurzem Gewicht verloren hat, vermutet jeder, dass sie die Mutter und Mörderin ist. Es beginnt eine Hetzkampagne gegen Nita, als haben die Rassisten nur auf eine Gelegenheit gewartet, ihre hässliche Fratze zu zeigen. Weiterlesen

Diesen Beitrag teilen

Ohne Risiko – Über „Dein finsteres Herz“ von Tony Parsons

Dieses Buch ist ein Schmöker, der sich in mehr oder weniger einem Rutsch durchlesen lässt. Es gibt einen Ermittler, der sich um seine kleine Tochter und einen Welpen kümmern muss und außerdem seine Ehefrau nicht vergessen kann; eine Gruppenvergewaltigung an einem englischen Elite-Internat in der Vergangenheit und in der Gegenwart eine Mordserie an ehemaligen Schülern und heutigen Stützen der Gesellschaft.

(c) Lübbe

(c) Lübbe

Internate in Kriminalromanen waren schon immer Orte sadistischer Gewalt und Horte des Bösen. Das gilt insbesondere für Elite-Internate, in denen viele Schüler aufgrund des verkommenen Reichtums ihrer Familie ganz besonders gewissenlos sind. Tony Parsons Roman ist hier keine Ausnahme, ohnehin bleibt er stets innerhalb der Grenzen standardisierter Krimi-Unterhaltung. Aber immerhin spiegelt sich die Verbindung aus Vergangenem und Gegenwärtigen nicht nur in den Taten des Mörders, sondern auch in anderen Plot-Elementen wider: Protagonist Max Wolfe wurde gerade aufgrund seines beherzten Eingreifens bei einem terroristischen Anschlagsversuchs in die Mordkommission versetzt, hadert mit den Herausforderungen eines alleinerziehenden Vaters, der Sensationsgier von Zeitungen und Internet. Daneben gibt es Verweise auf die britische Kriminalgeschichte und Wolfe findet wichtige Hinweise in Scotland Yards Black Museum. Davon erzählt Tony Parsons in seinem ersten Kriminalroman routiniert, gelegentlich etwas zu ausführlich und mit einigen mal mehr und mal weniger leicht zu durchschauenden falschen Fährten. Durchweg gelungen sind hingegen die privaten Szenen des Ermittlers mit seiner Tochter, in denen er dieser persönlichen Tragödie einfühlsam nachspürt. Nur diese eine Affäre hätte nicht sein müssen.

Alles in allem ist Tony Parsons Kriminalroman somit solide Krimi-Unterhaltung mit wenig Ärgerlichem und viel Bekanntem, bei dem die Krimi-Komfortzone niemals verlassen werden muss.

Tony Parsons: Dein finsteres Herz. Übersetzt von Dietmar Schmidt. Lübbe 2014.

Diesen Beitrag teilen

Ein Serienkiller auf Zeitreise – „Die Eleganz des Tötens“ von A. K. Benedict

Ein zeitreisender Serienkiller ist eine Idee, die mir bereits in Lauren Beukes „Shining Girls“ gut gefallen hat. Sie entwickelt diese Geschichte hauptsächlich aus zwei Perspektiven: der jungen Frau Kvirby, die einen Angriff überlebte und ihn seither jagt, und dem Täter selbst, der durch die Jahrzehnte springt, sich seine Opfer bereits als Kinder aussucht und erst Jahre später ermordet. Als Vehikel seiner Zeitreisen dient ihm ein mysteriöses Haus – und während mir diese Erklärung völlig ausreichte, wurde u.a. von My Crime Time kritisiert, dass das Zeitreisen nicht genügend erklärt wurde. Als ich nun in der Verlagsankündigung von DroemerKnaur A.K. Benedicts „Die Eleganz des Tötens“ entdeckte, war ich sofort neugierig: Wie würde sie ihr Buch aufbauen – und wie würde sie mit dem Aspekt des Zeitreisens umgehen?

(c) Droemer

(c) Droemer

Sowohl die Handlung als auch die Erzählweise unterscheiden sich sehr von Lauren Beukes: Alleinige Hauptfigur in „Die Eleganz des Tötens“ ist der frischgebackene Philosophiedozent Stephen Killigan, der gerade in Cambridge angefangen hat. Er hat eine Sammelleidenschaft, ist leicht zerstreut und seit dem Selbstmord seiner Mutter traumatisiert. Eines Abends entdeckt er im betrunkenen Zustand die Leiche einer seit einem Jahr vermissten Schönheitskönigin und verständigt die Polizei. Als sie jedoch am Tatort eintrifft, fehlt von der Leiche jegliche Spur. Daraufhin gerät er selbst ins Visier der Ermittlungen, zugleich aber interessiert sich plötzlich sein Kollege Robert Sachs für ihn. Durch ihn erfährt er mehr über eine Maske, die die Tote getragen hat, außerdem forscht er mithilfe der hübschen Bibliothekarin Lana weiter nach und hat schon bald die Idee, dass der Mörder durch die Zeiten reisen könnte.

Eine Erklärung für die Zeitreisen findet A.K. Benedict in Ansätzen schon: Man muss sich in einen möglichst losgelösten Zustand bewegen – aus dem Denken ins das Fühlen: „Genau dann, wenn wir am lebendigsten, ehrlichsten und am verletzlichsten sind, können wir den Raum zwischen konstruierten Realitäten ausmachen und durch die Lücken treten“, erfährt Killigan durch eine erfahrene Zeitreisende, als er entdeckt, dass auch er durch die Zeit reisen kann, wenngleich ihm noch einige Fertigkeiten wie das Treffen des korrekten Datums fehlen. Dadurch ist er in der Lage, den Plan des Mörders nach und nach zu enthüllen, zugleich aber deutet sich schon früh an, dass dieser ihm an Raffinesse und Erfahrung zu überlegen ist als dass er ihn fassen könnte. Damit weicht A. K. Benedict wie schon Lauren Beukes eine schwierigen Frage aus – wie fasst man einen Mörder, der durch die Zeiten reist? –, legt aber bereits den Grundstein der Antwort, indem der Ermittler ebenfalls ein Zeitreisender ist.

Insgesamt aber geht es A. K. Benedict in ihrem Buch um die titelgebende ‚Eleganz des Tötens’, der sowohl der Killer als auch Killigans Kollege Robert Sachs verfallen sind. Daneben werden einige philosophische Themen angesprochen, allerdings bleibt sie meist an der Oberfläche, anstatt sich auf den naheliegenden – und am Ende auch thematisierte – Konflikt zwischen Determinismus und freiem Willen zu konzentrieren. Ohnehin ist der Thriller insgesamt zu lang und weitschweifend: Weniger Betonungen des Offensichtlichen und unnötige Nebenhandlungen wie beispielsweise das pubertäre und unreife Versprechen, sich mit einer Frau nicht zu verabreden, die der beste Freund seit vier Jahren aus der Ferne bewundert, obwohl er sich ebenfalls in sie verliebt hat, hätten sowohl dem Spannungsaufbau als auch dem Lesefluss gut getan. Vor allem aber beschreibt sie zu viel – jedoch macht eine Aneinanderreihung von Eigenschaften aus einer Figur noch keinen Charakter, schaffen viele Details in der Einrichtung und dem Wetter noch keine Atmosphäre und sind viele philosophische Themen nicht gleichbedeutend mit Tiefsinn. Hier fehlen Stringenz und das Gespür für Wichtiges. Allerdings erklärt sich dann immerhin das Bemühen, auch der Polizistin Jane Horne mit ihrer Krebserkrankung eigenes Profil zu verleihen, als am Ende deutlich wird, dass es wohl eine Fortsetzung mit Killigan und Inspector Jane Horne geben wird, bei dem sie weiterhin versuchen, in der Vergangenheit liegende Fälle aufzuklären – und den genialen Zeitreise-Supermörder zu jagen. Auf dieses Wiedersehen werde ich allerdings verzichten.

A.K. Benedict: Die Eleganz des Tötens. Aus dem Englischen von Alice Jakubeit. Droemer 2014.

Diesen Beitrag teilen

Wer tötet zuerst? Über „Eene meene“ von M.J. Arlidge

(c) Rowohlt

(c) Rowohlt

„Sam schläft. Ich könnte ihn jetzt töten. Er liegt vor mir abgewandt – es wäre ganz leicht.“ Mit diesen Worten beginnt der Thriller „Eene meene“ von M.J. Arlidge, in dem eine Unbekannte auf perfide Weise tötet. Sie legt nicht selbst Hand an die Opfer, sondern entführt immer zwei Menschen, die in unterschiedlicher Beziehung zueinander stehen – eingangs ein Paar, es folgen Mutter und Tochter, Anwalt und Mandantin, Kolleginnen und so weiter – und sperrt sie ohne Wasser und Brot ein. Dann lässt sie ihnen eine Botschaft sowie eine Waffe mit einer Patrone zukommen: Derjenige, der den anderen erschießt, kommt frei. Für die Entführerin ist es ein Spiel, bei dem sie immer gewinnt, während alle anderen verlieren. Die Polizei um Detective Inspector Helen Grace ist ratlos. Die Täterin hinterlässt keine Spuren, deshalb versuchen sie ihr über die Wahl der Opfer näherzukommen. Aber der mediale Druck sowie ein Maulwurf unter den Kollegen erschweren Helen Grace neben ihren eigenen Dämonen die Ermittlungen – und dann muss sie sich irgendwann, eingestehen, dass die Taten unmittelbar mit ihr zusammenhängen.

„Eene meene“ besticht vor allem mit der guten Ausgangsidee, nach der ein jeder von uns unter extremen Bedingungen zum Mörder werden kann. Eine ähnliche Konstellation wurde bereits in einer Folge der Serie „Criminal Minds“ abgehandelt, in der drei Freundinnen entführt wurden, oder auch bei „Criminal Intent“, in der ebenfalls Paare gekidnappt wurden. Aber allein der Grundgedanke bietet gerade in einem Buch sehr viele Möglichkeiten, den psychischen Prozesse sowie Folgen nachzuspüren. Leider handelt M. J. Arlidge die Idee zwar in verschiedenen Beziehungskonstellationen ab, aber die innere Entwicklung der Entführten sowie die von den überlebenden Opfern im Nachhinein empfundene Schuld wird lediglich solange thematisiert wie sie für die Ermittlung wichtig sind. Danach werden sie mehr oder weniger vergessen. Das ist sehr bedauerlich, da hier Überlegungen über moralische Grenzen – bin ich bereit einen Kollegen, mein Kind oder meinen Partner zu töten, um zu überleben? Ist es schwieriger, einen Menschen zu töten, der einem nahesteht? Wann setzt der Überlebensinstinkt alle moralischen Bedenken außer Kraft? –, aber auch die verschiedenen Auswirkungen einer Drucksituation behandelt werden könnten.

Auch die meisten Personen werden in diesem Buch durch Äußerlichkeiten charakterisiert: eine Reporterin hat ein mit Säure verätztes Gesicht, die Pathologin ist stark tätowiert, die Ermittlerin hat Striemen auf dem Rücken, weil sie sich lediglich durch Schmerzen entspannen kann. Und so lobenswert es ist, dass die wichtigen Figuren in diesem Buch allesamt Frauen sind, sind sie in ihrer Gesamtheit doch etwas sehr beschädigt.

Aber A. J. Arldige weiß, wie er seine Geschichte erzählen muss: Die meisten der ohnehin kurzen Kapitel enden mit einer Cliffhanger, so dass das Gefühl entstehen soll, man müsse weiterlesen, auch kann er dadurch verschiedene Perspektiven einfließen lassen. Deshalb ist „Eene meene“ ein handwerklich guter, streckenweise spannender Thriller, der unterhält. Jedoch ermüdet der vorhersehbare Perspektivwechsel zunehmend, sind die Figuren und das Durchgehen der Konstellationen bei den Entführungen zu bewusst inszeniert, so dass „Eene meene“ insgesamt auch ein sehr kalkuliertes Buch ist, bei dem die Rechnung nicht immer aufgeht.

M.J. Arlidge: Eene meene. Übersetzt von Karen Witthuhn. Rowohlt 2014.

Tipp:
Vom Rowohlt Verlag gibt es auch eine sehr schöne und gut gestaltete Seite zu diesem Buch, die gerade die Anfangsatmosphäre gut einfängt.

Diesen Beitrag teilen