In Berlin komme ich gerade aus verschiedenen Gründen kaum zum Fotografieren, an den Wochenenden bei meinen Eltern in Niedersachsen umso mehr. Alle Bilder sind mit dem iPhone gemacht, bei VSCO bearbeitet (AGA 1).
Das wahre Leben, merkt DI Adam Fawley an, ist „sehr viel chaotischer als Inspector Morse“. Dieser Verweis kommt in Cara Hunters „No way out – Es gibt kein Entkommen“ nicht ohne Grund: Ihre Reihe spielt in Oxford, außerdem spricht DI Fawley gerade mit einer Akademikerin, die ihm wichtige Informationen vorenthalten hat. Und das kennen wir doch alle von Morse, Lewis und Hathaway. Aber trotz dieser Referenz an die berühmten Oxford-Rätselkrimis ist Cara Hunters Kriminalroman anders – moderner, differenzierter und viel stärker in der gegenwärtigen Welt verankert.
Bei dem Fall, in dem Fawley und sein Team ermitteln, geht es um Brandstiftung und Mord: Ein Haus hat gebrannt. Die Feuerwehr hat die Leiche des jüngsten Sohnes der Familie Esmond gefunden, der zweite Sohn wird schwer verletzt geborgen. Von den Eltern aber fehlt jede Spur. Bald stellt sich heraus, dass es in der Familie Probleme gab, vor allem der Vater Michael hat sich in den vergangenen Monaten verdächtig verhalten. Hat er das Haus angezündet?
Cara Hunter verbindet in ihrem Roman die Erzählweisen des Police Procedural mit denen des Domestic Thrillers. Da sind auf der einen Seite Fawley und sein Team mit all ihren privaten und beruflichen Problemen. Fawley fürchtet, seine Frau könnte ihn verlassen. Detective Sergeant Gislingham hat den Posten als leitender DS bekommen, weil sein Kollege Quinn wegen Missverhaltens degradiert wurde; Quinn ist aber weiter im Team. DC Erica Somer ist erst seit drei Monaten bei der Kriminalpolizei und muss ihre Rolle noch finden. Ihre Kollegin Verity Everett hat mit ihrem dementen Vater alle Hände voll zu tun, will das aber nicht publik machen. Diese Probleme sind da, sie bestimmen aber nicht die Handlung oder belasten die Ermittlungen. Vielmehr ist es alltäglicher: private Probleme verschwinden nicht auf wundersame Weise, rücken aber bei der Arbeit in den Hintergrund.
Dadurch sind die Polizist*innen auf routinierte Weise professionell, bieten aber zugleich ausreichend Anknüpfungspunkte, die eine Serie braucht: sie haben etwas, was man im Englischen so schön als relatable bezeichnet, ohne ganz klar auf Sympathie angelegt zu sein. Dafür haben sie zu viele Ecken und Kanten, Schwächen und Stärken. Ihre Komplexität hat mir beim Lesen ausgesprochen gut gefallen – so gut, dass ich fast ein bisschen befürchte, sie ist vor allem darauf zurückzuführen, dass „No way out“ der dritte Teil der Reihe ist, aber der erste Teil, den ich gelesen habe. Cara Hunter zeigt hier, dass das gute alte Police Procedural durchaus die Möglichkeit hat, komplexere Figurentypen zu zeigen als nur den aufrechten Cop, der gegen alle Widerstände ermittelt. Hier geht es diverser zu, ohne dass es aufgesetzt erscheint – und hier werden verschiedene Arten von Männlichkeit innerhalb der Polizei verhandelt. Weiterlesen
Am Samstag, den 29. Mai moderiere ich im Rahmen von Leipzig liest extra die 4. Frankophone Kriminacht – live aus meinen Arbeitszimmer in diesem Internet. Reden werde ich mit
Hannelore Cayre, die den Deutschen Krimipreis International für ihren hochkomischen und bissigen Kriminalroman „Die Alte“ gewonnen hat.
Colin Niel, der mit seinem Noir „Nur die Tiere“ im Mai auf Platz 3 der Krimibestenliste stand
und mit Dominik Moll, dessen Verfilmung von „Nur die Tiere“ voraussichtlich am ??? in den Kinos startet.
Die Gäste legen es nahe, es wird gehen um den französischen Kriminalroman, Polar, Noir und natürlich Verfilmungen.
Hier geht es zu der Veranstaltung: https://fb.me/e/Y1YFsSQH
Ich würde mich freuen, wenn ihr dabei seid.
Es sind zwei Tote ohne Namen, mit denen es die Privatdetektivin und gelegentliche Kopfgeldjägerin Alice Vega in Louise Lunas Kriminalroman zu tun bekommt: zwei mexikanische Mädchen, zwischen 12 und 14 Jahren alt, zu Lebzeiten zur Prostitution gezwungen, nach dem Tod einfach abgeladen. Alter, Todesart und die Seriennummer der eingesetzten Spirale verbindet sie – und letztere verrät noch mehr: Es muss außer ihnen noch vier weitere Mädchen geben. Weil nun eine der Toten einen Zettel mit dem Namen von Alice Vega in der Hand hält, kommt die Polizei auf die Idee, sie zu engagieren – unter der Hand versteht sich, bar bezahlt.
Tatsächlich lässt sich Vega darauf ein und lässt noch einen Kollegen von der Ostküste nach San Diego einfliegen: Max Caplan ist anders als sie. Ein ehemaliger Polizist, geschieden, hat eine Tochter und denkt über einen ruhigen Job als Detektiv für eine Anwältin nach. Die beiden haben eine Vergangenheit – „Tote ohne Namen“ ist der zweite Teil einer Reihe –, aber es gut, dass erst dieser Teil erscheint: dass diese Geschichte hier nur angedeutet wird, dass diese Figuren bereits einen Schritt weiter sind in ihrer Entwicklung und Beziehung, verleiht ihnen etwas angenehm widerspenstig-brüchiges. (Außerdem scheint dieser erste Fall auch mit einer Gefährdung von Caplans Tochter Nellie zu enden, das ist sehr oft ein recht überflüssiges und einfaches Mittel, um die Dramatik zu steigern.)
Vega und Caplan beginnen nun also mit den Nachforschungen und versuchen, die noch lebenden vier Mädchen zu finden und die Hintermänner auszumachen. Von Anfang ist ihnen klar, dass weder der verantwortliche Detective Roland Otero noch die zwei Männer von der DEA mit offenen Karten spielen. Deshalb stecken sie schon bald in einem Schlamassel aus Korruption, Drogenhandel, Erpressung, Menschenhandel und Zwangsprostitution. Aber Vega vertraut auf die Waffe, die sie in ihrem Kofferraum hat – ein gelungener Running Gang, der dann erst auf Seite 188 mit viel Understatement aufgelöst wird – und ihrem Kampfgeist. Sie ist eine gelungene Figur, es ist klar, dass auch sie einige Traumata in der Vergangenheit hat, aber sie wird dadurch nicht zu einer überlebensgroßen Rächerin. Vielmehr vertraut sie auf sie sich selbst und die Hilfe anderer. Zusammen mit Max Caplan – der hier der bodenständigere von beiden ist – ergibt sie ein gutes Ermittlungsduo, von dem ich mehr lesen möchte.
Louisa Luna verbindet in „Tote ohne Namen“ sehr gute hardboiled-Unterhaltung mit gesellschaftspolitischen Untertönen: Kinderhandel von Lateinamerika in die USA ist ein großes Problem, die Kinder werden verschleppt – und die Gleichgültigkeit der US-Behörden ist groß. Die zeigt sich in „Tote ohne Namen“ nicht nur in dem Verhalten vieler Figuren, sondern vor allem in der kurzen Schilderung des Besuchs in einem Lager, in dem Kinder mit unklarem Aufenthaltsstatus „verwahrt“ werden. Die Ausbeutung von Kindern wird regelrecht hingenommen, sogar von Jugendlichen, die aufgrund ihrer eigenen Privilegien aus Langeweile und Überheblichkeit wohl kaum mehr wissen, was richtig ist – und deren Eltern ihnen da offensichtlich auch keine Hilfe sind. Dazu kommt ein Durcheinander an Zuständigkeiten von Behörden, eine Einwanderungspolitik, die ihren Namen nicht verdient – und immer wieder Gleichgültigkeit, bei der man nicht weiß, ob sie aus Abgestumpftheit oder tatsächlicher Verachtung kommt. Aber letztlich es auch egal. Es geht hier um Menschen, um die sich niemand kümmert. Deshalb fiebert man mit Luna und Caplan unweigerlich mit, die zumindest einigen Mädchen helfen wollen.
Louise Luna: Tote ohne Namen. Übersetzt von Andrea O’Brien. Suhrkamp 2021. 444 Seiten. 15,95 Euro.
In der Sendung Lesart habe ich mit Joachim Scholl über Bücher gesprochen, die sich kritisch mit Selbstoptimierung beschäftigen. Das komplette Gespräch lässt sich in der Audiothek unter diesem Link nachhören.
Und über folgende Titel haben wir u.a. gesprochen:
Anja Röcke: Theorie der Selbstoptimierung. Suhrkamp 2021. 257 Seiten. 20 Euro.
Svenja Gräfen: Radikale Selbstfürsorge. Jetzt! Eden Book 2021. 208 Seiten. 15 Euro.
Elisabeth Lechner: Riot don’t diet. Aufstand der widerspenstigen Körper. Kremayr & Scheriau 2021. 240 Seiten. 22 Euro.
Beate Hausbichler: Der verkaufte Feminismus. Residenz Verlag 2021. 224 Seiten. 22 Euro
Claudia Hammond: Die Kunst des Ausruhens. Wie man echte Erholung findet. Übersetzt von Silvia Morawetz, Theresia Übelhör. Dumont 2021. 324 Seiten. 22 Euro
Franziska Muri: Glücklich mit mir. Die 7 Geheimnisse der Selbstfürsorge. Heyne 2021. 224 Seiten 9,99 Euro.
Derzeit bin ich mal wieder im heimatlichen Niedersachsen und habe ein wenig fotografiert (alles Handybilder).
Im Jahr 1978 saß die amerikanische Schriftstellerin Harper Lee im Gerichtssaal von Alexander City, Alabama, um der Verhandlung gegen Robert Burns zu folgen. Er war angeklagt, Reverend Willie Maxwell erschossen zu haben. Über diesen Fall wollte Harper Lee ein Buch schreiben, eine True-Crime-Erzählung, die sich an die Fakten hält – als Gegenbeispiel zu „Kaltblütig“ von ihrem Kindheitsfreund Truman Capote, bei dessen Recherchen sie geholfen hatte. Aber „The Reverend“ wurde nie fertigstellt. In „Grimme Stunden“ erzählt nun Casey Cep von dem Maxwell-Fall und Harper Lees Arbeit an dem Buch.
Es ist offensichtlich, warum sich Lee für diesen Fall interessiert hat: Reverend Maxwell Williams wurde verdächtigt, fünf Menschen aus seinem unmittelbaren Umfeld ermordet zu haben. Aber ihm konnte nie eine Beteiligung nachgewiesen werden. Bei der Beerdigung seines letzten vermutlichen Opfers – seiner Stieftochter – wurde er von Robert Burns erschossen. Burns Verteidigung übernahm der Anwalt Tom Radney, der auch Maxwell mehrfach vertreten hatte: im Mordprozess wegen des Todes seiner ersten Ehefrau und bei zahlreichen Prozessen gegen Lebensversicherungen, die sich weigerten, Policen auszuzahlen.
In den ersten beiden Teilen von „Grimme Stunden“ rekonstruiert Cep den Fall und Prozess, erst im dritten Teil rückt Harper Lee in den Mittelpunkt. Cep nähert sich biografisch an, markiert aber auch die vielen Leerstellen hinsichtlich Lees Leben und vor allem Schreiben. Angeblich habe Lee jeden Tag geschrieben. Dennoch ist kein Buch von ihr erschienen. Cep führt mögliche Gründe an – Alkoholismus, Perfektionismus, Depressionen und Selbstzweifel –, legt sich aber klugerweise nicht fest.
Sehr deutlich wird indes, warum Harper Lee Schwierigkeiten mit „The Reverend“ hatte: Bis heute nicht bewiesen, dass Maxwell tatsächlich ein Mörder war und wie er es getan hat. Außerdem ist es letztlich die Geschichte zweier Schwarzer Männer in Alabama – der eine vermutlich ein Serienmörder, der andere tötet ihn –, die von demselben weißen Anwalt verteidigt werden, der bereits vorher von getöteten Schwarzen finanziell profitiert hat. Einen „Helden“ wie Atticus Finch gibt es hier nicht.
„Grimme Stunden“ versucht die Geschichte zu erzählen, die „The Reverend“ sein sollte. Dank der Offenlegung der Schwierigkeiten und Leerstellen ist es eine interessante Studie über die Arbeit an True-Crime-Geschichten – und ein einnehmendes Porträt von Harper Lee.
Casey Cep: Grimme Stunden. Sechs Morde, ein Prediger und Harper Lees letzter Roman. Übersetzt von Claudia Wenner. Ullstein 2021. 480 Seiten. 24 Euro.
Dies ist die Urfassung des Beitrags bei DLF Kultur. Mein Rezensionsgespräch lässt sich hier nachhören.