Wahnsinn in Sydney – Stephen Greenalls “Winter Traffic”

Stephen Greenalls „Winter Traffic“ ist purer Wahnsinn. Dieser Thriller ist eine Reise, auf die man sich einlassen muss; eine Reise voller Irrlichter und Unwegbarkeiten, am Ende aber hat sich jede Mühe gelohnt, die man auf sich genommen hat.

Mick Rawson ist ein korrupter Cop in Sydney im Jahr 1994, sein bester Kumpel Jamie Sutton ist Verbrecher und Zimmermann. Nun geraten sie beide in Schwierigkeiten: Sutton hat sich mit einem ziemlich einflussreichen Gangster angelegt, Rawson wiederum soll der aufrechten Polizistin Karen Millar bei den Ermittlungen in einem alten Mordfall helfen, bei dem einst ziemlich viel vertuscht wurde und in den sowohl Sutton als auch er verwickelt sind.

Diese Handlung ist nur der Kern von Stephen Greenalls erzählerischen Meisterwerk „Winter Traffic“, in dem ein kaum zu durchschauendes Netz an Verbindungen und gegenwärtigen sowie vergangenen Vergehen entfaltet wird. Aufgebaut ist das Buch in drei Teile, in denen die Kapitel jeweils rückwärts nummeriert sind. Die Handlung verläuft aber nicht ausschließlich rückwärts, vielmehr gibt Parallelitäten, Vor- und Rückblenden, Einschübe, Perspektiv- und Erzählwechsel.

Greenall experimentiert mit den erzählerischen Möglichkeiten. Es gibt einen Raubüberfall, der nur aus Funksprüchen besteht. In dem zweiten Teil des Buchs gibt es jedes Kapitel zweimal: Einmal enthält es tagebuchartige Aufzeichnungen von Millar, das andere Mal eine äußere Handlung – dazu inhaltliche Überkreuzungen mit dem ersten Teil, nun aber aus Karens Perspektive. Dieser zweite Teil ist zudem ein Spiel mit Identifikationsangeboten, mit Krimi-Konventionen und vermeintlichen Klarheiten, auf das man allzu gerne eingeht. Der dritte Teil dann geht bis zu Kapitel minus fünf – und ihn ihm entfaltet sich das komplette korrupte und wunderschöne Bild von Sydney im Jahre 1994.

Zu dieser nicht immer leicht zu durchschauenden, aber beeindruckenden narrativen Struktur kommt Sprache, die eine eiskalt-hämmernde und dann immer wieder auch rauschhaft und ausschweifend ist. Es gibt Passagen ausschließlich in Großbuchstaben, die den Wahn perfekt ausdrücken. Plot, Sprache, Figuren strömen auf einen ein, dadurch entsteht ein regelrechter Rausch, der die Distanz zwischen Gelesenem und Lesenden immer kleiner werden lässt – und zwar ganz ohne Identifikation.

„Winter Traffic“ verbindet den grausamen Alltag der Korruption mit existentiellen Fragen, mythologische Anspielungen mit alltäglichen Verbrechen. Es ist ein Buch, das man mehrfach lesen muss, kann, sollte. Denn Stephen Greenall zeigt, dass es die oft angeführten Grenzen der Kriminalliteratur gar nicht gibt.

Stephen Greenall: Winter Traffic. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp 2021. 492 Seiten. 16,95 Euro.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei DLF Kultur, dort lässt sich auch meine Krimi-Kolumne zu diesem wahnsinnigen Buch nachhören.

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Über „Die Experten“ von Merle Körger

Wer genau erzählt hier eigentlich? Diese Frage ließ mich nicht los bei Merle Krögers „Die Experten“, sie war es, die sich von Seite zu Seite immer drängender stellte. Noch auf der ersten Seite habe ich notiert, die Perspektive erinnere mich an eine Kamera, präziser ausgedrückt eine Überwachungskamera, eine jener runden Dinger, die an Decken oder in Ecken angebracht sind. Dieser Vergleich drängt sich auf, Merle Kröger ist auch Filmemacherin – und doch greift er zu kurz: denn hier wird nicht nur beobachtet, nicht nur hingeschaut.

Raketenboom in Ägypten
„Die Experten“ verbindet bundesrepublikanische Nachkriegs- mit der Familiengeschichte der Hellbergs und besteht aus drei Teilen. Jeder Teil ist benannt nach einem Fotoalbum, innerhalb des jeweiligen Teils beginnt ein neuer Abschnitt mit einem neuen Foto, das aber nicht abgedruckt ist. Es wird beschrieben, was auf dem Bild zu sehen ist, dazu wird die Bildunterschrift und ein Datum angegeben. Und auch hier sind wieder diese Einschränkungen: ein Bild zeigt immer mehr als das, was es abbildet. Auf dem ersten Bild ist nun die 16-jährige Rita Hellberg in ihrem Internat im Dezember 1961 zu sehen; das letzte Bild wird fehlen, es wurde „nachträglich entfernt“ und im November 1970 aufgenommen. Diese Bilder verstärken den Eindruck des genauen Beobachtens, sie transportieren eine äußere Entwicklung, die aber zugleich getragen wird von dem Eindruck und der Erinnerung, die erweckt werden sollen. Gerade auch durch die Beschriftungen, die mit dem Wissensstand der Lesenden oftmals eine weitere Bedeutungsebene haben.

Am Anfang jedoch geht es erst einmal um Rita, die von ihrem vier Jahre älteren Bruder Kai im Internat besucht wird, weil sie dort rausgeworfen wurde. Sie soll nun ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester nach Ägypten nachreisen. Dorthin ist Friedrich Hellberg gegangen – als deutscher Experte, der für die ägyptische Raketenforschung arbeitet. Wie viele andere Deutsche wurde der Flugzeugingenieur von der ägyptischen Regierung unter Nassar angeworben, um eine eigene Flugzeug- und Raketenindustrie aufzubauen.

Für Rita hat er eine Anstellung als Sekretärin in einer anderen Abteilung gefunden, sie steckt mittendrin im Raketenboom. Zunächst ist Ägypten für sie aber eine willkommene Abwechslung vom bundesrepublikanischen Mief der frühen 1960er Jahre: Sie genießt die Villa in Maadi, den mondänen Club mit Pool, Whiskeys auf der Terrasse des Nile Hilton. Sie fühlt sich freier als zuvor, ernst genommener und wird zusehends selbstbewusster. Jedoch muss sie auch erkennen, dass sie im Grunde genommen gar nicht weiß, in was sie geraten ist: Während ihr älterer Bruder Kai, der bei der Großmutter in Hamburg geblieben ist, in klarer Opposition zum Vater, dessen Vergangenheit in der NS-Rüstungsindustrie und seiner gegenwärtigen Arbeit in Ägypten steht, glaubt Rita anfangs die Beteuerungen der „German Experts“, dass es eine friedliche Forschung sei. Aber dann verschwinden Ingenieure, werden Briefbomben in die Labore geschickt und niemand weiß, ob der israelische Mossad oder ägyptische Mukhabarat dahintersteckt. Je länger Rita in Ägypten ist und je älter sie wird, desto klarer erkennt sie, dass sie sich früher oder später für eine Haltung in einer unüberschaubaren Welt entscheiden muss. Weiterlesen

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Kontaktversuche mit DHL

Sich über DHL aufzuregen, ist ja relativ leicht, aber ich habe großes Verständnis für überlastete und unterbezahlte Paketboten, die mir noch dazu sehr regelmäßig und sehr zuverlässig viele Buchpakete zustellen. Vorige Woche aber schien der übliche Paketbote nicht da zu sein, jedenfalls wurden drei Sendungen für mich in einem weit entfernten Paketshop abgegeben, obwohl es im Umkreis fünf andere Stellen gegeben hätte. Also habe ich mich dorthin aufgemacht, das Paket abgeholt und wollte die Sache eigentlich auf sich beruhen lassen. Kann ja mal vorkommen. Als ich von diesem Paketshop aber wieder nach Hause kam, war die nächste Benachrichtigungskarte im Briefkasten: Wieder wurde ein Paket in eben diesem Paketshop abgegeben, angeblich sei niemand zu Hause gewesen. Allerdings waren sowohl mein Mann als auch ich zu dem angegeben Zeitpunkt zu Hause. Es wurde noch nicht einmal geklingelt, geschweige denn der freigegebene Ablageort genutzt. Da habe ich mich geärgert und versucht, Kontakt zu DHL aufzunehmen, um zu fragen, ob ich bestimmte Abgabeorte ausschließen kann.

Zunächst bin ich auf die Webseite gegangen, habe ewig nach einem Kontaktformular gesucht, kurz gedacht, dass sie wirklich nicht wollen, dass jemand mit ihnen Kontakt aufnimmt, es aber dann aber doch gefunden und ausgefüllt. Ich hätte auch die Beta-Version des Chatbots genutzt, wenn sich mein Browser nicht aufgrund der mangelhaften Datenschutzeinstellungen geweigert hätte, diese Seite zu öffnen. Einen Tag später kam eine standardisierte Antwort per Mail mit der Bitte um mehr Informationen. Die sollte ich einfach als Antwort auf diese Mail schicken – und ab jetzt wird es wirklich absurd: als Antwortadresse war eine NoReply-Adresse angegeben, an die man – man sehe und staune – keine Antwort schicken kann. Wieder dachte ich, sie wollen nicht wirklich, dass man Kontakt mit ihnen aufnimmt. Dann habe ich auf Twitter nachgefragt, was ich nun machen soll. Da das am Gründonnerstag war, kam erst am heute und besagte, ich solle die Antwort an eine andere Adresse senden. Also schickte ich dorthin noch einmal alles, weil ich wirklich nicht mehr zu diesem Paketshop gehen will und wirklich viele Pakete bekomme. Daraufhin kam von dieser Adresse eine standardisierte Antwort, mein Anliegen könne nicht zugeordnet werden, ich solle bitte diesen Link klicken und ein Formular ausfüllen. Sie wollen offenbar wirklich nicht, dass man mit ihnen Kontakt aufnimmt! Aber ich kann wirklich hartnäckig sein. Also habe ich auf den Link geklickt, das Formular ausgefüllt und wollte es absenden – und … da kam die Antwort, es könne nicht abgesendet werden, die Ticketnummer sei ungültig. Es ist aber die einzige Ticketnummer, die ich habe. Und ehrlich gesagt, für ein mittlerweile privatisiertes Unternehmen, dessen Chef mal bei McKinsey war, sind das erstaunlich schlecht strukturierte Organisationsabläufe. Aber ich jetzt noch mal auf Twitter nachgefragt, was ich machen soll …

Update: Auf Twitter kam eine Antwort mit einer weiteren Mailadresse. Ich habe dorthin den gesamtem Mailverkehr geschickt, aber netterweise erwähnt, dass ich mittlerweile nicht mehr davon ausgehe, dass Mails gelesen werden und deshalb meine Frage wiederholt. Die wurde mir nun beantwortet: Man kann keine Abgabeorte ausschließen, aber bevorzugte Abgabeorte angeben. Kommunikation mit DHL klappt offenbar nur auf Twitter.

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Polizeiarbeit in Mexiko

Von der Polizei in Mexiko hat vermutlich fast jede:r ein bestimmtes Bild – egal, ob ein direkter Kontakt zu der Polizei oder gar ein Besuch in dem Land stattgefunden hat. Aber zahllose Kriminalerzählungen – unterstützt von Reportagen und Artikeln – verbreiten das Bild der korrupten, unfähigen, untätigen mexikanischen Polizei. Der mexikanischer Filmemacher Alonso Ruizpalacios hat nun einen Film über die mexikanische Polizei gedreht: A Cop Movie (Una película de policías).

(c) No Ficcion

Produziert wurde dieser Film mithilfe von Netflix, aber das sollte nicht in die Irre führen: Zwar beginnt A Cop Movie wie einer der vielen hart an der vermeintlichen Wirklichkeit operierenden Polizistenfilme, die dort zu streamen sind. Aber von Anfang an merkt man, dass hier etwas anders ist. Das beginnt schon mit dem ersten Ton. Zunächst wirkt es als würde eine Frau sehr laut schreien, dann wird dieser Schrei aber zu einem Sirenenklang. Die Kamera sitzt auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens, blickt nur durch die Frontscheibe. Zu hören ist der Funkverkehr, schließlich nimmt die Fahrerin des Fahrzeugs einen Ruf an und fährt zu einem Haus.

Und hier beginnt dann der zweite große Bruch: Zunächst einmal steht eine Polizistin in dem ersten Teil dieses Films im Mittelpunkt. Als sie vor dem Wohnhaus anhält, wird sie alles andere als freundlich begrüßt. Es ist eine feindliche, bedrohliche Atmosphäre, sie wird skeptisch beäugt. Tatsächlich liegen die Nerven der Bewohner blank: Sie warten seit Stunden auf einen Krankenwagen, nun kam anstatt der erhofften medizinischen Hilfe für eine schwangere Frau in den Wehen ein Polizeiwagen, den sie nicht gerufen haben. Teresa (Mónica Del Carmen) entschließt sich dennoch zu helfen. Sie weiß, dass sie ein Risiko damit eingeht, aber die Frau tut ihr leid. Damit endet diese Szene, die wie ein Thriller begann, mit einem Happy End und beinahe einer Unmöglichkeit in einem „Polizeifilm“. Eine gute Polizistin hat eine gute Tat vollbracht.

Von Teresa und ihren Weg zur Polizei erzählt das erste Kapitel dieses Films, der insgesamt aus fünf Kapiteln besteht. Auf sie folgt Montoya (Raúl Briones), der wegen seines Bruders zur Polizei gegangen ist. Auch Teresa folgte familiären Pfaden, bei ihr war es ihr Vater, der allerdings gegen ihre Entscheidung war. In der ersten Sequenz mit Montoya ist zu sehen, wie er Teresa von hinten berührt, an die Innenseite der Schenkel fasst. Und auch hier scheint man wieder seine Erwartungen von der sexistischen Polizei bestätigt zu sehen. Es stellt sich aber heraus, dass Teresa und Montoya nicht nur Kollegen sind. Sie haben sich im Dienst kennengelernt, galten dann als „love patrol“ und leben zusammen.

Es folgt ein weiterer Bruch in diesem Film: die Aufnahmen eines Gesprächs mit Teresa und Montoya muss unterbrochen werden, weil ein Generator ausgefallen ist. Die Schauspieler:innen machen Pause und der Film schwenkt zu einem anderen Thema: Wie bereiten sich Schauspieler:innen auf diese Rollen vor? In diesem Fall nun haben Del Carmen und Briones tatsächlich für drei Monate an der Polizeiausbildung teilgenommen und dabei mit ihren iPhones gefilmt, oft auch tagebuchartige Monologe, die hier montiert sind. Und damit hat dieser Film nun eine weitere Meta-Ebene erreicht: es ist nicht nur ein Film über die Polizei, sondern auch ein Film über einen Film über die Polizei.

Die Schauspieler:innen blicken wie die Figuren, die sie vorher gespielt haben, direkt in die Kamera. Sie erzählen von ihren eigenen Vorbehalten, ihren Erfahrungen. Schließlich kommen dann als weitere Ebene die Vorbilder für ihren Rollen hinzu und erzählen ihre Erlebnisse. Auch sieht man Del Carmen und Briones, wie sie die Erzählweise von Teresa und Montoya – den echten – einstudieren, damit sie genau so klingen.

Auf diese Weise gelingt Alonso Ruizpalacios ein sehr vielschichtiger Film, der sowohl mit dokumentarischen als auch fiktionalen Mitteln arbeitet – und zwar hier dezidiert eines Polizistenfilms, das hört man schon alleine an dem Score und sieht man in der Inszenierung der Polizeimomente. Zugleich aber greift sein Film das Misstrauen und den Argwohn gegenüber der mexikanischen Polizei auf und macht deutlich, wie schmal die Grenze zur Korruption in einem System ist, das durch und durch korrupt ist. Ein einfaches Beispiel dafür ist, dass die Polizist:innen den Kolleg:innen, die das Arbeitsmaterial ausgeben, Geld dafür geben müssen, eine gute schusssichere Weste, eine gute Waffe usw. zu bekommen.

Alonso Ruizpalacios macht nicht den Fehler, seine Protagonist:innen oder die Polizei zu romantisieren. Aber mit seiner Inszenierung – die seinem bei der Berlinale 2021 einen Bären für den besten Schnitt einbrachte – gelingt es ihm, das Bild der gesichtslosen korrupten Behörde zu durchbrechen und von den Menschen in dieser Behörde zu erzählen, ohne das System von Schuld freizusprechen. Ganz im Gegenteil: am Ende dann werden auch Teresa und Montoya genau die Folgen dieses Systems zu spüren bekommen.

Für die Montage hat Yibrán Asuad einen Silbernen Bären bei der Berlinale 2021 bekommen.

Die Kritik erschien zuerst bei Kino-Zeit.

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Über „Der Tausch“ von Julie Clark

„Sie ist eine Frau, die weiß, wie leicht ein Fünfzigtausend-Dollar-Teppich die Haut ihrer Wangen zerfetzen kann.“ Mit diesem Satz weiß man schon eine ganze Menge über Claire: Sie lebt in einem reichen Umfeld und wird offenbar misshandelt. Tatsächlich ist Claire mit einem kommenden US-Senator Rory Cook verheiratet, der Sprösslings einer „Politikerdynastie, die gleich nach den Kennedys kommt“. Aber hinter der glamourösen Fassade steckt ein kontrollsüchtiger Mann, der seine Ehefrau schlägt. Also will Claire dieses Leben hinter sich lassen, aber sie weiß, sie kann sich nicht einfach scheiden lassen. Stattdessen bereitet sie ihr Verschwinden minutiös vor, doch der sorgsam ausgearbeitete Plan geht in letzter Sekunde schief. Vielleicht ergreift sie deshalb die Gelegenheit, die sich ihr am Flughafen bietet: Sie trifft dort eine andere Frau, ähnlich verzweifelt wie sie – und Eva bietet ihr an, einfach die Tickets zu tauschen. Eva würde unter Claires Namen nach Puerto Rico reisen, Claire mit Evas Ticket nach San Francisco. Ein erster Schritt in ein neues Leben für beide Frauen. Tatsächlich sie sich auf diesen titelgebenden Tausch – aber Claire ahnt nicht, worauf sie sich eingelassen hat.

(c) Heyne

Insbesondere am Anfang ist „Der Tausch“ clever erzählt: Der Roman beginnt mit einem Prolog, in dem Eva aus Ich-Perspektive erzählt, wie sie am Flughafen steht und auf eine bestimmte Frau wartet. Danach springt die Handlung einen Tag zurück zu Claire, die ebenfalls aus Ich-Perspektive aus ihrem Leben und den Vorbereitungen zu ihrer Flucht erzählt. Im Folgenden dann wird Claire diese Perspektive beibehalten, unterbrochen von Kapiteln zu Eva, nun aber aus personaler Perspektive und weiter in der Vergangenheit spielend. Dadurch bewegen sich diese Kapitel zeitlich aufeinander zu, während Claire in der Erzählgegenwart versucht, einen Weg zu finden, ohne Ausweispapiere ein neues Leben zu beginnen, wird nach und nach Evas Vergangenheit erzählt. Dadurch steuern diese Kapitel auf den Moment zu, in dem sich ihre Wege kreuzen – das ganze Buch erzählt weit weniger von den Folgen des Tausches als von den Ereignissen davor.

Durch die Erzählperspektiven bleibt man stets näher bei Claire. Weiterlesen

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Glasgow in den 2000er Jahren – Über „Götter und Tiere“ von Denise Mina

Denise Mina hatte es lange Zeit schwer auf dem deutschsprachigen Buchmarkt: Sie war bei Droemer Knaur, ihre Reihen sind oftmals nicht in Chronologie erschienen und sie war mehr ein Geheimtipp. Bis zu bei Ariadne gelandet ist. Zunächst erschien erst 2018 das großartige „Blut Salz Wasser“, der fünfte Teil der Alex-Morrow-Reihe, dann 2019 der witzige, kluge, rasante Kriminalroman „Klare Sache“. Und 2020 ist dort „Götter und Tiere“ erschienen, der dritte Teil der Alex-Morror-Reihe – gewissermaßen eine wichtiger Lückenschluss, denn jetzt liegt die Reihe komplett in deutscher Übersetzung vor. (Die ersten beiden Teile „In der Stille der Nacht“ und „Blinde Wut“ sowie der vierte Teil „Das Vergessen“ sind bei Heyne erschienen.) Nun ist es nicht so, dass die Lektüre von „Götter und Tiere“ davon negativ beeinflusst wird – allerdings kann es am Ende passieren, dass man das unbändige Verlangen hat, nun „Das Vergessen“ doch noch einmal zu lesen – gerade wenn es doch schon ungefähr sechs Jahre hier ist, dass man das Buch gelesen hat.

„Götter und Tiere“ beginnt mit einem Raubüberfall in einer Postfiliale: Ein bewaffneter Räuber dringt in den Schaltraum ein. Ein älterer Mann, der mit seinem Enkel in der Schlange steht, scheint den Räuber zu erkennen. Er gibt seinen Enkelsohn dem Mann hinter ihm und wird erschossen. Alex Morrow ermittelt in diesem Fall, aber das ist nicht ihre einzige Sorge: Zwei Streifenpolizist*innen haben Schmiergeld angenommen. Dazu kommt – ganz dem Polizeiroman gemäß – ein dritter Handlungsstrang hinzu, der lange die anderen beiden nur tangiert: Der Labour-Lokalpolitiker Kenny Gallagher droht, wegen der „Affäre“ mit einer 17-jährigen Praktikantin seine Posten, seinen Einfluss und seine Ehe zu verlieren.

Denise Mina (c) Denise Mina

Diese drei Handlungsstränge ermöglichen Mina den Blick in sehr verschiedene Glasgower Milieus: der ermordete ältere Mann ist eine Arbeitergröße, ein alter Gewerkschafter, dessen Tochter mitsamt Sohn bei ihnen lebt. Sein Enkelsohn überlebt den Überfall auf dem Arm des jungen Mannes Martin Pavel, der vorgibt, Student zu sein, tatsächlich aber versucht, sein großes Erbe sinnvoll einzusetzen. Die Streifenpolizist*innen deuten auf die Korruption innerhalb der Polizei hin, die Ermittlungen gegen das organisierte Verbrechen in Glasgow zusätzlich verhindert. Der Lokalpolitiker indes kommt aus einem gehobenen bürgerlichen Haus, lebt scheinbar idyllisch mit Frau und zwei Kindern, glaubt stets klüger zu sein als alle anderen im Raum, ist aber im Grunde genommen ein armeseliger misogyner Wicht. Bemerkenswert ist wie Denise Mina schon lange vor #Metoo mit sexualisierter Gewalt umgeht. Die 17-jährige Praktikantin wurde von Kenny Gallagher nicht mit direkter Gewalt zum Sex gezwungen. Aber natürlich gibt es ein ungeheures Machtgefälle zwischen dem Politiker und der Praktikantin – ganz abgesehen davon, dass sie minderjährig ist und er erwachsen. Insbesondere in Bezug auf Kenny Gallagher wird deutlich, wie sehr sein Weltbild von einer abschätzigen Wahrnehmung von Frauen geprägt wird. Darauf muss Mina nicht mit dem Finger zeigen, sie markiert es mit den Worten, in denen er über Frauen denkt – als er eine Prostituierte in einem Hotelzimmer aufsucht, denkt er über sie als „es“, das er mehrfach durchficken wird.

Es ist dieser genaue Blick, die genaue Sprache, die kluge Wortwahl, die Minas Romane auszeichnet und „Götter und Tiere“ ist ein vielschichtiger, sorgfältiger und hochspannender Blick in die Stadt Glasgow der frühen 2010er Jahre. Es wird sehr deutlich, dass sich Kriminalität und Verbrechen überall findet, sogar in Morrows Familie: Ihr Halbbruder Danny McGrath ist einer der großen Gangsterbosse in Glasgow. Er sieht so manches, was Alex erst noch herausfinden muss. Und dazu gehört auch, wie einflussreich ihr Bruder tatsächlich ist. Aber dafür gibt es dann ja „Das Vergessen“.

Denise Mina: Götter und Tiere. Übersetzt von Karen Gerwig. Ariadne 2020.

In ihrem Vorwort weist Else Laudan auf die Seite Glasgow West End hin, auf der man Fotos zu der Gegend findet, in der der Roman spielt.

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Auf Wahrheitssuche – „Verweigerung“ von Graham Moore

Voriges Jahr erschien Jill Ciments Roman „Anatomie eines Prozesses“, in dem eine Geschworene von der Zeit erzählt, die sie in Abgeschiedenheit verbringen musste, während sie über die Schuld einer Angeklagten befinden musste. Dieser Roman ist kunstvoll gebaut, in ihm wird deutlich, wie abgekapselt die Geschworenen während eines Prozesses ist, wie eine eigene Dynamik unter diesen zufällig ausgewählten Menschen entsteht, die sehr viel Zeit miteinander verbringen müssen. Der tatsächliche Prozess, die Schuld oder Unschuld der Angeklagten gerät dabei zusehends in den Hintergrund und folgerichtig wird in diesem Roman nicht aufgeklärt, ob die angeklagte junge Frau tatsächlich für den Tod ihres Bruders verantwortlich ist.

Auch in Graham Moores „Verweigerung“ ist wiederholt zu lesen, dass die Wahrheit nicht so eindeutig ist, dass man mit Ungewissheit leben muss, dass Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit manchmal aus derselben Tatsache entspringen können. Vor zehn Jahren hat Maya maßgeblich dafür gesorgt, dass Bobby Nooke freigesprochen wird – sie war die Geschworene, die alle anderen von dem Freispruch aufgrund begründeter Zweifel überzeugt hat. Danach brach ein Sturm der Entrüstung über die Geschworenen ein, die Mehrheit der Gesellschaft war überzeugt, dass sie einen Schuldigen davonkommen haben lassen. Seither ist Maya Anwältin geworden, aber der Prozess hat sich auf ihr Leben und das der anderen Geschworenen vielfältig ausgewirkt.

Nun wird es zu dem zehnjährigen Jubiläum eine Sondersendung über die damalige Verhandlung geben, die maßgeblich auf einer Entdeckung basiert, die einer der damaligen Geschworenen gemacht hat, der seit zehn Jahren wie besessen in diesem Fall recherchiert. Aber vor der Enthüllung wird Rick tot aufgefunden – in Mayas Hotelzimmer. Da Maya und Rick damals eine Affäre hatten und sie nun kein Alibi vorweisen kann, wird sie des Mordes verdächtigt. Mittlerweile ist sie Strafverteidigerin, sie weiß also, wie sie sich zu verhalten hat. Eigentlich. Stattdessen aber macht sie sich daran, mit eigenen Recherchen ihre Unschuld zu beweisen und beginnt ihrerseits mit Ermittlungen in dem damaligen Fall.

Auf zwei Ebenen werden diese Fälle verhandelt: in der Gegenwart versucht Maya, Ricks Mörder zu finden, indem sie herausfindet, was er herausgefunden hat. Dazwischen geschaltet sind Kapitel, in denen sich die damaligen Geschworenen jeweils personal an den Prozess erinnern. Dadurch wird – wenngleich weitaus weniger eindringlich – deutlich, wie diese Erfahrung des Prozesses für sie war. Allerdings wird hier sehr viel mehr erklärt, während Ciment durch ihre Erzählhaltung und Sprache – bspw. waren die Geschworenen sehr lange nur Nummern – diese Erfahrung ausgedrückt hat. Vor allem aber wird aus diesem Gerichtsroman zusehends ein recht altmodischer Whodunit: Es gibt wie in den Agatha-Christie-Romanen eine bestimmte Anzahl Verdächtiger, von denen es am Ende auch jemand war, und natürlich nicht nur eine, sondern weil es ja um zwei Fälle geht, zwei Enthüllungen, die alles auf den Kopf stellen. Die in Ricks Fall ist durchaus überraschend, wenngleich die Hintergründe, nun ja …, die Enthüllung in dem damals verhandelten Fall ist indes sehr weit vorherzusehen.

„Verweigerung“ greift immer wieder Ungerechtigkeit und Rassismus im Justizsystem auf, ein wenig ergeht es Graham Moore dabei auch wie seiner Hauptfigur Maya: Vieles ist gut gemeint, aber lediglich solide gemacht. Es sind viele Erklärdialoge notwendig – und da ist dann doch schade, dass er am Ende seiner Leser*innen nicht wenigstens mit ein paar Ungewissheiten entlässt. Schließlich ist ja die Wahrheit alles andere als eindeutig.

Graham Moore: Verweigerung. Übersetzt von André Murmot. Eichborn 2021.

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