Bereits voriges Jahr hatte ich die Idee, einen Podcast zu starten – aber es hat alles ein wenig länger gedauert als ich dachte. Viel Arbeit, viel Erschöpfung. Nun aber ist heute die erste Folge von “Abweichendes Verhalten – Gespräche über Crime Fiction” gestartet. Ich rede mit Thomas Wörtche über Derek Raymond, den wir beide sehr schätzen, aber den nun einer von uns auch persönlich gekannt hat. Hören kann man den Podcast unter diesem Link, bei Spotiy, Apple Podcast, Overcast und vielen anderen Anbietern.
Jahresrückblick im CrimeMag
Bereits am 31.12. ist mein Jahresrückblick fürs CrimeMag erschienen, nun veröffentliche ich den Text auch hier – verbunden mit der großen Empfehlung, mal beim CrimeMag vorbeizuschauen. Der Mammut-Rückblick dort umfasst über 90 Texte u.a. von Andreas Pflüger, Ivy Pochoda, Liza Cody, Garry Disher, James Grady (der von “Drei Tage des Condor”), Frank Göhre, David Whish-Wilson, Regina Nössler, Matthias Wittekindt, Else Laudan, Thomas Wörtche, Alf Mayer undundund …
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Ich wäre gerne romcommunist. Auf Twitter habe ich geschrieben, ich sei es – aber bei genauerem Nachdenken muss ich zugeben: ich bin es nicht. Aber Ted Lassos unbeirrbarer Glaube, dass „everything’s gonna work out in the end“ hat mir nicht nur eine der schönsten Serienfolgen seit langem beschert, sondern auch eine Erkenntnis, die mir in den letzten Wochen des Jahres geholfen hat: Ich glaube zwar nicht daran, dass am Ende schon alles gut gehen wird. Aber ich will mich auch nicht einfach dem Zynismus oder Fatalismus ergeben. Ich mag meinen Idealismus, ich halte daran fest, ich will nicht verbittert durchs Leben gehen. Abgesehen davon ist die Serie „Ted Lasso“ tatsächlich sehr, sehr gute Unterhaltung mit sehr witzigen Anspielungen und guten Charakteren. Sie trifft in vielen – nicht allen – Belangen den richtigen Ton: bei den Absurditäten des Profifußballs, den Realitäten in zwischenmenschlichen Beziehungen und vor allem wie irritierend es sein kann, auf einen Menschen zu treffen, der alles positiv sehen will. Eine große Empfehlung!
Weitere gesehene Highlights in diesem Jahr: „Ich bin dein Mensch“, „Drive my Car“, „Summer of Soul“, „I May Destroy You“.
Lese-Erfahrungen in der gemachten Reihenfolge
Fotorückblick des Jahres 2021
Wie im vorigen Jahr mache ich wieder einen Fotorückblick (Anregung von joel.lu), dort sind auch die Regeln erklärt. Außerdem habe ich alle diese Fotos mit dem Mobiltelefon gemacht.
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
Die Jahres-Krimibestenliste 2021
Auch in diesem Jahr gibt es wieder eine Krimibestenliste für das Jahr 2021. Jedes Jury-Mitglied durfte vier Titel nennen – und das Ergebnis ist eine ganz schöne Mischung, in der viele den passenden Titel für sich finden dürften. Und erfreulicherweise sind fünf der zehn Titel von Autorinnen.
1 Merle Kröger: Die Experten. Suhrkamp
2 Tana French: Der Sucher. Scherz
3 David Peace: Tokio, neue Stadt. Liebeskind
4 Colin Niel: Nur die Tiere. Lenos
5 Elizabeth Wetmore: Wir sind dieser Staub. Eichborn.
6 Johannes Groschupf: Berlin Heat. Suhrkamp
7 Garry Disher: Moder. Pulp Master
8 Viet Thanh Nguyen: Die Idealisten. Blessing
9 Patrícia Melo: Gestapelte Frauen. Unionsverlag
10 Samantha Harvey: Westwind. Atrium
Eine längere Einschätzung der Liste sowie ein PDF finden sich auf der Seite von Jurysprecher Tobias Gohlis.
Über „Die Stadt, das Geld und der Tod“ von Frank Göhre
Da ist die Stadt. Hamburg. Oder genauer Hamburg Anfang des 21. Jahrhunderts. Und da ist der Tod, zumindest der erste: der 16-jährige Sohn von Ivo stirbt an einer Überdosis im Park. Das Geld aus dem Titel von Frank Göhres Kriminalroman könnte nun natürlich das Drogengeld meinen, das diesem Tod unweigerlich vorausgegangen ist. Aber Geld ist hier letztlich die Triebfeder für alles und jeden.
Es ist dieser erste Tod, der das feinmaschige Netz der Geschäftsbeziehungen zwischen Hamburger Halb- und Geschäftswelt ins Wanken bringt: Ivo hat noch im Gefängnis erfahren, dass sein Sohn gestorben ist, und will nach seiner Freilassung herausfinden, wen er für diesen Tod verantwortlich machen kann. Denn irgendwo muss er hin mit seinen Gefühlen. Ivo ist auch der getreue Gefolgsmann des Immobilienunternehmers Nicolai Radu, der wie Ivo aus Rumänien kommt. Radu ist eine Größe des organisierten Verbrechens wie der feinen Gesellschaft. Aufgestiegen ist er im Kiez, dann hat er die Tochter eines Kaffeegroßhändlers geheiratet und nun spielt er Poker mit Männern mit Beziehungen. Nicolai weiß, wie Ivos Sohn gestorben ist. Aber allen Treueschwüren zum Trotz wird er es Ivo, der immer für ihn geschwiegen hat, nicht sagen. Es steht seinen Geschäftsinteressen entgegen. Im Verbrechen wie im Kapitalismus gelten dieselben Regeln: Freundschaft und Loyalität gibt es nur, solange sie nicht verhindern, noch mehr Geld zu machen.
Diese Austauschbarkeit von Geldadel und Kriminalität ist der Subtext dieses Romans. Korruption, Gier und Egoismus sind in dieser Gesellschaft keine Sensationen mehr, sie sind Fakten. Verbrechensromantische Vorstellungen werden oberflächlich noch bedient, dienen lediglich als Schmiermittel, das den Laden am Laufen und manche kleineren Lichter bei der Stange hält.
Göhre erzählt in seinem einzigartig konzentrierten, präzisem Stil die Geschichte eines Gangsters – typischer Noir-Stoff also – die aber so nur im Hamburg der Gegenwart spielen kann. Alles ist großartig verdichtet und exakt beobachtet – von der Montage des Finales bis zur Wahl der Radiosender der jeweiligen Figuren mitsamt der Musik, die dort gespielt wird. Oder die präzise Beschreibung „Pinkeljazz“ (die zumindest ich fortan in meinen aktiven Wortschatz übernehme). Dazu kommen diese besonderen kleinen unvergesslichen Momente, in denen zwei Menschen, die ein wenig am Rand stehen und von anderen für selbstverständlich genommen werden, eine für sie ideale Bindung eingehen, eine Art Nähe erleben und sei es auch nur für kurze Zeit. Das alles ist Teil des einzigartigen Göhre-Sounds.
Frank Göhre: Die Stadt, das Geld und der Tod. Culturbooks 2021. 159 Seiten. 15 Euro.
Harry Bosch und #Metoo
„Bosch“ ist nun „auch noch ‚woke‘‘‘ konstatiert eine Amazon-Bewertung zu der letzten Staffel der Serie mit Harry Bosch. Tatsächlich zeigt sich das nicht nur bei der Streamingserie, für die die Bewertung abgegeben wurde, sondern auch in „Night Team“, dem zweiten Fall mit Renée Ballard, der neuen Ermittlerin von Bosch-Erfinder Michael Connelly. In beiden Werken wird versucht, auf gesellschaftliche Veränderungen insbesondere durch #Metoo sowie die veränderte Wahrnehmung der Polizei zu reagieren. Das ist insbesondere deshalb interessant, weil Connellys Bosch natürlich von einer gewissen Polizei-Romantik lebt: Harry Bosch ist der aufrechte Cop in einer korrupten Stadt. Auch er hat immer wieder mit korrupten Kolleg*innen zu tun gehabt, dennoch aber stehen er und seine Kolleg*innen für das Gute in der Polizei. Boschs Motto ist „Everybody counts or no one counts“ – und genau das erhofft man sich von Strafverfolgungsbehören und danach hat Bosch immer schon gehandelt.
In der Fernsehserie hat bereits die vierte Staffel (meines Erachtens die beste der gesamten Serie) gezeigt, dass sich Harry Boschs Motto auf die Polizei erstreckt. Dort wurde der Anwalt Elias ermordet, der Fälle von Polizeigewalt vertreten hat. Bosch hat nicht nur versichert, er werde den Fall aufklären, sondern die Täter verhaften, auch wenn es Polizisten sind. Ganz nebenbei wird bemerkt, dass es gegen Bosch zwar schon allerhand Verfahren gab, aber noch wegen ungerechtfertiger Gewaltanwendung ermittelt wurde.
Dennoch hatte Boschs Auffassung von Gerechtigkeit schon immer blinde Flecken: Gerechtigkeit war das, was er dafür hält; er entscheidet, für wen er sich einsetzt und welche Regeln er überschreitet. Dass Regeln und Vorschriften grundsätzlich auch etwas Gutes haben können, sieht er nicht. In der neuen Staffel wird das besonders deutlich, als er noch nicht einmal in Erwägung zieht, dass die Argumentation des FBI standhält: dass die Verhaftung vieler Mitglieder eines Kartells mehr für das Gemeinwohl tut als die Anklage eines Einzelnen für den Auftrag, einen Brand zu legen, bei dem zwei Frauen und ein Kind gestorben sind. Alles in der Serie läuft darauf hinaus, dass es um Gerechtigkeit insbesondere für dieses zehnjährige Mädchen gehen muss. Die vielen Toten, die sonst auf Rechnung der Gangs gehen, wiegen dieses personalisierte Verbrechen nicht auf – sie können gar nicht mithalten mit dem Tod eines Kindes. Die zynische Ausgangsbasis, Menschenleben gegeneinander aufzurechnen, wird hingenommen. Weiterlesen
Women in Crime: „The Chocolate Cobweb” von Charlotte Armstrong
Es ist das Los Angeles der späten 1940er Jahre, das Los Angeles von Raymond Chandler, von Dorothy B. Hughes‘ „In a lonely place“, das Los Angeles, das ich aus zahlreichen Film noir zu kennen glaube, in dem Charlotte Armstrongs „The Chocolate Cobweb“ spielt. Doch ist es ganz anders, nicht düster und und heruntergekommen, sondern strahlend hell. Und nicht nur der Ort, auch die Figuren sind andere.
Durch eine Bemerkung ihrer Tante hat die 23-jährige Amanda Garth erfahren, dass es bei ihrer Geburt einen kurzen Moment der Verwirrung gab: Im selben Krankenhaus hat zur selben Zeit Belle Garrison entbunden – und für einen kleinen Moment wusste man nicht, wessen Kind zu wem gehört. Aber Amandas verstorbener Vater hatte aufgepasst, er wusste genau, wer seine Tochter ist. Dennoch gibt sich Amanda den Gedanken hin, was wäre, wenn diese Verwechslung stattgefunden hätte. Ihr Vater wäre dann Tobias Garrison, ein berühmter Maler, dessen Bilder – insbesondere das berühmte „Belle in the Doorway“ gerade in Los Angeles zu sehen sind. Amanda studiert Kunst und sie glaubt zwar nicht ernsthaft daran, dass sie nicht die Tochter ihrer Eltern ist, fasst aber den Entschluss, die Garrisons aufzusuchen.
Tatsächlich erinnert sich Tobias Garrison an diesen Moment im Krankenhaus und ist neugierig auf Amanda. Auf diese Weise erhält sie Zugang zu der Familie und dem verwickelten Haus am Hang des Canyons. Belle Garrison ist verstorben, Tobias hat abermals seine erste Ehefrau Ione geheiratet, auch sein Sohn Thone ist derzeit zu Besuch. Dann bemerkt Amanda durch ein Versehen etwas, was die Leserin längst weiß: Ione will Thone vergiften, aber Amanda ist ihr in die Quere gekommen. Fortan sieht es Amanda als ihre Aufgabe an, Thone zu beschützen – und was könnte ein besserer Schutz sein als Ione glauben zu machen, Tobias hat womöglich eine Tochter, die das Familienvermögen erben könnte.
Auf den ersten knapp 70 Seiten ist bereits vieles enthüllt: die Geschichte einer möglicherweise folgenreichen Verwechslung, die Identität der Mörderin, die Tat, die sie begehen will sowie die Tat, die sie schon begangen hat. Dazu kommt der Schatten einer verstorbenen Ehefrau – festgehalten auf einem Porträt – und alles spielt in dem verwinkelten Haus einer offensichtlich wohlhabenden (weißen) Familie. Die Spannung aber lässt nach den ersten 70 Seiten keinesfalls nach, im Gegenteil: „The Chocolate Cobweb“ entwickelt sich zu einem sehr leisen, sehr bestechenden Pageturner, der mit einer Handvoll Personen und einem Handlungsort auskommt.
Das liegt insbesondere an den ausgefeilten Charakteren: Jede Figur hat ein Handlungsmotiv und Hintergrund, ohne dass es allzu ausführlich erzählt wird. Die Männer in diesem Buch – Thone und Tobias – stehen dabei vor allem am Rande und sehen zu, wie ihre Vorstellungen von Männlichkeit, vom Beschützen und Retten nach und nach zerplatzen. Die handlenden Figuren sind indes Amanda und Ione – zwei Frauen aus verschiedenen Generationen und Klassen. Immer wieder lässt Armstrong erkennen, wie verschiedene ihre Handlungsräume allein deshalb sind: Alles, was Ione hat, ist ihr Ehemann und ihre Eifersucht. Sie konnte nicht ertragen, dass Tobias eine andere Frau liebt; nun will sie deren Geld haben und den Sohn loswerden. Amanda indes will mehr als einen Ehemann von ihrem Leben – was genau das sein könnt, weiß sie indes noch nicht. Sie wird in „The Chocolat Cobweb“ mal als Amanda und mal als Mandy bezeichnet, gelegentlich wechselt die Anrede sogar innerhalb desselben Satzes. In seinem Vorwort sieht A.J. Finn darin Ausdruck ihres Coming-of-Age – ihren „tug-of-war between post-teenage adolescence and womanhood”. Jedoch ist es kein Ringen, es ist eine Suche. Im zweiten Kapitel konstatiert sie, dass sie noch niemals in ihrem Leben verliebt war – aber das ist kein theatralisches Seufzen, es ist mehr eine Feststellung ebenso wie sie weiß, dass ihr momentaner Verehrer mehr Gefühle für sie hat als sie für ihn, aber in jedem Fall eine gute Wahl wäre. Weiterlesen