Krimi-Kritik: „Ausbruch“ von Dominique Manotti

Zu den Aufgaben des Häftlings Filippo Zuliani gehört das Reinigen des Raums, in dem die Müllcontainer des Gefängnisses stehen. Dann sind eines Tages nicht nur die Container nicht geleert, sondern er sieht auch, dass sein einziger Freund, der politische Gefangene Carlos, sich in den Containern versteckt, um auf diese Weise zu fliehen. Kurz überlegt Filippo, dass ihm erstens vermutlich eine Mitschuld an der Flucht zugeschrieben werden wird und er zweitens ohne Carlos die restlichen 410 Tage seiner Haft nicht durchstehen wird. Also springt er spontan hinterher – und dieser Sprung in die klebrige, breiige, faulige und kratzige Müllmasse ist der Anfang eines neuen Lebens.

(c) Argument Ariadne

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Kurze Zeit später lässt Carlos Filippo mit etwas Geld, sauberen Klamotten und der Adresse seiner Freundin Lisa in Frankreich zurück, um mit seinen beiden Komplizen seinen ursprünglichen Plan zu verfolgen. Also Filippo zieht durch die Berge in Richtung Norden, erfährt in der Zeitung von Carlos’ Tod und macht sich schließlich gen Frankreich auf. Hier begegnet er Lisa – und mit ihnen treffen zwei grundverschiedene Bilder von Carlos aufeinander. Für Filippo war er Freund und Vertrauter, sie sind sich in der Haft nähergekommen, dabei hat er stets bewundernd zu dem Revolutionär aufgeblickt. Auch Lisa hat ihn einst bewundert, sich dann in ihn verliebt und glaubt seither, dass sie ihn als einzige wirklich kennt. Verständlicherweise kommen sie also nicht gut miteinander aus. Denn neben dem politischen Thema – die roten Brigaden in Italien und Frankreich sowie das Verhältnis dieser Länder – geht es in diesem eindrucksvollen Roman von Dominique Manotti auch um Selbst- und vor allem Fremdwahrnehmung. Deshalb ist „Ausbruch“ immer noch ein politischer Kriminalroman, aber im Vergleich zu ihren anderen Werken weitaus spielerischer. Es geht um Idole, Verklärung, dem unbeirrbaren Drang nach Mythos und Wahrheit. Nicht von ungefähr erinnert Carlos auch an Ilich Ramírez Sánchez alias Carlos alias „Schakal“, der einst die OPEC-Geiselnahme in Wien durchgeführt haben und mit dessen Legendenbildung sich zuletzt der zweiteilige Film von Olivier Assayas auseinandergesetzt hat.

Dabei stellt Dominique Manotti diesen romantischen Konzepten von Freiheitskämpfern und Brigaden eine Satire auf den Literaturbetrieb an die Seite, in der die Pressereferentin und Anwalt des Verlags noch nicht einmal einen Namen erhalten. Ihr alleiniges Ziel ist, Filippos Buch zu einem Erfolg werden zu lassen – und er ist dankbar für jeden Hinweis, durch den er den kulturbetrieblichen Vorstellungen eines Ex-Terroristen besser entsprechen kann. Denn dann wird sein Buch ein Bestseller und er könnte Literaturpreise einheimsen. Denn schließlich hat seine Karriere als Autor doch so wunderbar romantisch allein im Dunkeln begonnen!

Dominique Manotti: Ausbruch. Übersetzt von Andrea Stephani. Argument Ariadne 2014.

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Krimi-Kritik: „Ein Licht im Zimmer“ von Matthias Wittekindt

Merkwürdige Dinge geschehen in der kleinen Hafenstadt Bauge in der Bretagne: Ein abgetrenntes Bein wird gefunden, später wird eine Frau im Park überfallen. Für die Anwohner stehen schnell die Chinesen als Verdächtige fest, die an der Küste das verhasste Strömungskraftwerk bauen. Und da die Leiterin des Reviers gerade in einer psychiatrischen Klinik behandelt und eine Eskalation der Situation befürchtet wird, landet Sergeant Ohayon aus Fleurville in der trüben Stadt am Meer. Die drohende Depression bekämpft er mit Orangensaft, gegen die Kälte kauft er sich einen roten Blouson, und dann versucht er in aller Ruhe den Beziehungen und Verbindungen in dieser kleinen Stadt nachzuspüren.

(c) Edition Nautilus

(c) Edition Nautilus

Dort ist es grau, meist nieselt es – und ebenso leise, langsam und schwer zu durchschauen ist dieser Roman. Scheint Ohayon anfangs nach einem Serienmörder zu suchen, bekommt er es schon bald mit einem Buchclub, verschwundenen Jugendlichen und einem Unfall mit Fahrerflucht zu tun. Dabei sind die Taten ebenso wie die Ermittlungen unspektakulär, fast beiläufig fügen sich Details zusammen. Die Familien, denen Ohayon während seiner Nachforschungen begegnet, scheinen austauschbar, die Perspektiven wechseln, nicht alles wird bis ins letzte auserzählt. Teilweise passt es ganz gut – insbesondere bei dem Handlungsstrang um die Mädchen –, bei anderen verbleibt es bei Beobachtungen und Details, die dann letztlich doch keine Bedeutung haben. Die Sicht ist ein wenig verstellt, fast als versuche man durch eine Brille bei Nieselregen zu schauen. Aber ebenso wie Ohayon entwickelt man beim Lesen ein Interesse an den Vorgängen dieser Stadt, an der Komplexität der Verbindungen und Beziehungen. Deshalb ist es letztlich nicht wichtig, dass die Suche nach dem Hammermörder nur ein kleiner Nebenhandlungsstrang ist und die Aufklärung recht unspektakulär vonstattengeht, vielmehr verweilt man einfach an diesem Ort an der französischen Küste.

„Ein Licht im Zimmer“ ist der dritte Roman mit Sergeant Ohayon, für mich war es die erste Begegnung mit ihm. Dabei erinnerte er mich ein wenig an Kommissar Adamsberg, seine Verlorenheit in scheinbar unbedeutenden Details, an die Wolkenschaufelei des Kollegen – allerdings hat Ohayon ein funktionierendes Privatleben und eine Art Pragmatismus, die dem berühmteren Kollegen fehlt, er ist zudem weniger intellektuell und genial veranlagt hat.

Matthias Wittekindt: Ein Licht im Zimmer. Edition Nautilis 2014.

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Skandinavische Filme auf der Berlinale 2015

Am Donnerstagabend wird die 65. Berlinale mit Isabel Coixets Film „Nobody wants the night“ eröffnet – und auch ich werde in diesem Jahr vor Ort sein und so viele Filme wie möglich sehen. In der Hauptsektion des Wettbewerbs ist in diesem Jahr leider kein Film aus Skandinavien dabei, obwohl ich ein wenig auf Vinterbergs neuen Film gehofft hatte. Aber in den Nebensektionen sind einige Beiträge zu finden.

 

„Mot naturen“ von Ole Giæver

201507542_1_IMG_FIX_700x700Sehr freue ich mich auf den norwegischen Film „Mot naturen“, auf den ich ein Auge geworfen habe, seit ich das Plakat des Films das erste Mal gesehen habe. In dem Film erzählt Regisseur Ole Giæver von dem 36-jährigen Martin, der ein Wochenende in den Bergen verbringt und sich dabei Gedanken über sein Leben macht. Zur Kritik.

 

„Dyke Hard” von Bitte Andersson

© Nicklas Dennermalm

© Nicklas Dennermalm

Ebenfalls im Panorama läuft Bitte Anderssons Spielfilmdebüt „Dyke Hard, ein schwedisches „Action Comedy Sci-Fi Musical“ über eine lesbische Rockgruppe, die sich nach oben schlagen will. Mit der Hilfe eines Thaiboxers. Der Film wurde nach Aussage auf der Webseite von einer Gruppe „film nerds in love with trash“ gemacht – und könnte ein großer Spaß werden. Zur Kritik.

 

„Misfits“ von Jannik Splidsboel

© Henrik Ipsen

© Henrik Ipsen

In Tulsa, Oklahoma gibt es 400.000 Einwohner, mehr als 4000 Kirchen und ein schwul-lesbisches Jugendzentrum. Dort treffen sich Jugendliche, die schwul, lesbisch oder transidentisch leben wollen – im amerikanischen „bible belt“.

In seinem dänisch-schwedische Dokumentarfilm „Misfits“ hat Jannik Splidsboel drei Jugendliche in ihrem Alltag begleitet und zeigt Vorurteile, aber auch bedingungslose Unterstützung. Zur Kritik.

 

„Fassbinder – Lieben ohne zu fordern“ von Christian Braad

(c) Dino Raymond Hansen

(c) Dino Raymond Hansen

Der dänische Filmhistoriker Christian Braad war ab 1969 mit Rainer Werner Fassbinder befreundet und hat mit „Fassbinder – Lieben ohne zu fordern“nun  eine Hommage an den Regisseur gedreht, die auf Gesprächen und Interviews basiert. Dabei soll dieser Dokumentarfilm laut Pressetext von „der anhaltenden Aktualität von Mensch und Werk“ zeugen und zur „ästhetischen, kreativen und kritischen Auseinandersetzung“ herausfordern. Mein Kollege Patrick Wellinski war begeistert.

 

„Sume – Mumisitsinerup Nipaa“ von Inuk Silis Høegh

© Jørgen Bovin

© Jørgen Bovin

Und außerdem läuft im Panorama noch der Dokumentarfilm „Sume – Mumisitsinerup Nipaa“, in dem der grönländische Regisseur Inuk Silis Høegh den Einfluss der Rockband Sumé auf den grönländischen Kampf für Autonomie untersucht. Ihre Lieder wurden der Soundtrack der ersten Jugendproteste gegen die Verwaltung durch Dänemark. Dabei haben sie sich selbst in Dänemark zusammengefunden – Malik Høegh und Per Berthelsen studierten in Kopenhagen und gründeten dort die erste Rockband, die auf Gröndländisch sang.

 

„The Look of Silence“ von Joshua Oppenheimer

© Lars Skree

© Lars Skree

Als Berlinale Special läuft „The Look of Silence“, gewissermaßen das Gegenstück zu „The Act of Killing“. Nachdem sich Joshua Oppenheimer dort mit den Tätern beschäftigt hat, die im Auftrag des indonesischen Militärregimes mordeten, geht es in „The Look of Silence“ um die Angehörigen der Opfer.

 

„Virgin Mountain“ von Dagur Kári

© Rasmus Videbæk

© Rasmus Videbæk

Außerdem wird in dieser Reihe noch „Virgin Mountain“ von Dagur Kári zu sein, in dem der isländische Regisseur von dem Gepäckfahrer Fúsi erzählt. Zur Kritik.

 

Kinder- und Jugendfilme

Traditionell finden sich auch wieder einige skandinavische Kinder- und Jugendfilme in der Generation Kplus und Generation 14plus.

In dem schwedischen Film „Flocken“ erzählt Regisseurin Beata Gårdeler von den Folgen eines Vergewaltigungsvorwurfs in einem schwedischen Dorf. Zur Kritik von Rochus Wolff.

In „Min lilla syster“ dreht sich alles im Stella, die einsehen muss, dass ihre bewunderte große Schwester an einer Essstörung leidet. In dem Film hat Sanna Lenken Regie geführt.

Der dänische Animationsfilmer Jannik Hastrup erzählt in „Cykelmyggen og Minibillen“ von dem Käfer Mini, der auf eine abenteuerliche Reise geht.

Sehnsüchtig erwartet wird zudem die Fortsetzung von „Antboy“, die in Berlin ihre Premiere feiert. In „Antboy: Den Røde Furies Hævn“ wartet ein neues Abenteuer auf den Superhelden. Rochus Wolff hat den Film gesehen.

Weltpremiere feiert außerdem „Cirkeln“, die Verfilmung des gleichnamigen Erfolgsromans, in dem sich sechs jugendliche Hexen zusammenschließen, um die Welt zu retten.

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Krimi-Kritik: „Die Farm“ von Max Annas

(c)diaphanes

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Bereits im ersten Absatz fällt der erste Schuss in Max Annas‘ „Die Farm“. Gerade noch stand Franz Muller neben dem Vertreter Kobus Print und sagte den ominösen Satz „Ich bin ja kein Rassist“, (…), „Aber …“ als es „plopp“ machte und der Vertreter auf den Boden sank. Dieser Schuss ist erst der Anfang einer neunstündigen Belagerung von Mullers Farm, die ihn zusammen mit seiner Familie, einer Nachbarin, einem Polizisten sowie seinen Arbeitern im Farmhaus einkesselt. Neun Stunden, in denen einige Menschen sterben. Neun Stunden, in denen sich jeder fragt, welche Gründe es für die Belagerung gibt. Und neun Stunden, bis die Polizei ahnt, dass auf der Farm etwas vorgehen könnte.

Die Ausgangssituation von „Die Farm“ erinnert an John Carpenters „Assault on Precint 13“, der wiederum eine Hommage an Howard Hawkes „Rio Bravo“ ist: Es kommt zu der Belagerung eines Gefängnis („Rio Bravo“), einer Polizeistation („Assault on Precint 13“) oder einer Farm und aufrechte Männer versuchen, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Leben zu retten bis Hilfe kommt. Allerdings ist Franz Muller alles andere als aufrecht und unbescholten. Er ist ein weißer Farmbesitzer in Südafrika und schon das im ersten Absatz angefügte „aber“ verweist deutlich darauf, dass er ein Rassist ist. Für ihn gibt es eine gesellschaftliche Ordnung, die seit dem Ende der Apartheid aus den Fugen geraten ist – und wenngleich er es nicht gerne zugibt, fühlt er sich von seinen schwarzen Arbeitern bedroht. Deshalb weigert er sich sogar in der Belagerungssituation lange, ihnen ebenfalls Waffen auszuhändigen.

Lange glaubt Muller, es könnte einen Grund für die Belagerung geben, die mit ihm oder seiner Position als weißer Farmer zusammenhängt. Daneben haben aber auch die im Haus Festsitzenden verschiedene Gründe zu der Annahme, sie hätten diese Situation verursacht. So hat Mullers Sohn die Tochter eines Arbeiters vergewaltigt und Mullers Vorarbeiter half einst bei dem Verscharren einer Leiche. Dadurch gibt es bereits innerhalb des Hauses zwei Spannungsfelder: Was wollen „die da draußen“? Und: Wie sicher sind wir „hier drinnen“? Hinzu kommt die Situation der „da draußen“, die im Gegensatz zu Carpenters Film durchaus geschildert wird. Sie sind überrascht von der Gegenwehr, die aus dem Haus kommt, und bald zeigt sich zudem, dass ihr Vorgehen nicht gut genug geplant ist.

(c) Max Annas

(c) Max Annas

Dennoch ist „Die Farm“ keine Hommage an Carpenters Film. Max Annas nutzt die bekannte Ausgangssituation und erzählt auf 188 Seiten in kurzen, mit Zeitangaben übertitelten Abschnitten zum einen vom Alltag in Südafrika, in dem Farmen überfallen werden – und je entlegener die Farm, desto besser scheint sie sich zu eignen. Zum anderen zeichnet er anhand des Mikrokosmos einer Farm ein Bild von der Schieflage der südafrikanischen Gesellschaft. Dazu gehören Rassismus, der Hass der Schwarzen auf die Weißen und vor allem eine historisch bedingte, strukturelle Ungleichheit, auf die auch Jahrzahnte nach Ende der Apartheid keine Antwort gefunden wurde.

Und daneben ist noch etwas (leider) bemerkenswert: Die mutigste Person in „Die Farm“ ist eine Frau. Bereits Carpenter hat mit der Polizeisekretärin Julie (Nancy Loomis) eine tolle Figur geschaffen, die selbständig und besonnen handelt, aber gelegentlich Unterstützung von dem Gangster braucht und auch als love interest fungiert. Bei Max Annas ist die religiöse Nachbarin Jayne McKenzie schlichtweg die cleverste und vernünftigste Person im Haus, die Entscheidungen trifft und stark ist. Einfach so. Weil sie es kann.

Max Annas: Die Farm. Diaphanes 2014.

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Wort und Tat

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Jüdisches Leben – Über „Sangre Kosher“ von María Inés Krimer und „Get – Der Prozess der Viviane Amsalem“

Manchmal gibt es großartige Zufälle. Bereits im Oktober letzten Jahres habe ich einen Screener zu dem israelischen Film „Get – Der Prozess der Viviane Amsalem“ bekommen, den ich für kino-zeit.de besprechen sollte. Aber dann wurde der Starttermin verschoben, also lag der Film (wie so oft) einige Wochen hier, bevor ich ihn Anfang Januar tatsächlich gesehen habe. In derselben Woche las ich dann das Buch „Sangre Kosher“ von María Inés Kirmer, das ebenfalls schon einige Zeit auf meinem Lesestapel verbracht hat. Das eine ist nun ein formal strenger Film, das andere ein trockenhumoriger Kriminalroman, in ersteren geht es um eine Verhandlung vor drei Rabbinern, in zweitem um eine verschwundene junge Frau. Beide thematisieren jedoch auf höchst unterschiedliche, aber ähnlich nachdrückliche Art und Weise die Stellung der Frau im Judentum.

Die Macht des Mannes

Viviana Amsalem (Ronit Alkabetz) (c) Salzgeber Film

Viviana Amsalem (Ronit Alkabetz) (c) Salzgeber Film

Ausgangspunkt des Films der Geschwister Ronit und Elkabetz ist der Versuch von Viviana Amsalem, den Get, den Scheidungsbrief zu bekommen. In Israel gibt es keine staatliche Ehe, deshalb gelten bei einer Scheidung allein religiöse Gesetze, die eine Zustimmung des Ehemanns zwingend vorsehen. Obwohl Viviane schon längere Zeit von ihrem Ehemann Elisha getrennt lebt, verweigert er ihr diese Zustimmung. Also versucht Viviane ihn mittels einer Anhörung vor drei Rabbis zu überzeugen, der Trennung zuzustimmen. Anfangs sind die Rabbis eher daran interessiert, den jüdischen Haushalt aufrechtzuerhalten, sie sehen im Verlauf des fünfjährigen Prozesses aber ein, dass diese Ehe geschieden werden sollte. Jedoch scheitern auch sie an der Starrsinnigkeit des Mannes. Damit untermauert der Film eindrucksvoll, welche unvorstellbare Machtposition der Mann in dieser Situation hat – und erzählt von dem Kampf einer Frau um ihre Freiheit.

Die Stellung der Frau

(c) diaphanes

(c) diaphanes

Letztlich erringt Viviana Amsalem ihre Freiheit nur, indem sie einen Teil ihrer Selbstbestimmung aufgibt. Dabei steht der Film eindeutig auf ihrer Seite, verweigert sich aber einer Schwarzweiß-Zeichnung, sondern weist auf die Auswirkungen dieser Regelung hin. Ähnlich differenziert beleuchtet María Inés Krimer das jüdische Leben in Buenos Aires. Die pensionierte Archivarin und Hobby-Detektivin Ruth Epelbaum wird von dem Juwelier Chiquito Gold beauftragt, dessen Tochter Debora zu suchen. Ruth befürchtet, das schöne Mädchen könnte von der Zwi Migdal entführt worden sein, einer Geheimgesellschaft, die sich in den 1930er Jahren mit Menschenhandel und Prostitution von Frauen aus den osteuropäischen Schteteln finanzierte und deren Aktivitäten eigentlich als beendet gelten. Jedoch hat Ruth schon länger den Verdacht, dass die Zwi Migdal weiterhin im Verborgenen agiert. Sie recherchiert, fragt nach und entdeckt schließlich, was und wer hinter dem Verschwinden von Debora steckt. Dabei sinniert sie unter anderem über die Natur der Männer der Zwi Migdal. „Dass die Zuhälter keinerlei Hemmungen zeigten, Frauen aus ihrer eigenen Gemeinschaft auszubeuten, musste auch mit der Stellung der Frau in ihrer Religion – in der Synagoge – zu tun haben.“ Im orthodoxen Judentum agieren Frauen und Männer getrennt, beim Gottesdienst sitzen die Frauen auf der Empore – und um die Scheidung zu erlangen, ist die Zustimmung des Mannes erforderlich.

Maria Inés Krímer (c) Alejandro Guyot

Maria Inés Krímer (c) Alejandro Guyot

Mit Ruth Epelbaum hat María Inés Krimer eine wunderbar unaufgeregte Hauptfigur mit einer Schwäche für Bonbons und Kontaktanzeigen geschaffen, die ihre Fälle bei einem Tee mit ihrer Haushälterin überdenkt – und dennoch alles andere als betulich ist. Sie macht sich keine Illusionen mehr vom Leben, stattdessen stürzt sie sich mit trockenem Humor und recht viel Glück in die Nachforschungen, durch die in „Sangre Kosher“ ein Kriminalfall mit Überlegungen zur Geschichte und Gegenwart der jüdischen Gemeinde in Argentinien verbunden werden. Dabei werden in diesem Roman – ungeachtet ihrer offiziellen Stellung – alle wichtigen Hinweise und Handlungen von Frauen gegeben bzw. durchgeführt. Die Männer hingegen agieren meist im Verborgenen oder sind ein One-Night-Stand. Denn ebenso wie Viviana Amsalem hat auch Ruth Epelbaum die Regeln verinnerlicht, sich aber innerhalb dieses Rahmens einen eigenen Raum geschaffen. Und von ihrem Mann ist sie schon lange getrennt.

„Get – Der Prozess der Viviana Amsalem“ startet am 15.01. in den Kinos.

María Inés Kirmer: Sangre Kosher. Ruth Epelbaum und die Zwi Migdal. Übersetzt von Peter Kultzen. Diaphanes 2014.

Andere:
Wort und Tat

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Nordlichter 2015

Für alle Liebhaber des skandinavischen Films gibt es eine interessante neue Filmreihe, die Ende März in deutschen Kinos startet: „Nordlichter – Neues skandinavisches Kino“ ist als Festival on Tour konzipiert und soll – wie der Untertitel sagt – neue skandinavische Filme in die Kinos bringen. Gezeigt werden fünf Filme aus Dänemark, Island, Finnland, Norwegen und Schweden, die bereits bei den Nordischen Filmtagen 2013 und 2014 zu sehen waren, aber bisher keinen Verleih gefunden haben. Besonders freut mich, dass darunter auch Iram Haqs „Jeg er din“ ist, der 2013 den Hauptpreis in Lübeck gewann und ein modernes, interessantes Porträt einer jungen Frau in Norwegen liefert. Dass dieser Film bisher nicht im Kino lief oder zumindest eine DVD-Auswertung bekommen hat, verwundert mich doch sehr – aber bei „Eat Sleep Die“ hat es ja auch zwei Jahre gedauert, bis der Film regulär in die Kinos kam.

"Klumfisken"-Hauptfigur Kesse (Henrik Birch) (c) DFI

“Klumfisken”-Hauptfigur Kesse (Henrik Birch) (c) DFI

Auch die anderen Filme der Nordlichter sind gut ausgewählt: Der dänische „Klumpfisken“ ist insbesondere in der ersten Stunde sehr unterhaltsam und hat tolle Dialoge, „Vi är bäst“ von Lukas Moodysson ist ein rockiger Coming-of-Age-Film (bei dem mich ebenfalls wundert, dass er noch nicht im Kino war), „París nordusins“ erzählt von einen Mann, der in Dorf in Island zurück ins Leben finden will und das Roadmovie „Finsk blod, Svenskt hjärta / Ingen riktig Finne“ widmet sich dem Leben der finnischen Minorität in Schweden.

Alles in allem ist das eine tolle Initiative, der ich viel Erfolg wünsche. Im März geht es los, die ersten Termine u.a. in Hannover und Düsseldorf stehen fest und sind hier zu sehen.

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Ein paar Anmerkungen zu „Killer“ von Dave Zeltserman

Eigentlich hatte ich gestern mehr als genug zu tun. Doch in meiner Post war auch „Killer“ von Dave Zeltserman. Deshalb konnte ich nicht widerstehen, es wenigstens anzulesen, nach der Hälfte wollte ich es eigentlich zur Seite legen. Aber es ging nicht. Noch nicht einmal wegen der Spannung, sondern weil es einfach zu gut war. Genau das richtige Buch im richtigen Moment. Keine Schnörkel, keine langen, verwickelten Handlungen, unnötige Nebenfiguren oder leicht durchschaubare falsche Fährten, sondern einfach nur die Lebensgeschichte eines abgehalfterterten Ex-Profikillers, der gerade aus dem Knast kommt.

(c) Pulp Master

(c) Pulp Master

Leonard March hat vor 14 Jahren einen Deal mit der Staatsanwaltschaft ausgehandelt: Er liefert ihnen den Bostoner Gangsterboss Salvatore Lombard und wird deshalb nur für die Taten belangt, wegen der sie ihn festgenommen haben. Dieser Versuchung kann kein Staatsanwalt widerstehen, und da March ein polizeilich unbeschriebenes Blatt ist, kommt es zur Absprache. Jedoch gesteht March daraufhin 28 Auftragsmorde, durch die er Lombard wie versprochen belastet; er selbst geht indes straffrei aus. Dann überlebt er sogar die 14 Jahre Gefängnis, zu denen er verurteilt wird, und ist nun in Boston wieder auf freiem Fuß. Auf ihn warten zahllose wütende Angehörige seiner Opfer, die ihn mit Zivilprozessen überschütten wollen, eine finanziell ungesicherte Zukunft und die Gewissheit, dass sich Lombards Organisation an ihm rächen wird.

Auf 262 Seiten erzählt Leonard March nun sein Leben, die Kapitel wechseln zwischen seiner Gegenwart, in der er sich mit einem Putzjob und den anklagenden Blicken auf der Straße auseinandersetzt, und seinen Erinnerungen an die Vergangenheit, in denen er nach und nach von den Taten erzählt. Hier wird psychologisch nichts verklärt, vielmehr lebt March sein Leben, wie es ist. Er begegnet Schurken, Cops und einer femme fatale, fast erscheint alles ein wenig zu sehr dem altmodischen amerikanischen noir zu entsprechen. Doch dann gibt es ein Ende, das schlichtweg hinreißend ist.

Dave Zeltserman: Killer. Übersetzt von Ango Laina & Angelika Müller. Pulp Master 2015.

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