Schlagwort-Archive: USA

„Was ich euch nicht erzählte“ von Celeste Ng

„Lydia ist tot.“ Mit dieser Gewissheit beginnt Celeste Ngs Buch „Was ich euch nicht erzählte“ und auf sie folgt eine 282-seitige Suche nach den Umständen des Todes eines 16-jährigen Mädchens in einer Kleinstadt in Ohio in den 1970er Jahren. Lydia Lee war eine gute Schülerin, ihr älterer Bruder hat gerade die Zulassung für Harvard bekommen, ihre kleine Schwester ist ein liebes Mädchen, ihr Vater unterrichtet am örtlichen College und ihre Mutter ist Hausfrau. Eigentlich unterscheidet diese Familie nur eines von ihren Nachbarn: Lydias Vater ist das Kind chinesischer Einwanderer. Je weiter das Debüt indes voranschreitet, desto tiefere Risse zeigen sich in Lydias Leben: Kurz vor ihrem Tod wurden ihre Noten schlechter und sie verbrachte viel Zeit mit einem rebellischen Herumtreiber. Als weitaus schlimmer erweisen sich jedoch die Schmerzen, die sich die Familie selbst beigebracht hat.

(c) dtv

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Mit klarer Prosa spürt Celeste Ng den unzähligen Verletzungen nach, die die Außenwelt Lydias Eltern zugefügt hat, ihrer Mutter, die immer anders sein wollte, und ihrem Vater, der nur nicht anders sein wollte. Sie setzen sich im inneren Kreis der Familie fort – unbewusst und ungewollt projizieren die Eltern Erwartungen und Enttäuschungen auf ihre Kinder. Nur die jüngste Tochter scheint die Unsicherheiten und Schmerzen zu sehen, kann sie aber nicht aussprechen. Deshalb stellt sich irgendwann kaum mehr die Frage, wer Schuld an dem Tod von Lydia habe, sondern ob diese Familie den Tod jemals verkraften wird.

„Was ich euch nicht erzählte“ ist ein schmerzhaftes, ein großes Buch, das psychologisch komplex von dem Tod eines jungen Mädchens erzählt – und dabei sehr deutlich vor Augen führt, welchen Schaden Schweigen und Erwartungen anrichten können.

Celeste Ng: Was ich euch nicht erzählte. Übersetzt von Brigitte Jakobeit. dtv 2016.

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Gastspiel: Interview mit James Grady

(c) Suhrkamp

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Für die BÜCHER-Ausgabe Juli/August habe ich einen größeren Beitrag über Politthriller geschrieben und dafür ein Interview mit James Grady über “Die letzten Tage des Condor” geführt. Und wie es im Print nun einmal so ist, habe ich nur eine begrenzte Zeichenzahl zur Verfügung. Das Interview in voller Länger gibt es daher beim CrimeMag zu lesen.

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Über „Der Anruf“ von Olen Steinhauer

Ein Mann und eine Frau treffen sich in einem Restaurant. Vor Jahren waren sie ein Paar. Er wollte damals mit ihr zusammenziehen, sie hat ihn verlassen. Die reduzierte Ausgangssituation in Olen Steinhauers „Der Anruf“ klingt nach einem Liebesroman. Doch Henry und Celia haben einst als CIA-Agenten in Wien gearbeitet. Damals kam es zu einer Geiselnahme auf dem Wiener Flughafen, bei der alle Insassen der entführten Maschine starben. Seither wird vermutet, dass es damals einen Verräter in dem Büro in Wien gegeben haben muss. Deshalb ist dieses Abendessen nicht nur das Wiedersehen zweier ehemals Liebenden.

Der Anruf von Olen Steinhauer

(c) Blessing

Mit zwei Ich-Erzählern entfaltet Olen Steinhauer auf jeweils zwei Zeitebenen das Geschehen: Es gibt die zurückliegenden Ereignisse in Wien und die Gegenwart in Carmel-by-the-sea. Und da Celia und Henry nicht nur miteinander gearbeitet haben, sondern auch eine Beziehung hatten, wird das übliche Spiel um Vertrauen und Verrat noch um Eifersucht und verletzte Gefühle erweitert. Das Abendessen wird zu einem nervösen Tanz, ein Abtasten und Erahnen des Wissens und der Gefühle des Gegenübers, je länger der Abend jedoch dauert, je mehr Wein getrunken und Gänge verspeist wurden, desto härter wird der Ton. Aus dem Tanz wird ein Verhör, das immer mehr Fragen aufwirft. Weiterlesen

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Krimi-Kritik: „Cutter und Bone“ von Newton Thornburg

Richard Bone ist ein Mann, der sich seiner eigenen Stärken und Schwächen sehr bewusst ist, deshalb weiß er, dass er mühelos Frauen ins Bett bekommt, aber an den meisten interessiert ihn lediglich das Geld. Also verbringt er einige Nächte mit ihnen, lässt sich aushalten und kehrt dann auf das Sofa in Alex Cutters Haus zurück, auf dem er schläft. Einst war er ein erfolgreicher Werber, hat dann Frau, Kind und einen lukrativen Job verlassen, weil er überzeugt war, es müsse mehr im Leben geben – aber gefunden hat er nichts. Stattdessen bildet er sich ein, er sei in Cutters depressive Frau Mo verliebt und könnte mit ihr vielleicht doch eine Chance haben. Sein Freund Cutter ist ein eloquenter Wahnsinniger, der durchs Leben torkelt, seit er im Vietnamkrieg verletzt wurde. „Was für ein Anblick der Mann bot, was für ein groteskes Schauspiel: das dünner werdende Raggedy-Ann-Haar, das verwüstete Falkengesicht, das wegen des Narbengewebes zu vieler Rekonstruktionen glänzte, die schwarze Augenklappe über dem fehlenden Auge und sein unveränderlicher Existenzialistenlook, der aus engen schwarzen Hosen und einem schwarzen Rollkragenpulli bestand, dessen linker Ärmel auf Höhe des Ellbogens verknotet war, nicht hochgesteckt oder festgenäht, sondern verknotet, eine Zurschaustellung, ein Schlag ins Gesicht.“ Weiterlesen

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Krimi-Kritik: „Freedom’s Child“ von Jax Miller

„Mein Name ist Freedom Oliver, und ich habe meine Tochter getötet.“ Mit diesem Satz beginnt Jax Millers Debüt „Freedom’s Child“, in dem sie von Vergewaltigungen, Entführungen, Waffenhandel und religiösen Fanatikern erzählt.

(c) Rowohlt

(c) Rowohlt

Seit sie gegen ihren Schwager wegen des Mordes an ihrem Mann ausgesagt hat, lebt Freedom Oliver im Zeugenschutzprogramm in Painter, Oregon, einer „Kleinstadt voll Schmutz, Regen und Crystal Meth.“ Die Welt, in der sie sich bewegt, ist sexualisiert und gewalttätig. Sie arbeitet in einer von Bikern und Prostituierten besuchten Bar, wird beständig mit Übergriffen konfrontiert, die sie brutal beendet, und von traumatischen Erinnerungen an ihre Vergangenheit heimgesucht, die sie wegzutrinken versucht. Dann erfährt sie, dass der Mann, den sie einst ins Gefängnis gebracht hat, frei kommt. Sie weiß, dass er sich rächen wird und auch ihre Kinder in Gefahr sind, die bei Adoptiveltern großgeworden sind. Also macht sie sich auf den Weg, ihre Kinder zu retten.

Freedom Olivier ist eine jene Protagonistinnen, die sich aus einer missbräuchlichen Ehe befreit hat und nun mit den Konsequenzen der Tat leben muss. Also raucht, trinkt, flucht und vögelt sie, so viel und mit wem sie will. Sie ist rücksichtslos sich selbst und anderen gegenüber. Aber sie war nicht immer so, erst durch ihre Ehe ist sie so geworden. Wäre es nicht großartig, wenn eine Frauenfigur einfach so wäre, weil sie es will? Weiterlesen

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Krimi-Kritik: „Das Kartell“ von Don Winslow

Vieles beginnt bei mir mit einem Film. Die erste Begegnung mit dem amerikanischen ‚war on drugs‘ war Steven Soderberghs „Traffic“ aus dem Jahr 2001, einige Jahre später folgt dann mit Don Winslows „Tage der Toten“ mein erster ‚großer‘ Thriller zu diesem Thema. Soderbergh und Winslow erzählen viel, aber längst nicht alles, vielmehr sind ihre Filme und Bücher Puzzleteile in einem komplexen, vielschichtigen Bereich – große, wichtige Teile, aber eben Teile. Deshalb war ich sehr gespannt, was Don Winslow mit „Das Kartell“ diesem Thema hinzuzufügen hat, das ihn in seinen Büchern immer wieder beschäftigt.

(c) Droemer

(c) Droemer

„Das Kartell“ setzt am Ende von „Tage der Toten“ ein: Drogenboss Adán Barrera sitzt im Bundesgefängnis in San Diego, Kalifornien, nachdem er von DEA-Agent Art Keller mit einer List auf amerikanischen Boden gelockt und dort verhaftet wurde. Art Keller hat sich seither in ein Kloster zurückgezogen, in dem er mit seiner Vergangenheit und Schuldgefühlen zu leben versucht. Und hier trifft Don Winslow eine erste falsche Entscheidung: Auch in „Das Kartell“ wird es um das Duell zwischen Barrera und Keller gehen, sie sollen die Gegenspieler sein, um die herum er den ‚war on drugs‘ behandelt. Doch was in „Tage der Toten“ gut funktioniert hat, erweist sich hier immer wieder als Hindernis. Zunächst einmal müssen beide Figuren wieder zurück ins Spiel gebracht werden, d.h. Barrera muss aus den USA nach Mexiko und in die Freiheit gebracht werden (hier lässt sich Winslow von dem ersten Ausbruch Guzmáns‘ im Jahr 2001 inspirieren, er ist kein Prophet, wie seit Sonntag bisweilen zu lesen war), Art Keller aus seinem Kloster herausgelockt und in den aktiven Dienst zurückgeführt werden. Das dauert dann so ungefähr 100 Seiten, auf denen man ausreichend Zeit hat sich zu fragen, warum ausgerechnet diese beiden Männer diesen tödlichen Krieg und ihre 30 Jahre währende Privatfehde überleben – und ob die Amerikaner tatsächlich so verzweifelt sind, dass sie außer Art Keller niemanden haben. Nun wäre das als alte (wenngleich unnötige) Fortsetzungsregel noch hinzunehmen, wenn wenigstens ihre Vergangenheit knapp zusammengefasst würde. Aber in fast jedem Absatz zu Keller wird erwähnt, dass er in Vietnam war und ein Pocho ist, immer wieder wird betont, dass er weder in den USA noch in Mexiko richtig hineinpasst. Mehr Profil entwickelt er dadurch aber nicht, vielmehr rückt seine Rachsucht in den Vordergrund. Und zu Barrera fällt Winslow ebenfalls wenig Neues ein. Diese Figuren sind seit „Tage der Toten“ auserzählt. Weiterlesen

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Krimi-Kritik: „Angel Baby“ von Richard Lange

Eine schöne Frau verlässt ihren fiesen Ehemann in Mexiko, um mit ihrer Tochter in den USA ein neues Leben zu beginnen. So weit, so bekannt. Doch Richard Lange gelingt in seinem Thriller „Angel Baby“ weitaus mehr als die Geschichte einer Frau, die ein Leben zurücklassen will. Vielmehr durchdringt die Realität der mexikanisch-amerikanischen Grenze das Leben seiner Charaktere vollends. Sie sind gefangen in den Entscheidungen, die sie getroffen haben, in ihren Schwächen und Sehnsüchten.

(c) Heyne

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Luz ist eine hübsche junge Frau, die in jungen Jahren ein Kind bekommen hat und dann ihr Schicksal an einen falschen Mann geheftet hat. Deshalb hat sie das Baby bei ihrer Tante in Los Angeles zurückgelassen und ist mit El Samurai nach Tijuana gegangen. Sie erregte die Aufmerksamkeit von Rolando – El Principe–, dem örtlichen Drogenboss, der sie dem Samurai abnahm und heiratete, obwohl er es – wie er in einer seiner seltenen menschlichen Regungen offenbart – nicht musste: „Aber sie hatte diese Kleinigkeiten an sich, die ihn faszinierten. Die Traurigkeit, die aus jedem Lächeln ein Geschenk machte. Das sanfte Herz, das zum Vorschein kommt, wenn sie sich verletzlich zeigte. (…). All das nahm ihn für sie ein, auch wenn die Schlampe im nächsten Augenblick wieder mit einem heimlichen Blick oder bösen Wort das Herz aufschlitzte.“ Und deshalb hatte sie Macht über ihn. „Sie kannte all seine Ängste, all seine Schwächen, und wusste sie gegen ihn einzusetzen.“ Deshalb erträgt Luz mit Xanax, Valium, Vicodin und Oxycotin das Leben an der Seite von Rolando. Ein spontaner Fluchtversuch ist bereits gescheitert, ihren zweiten Anlauf hat sie ein Jahr lang sorgfältig vorbereitet und zieht ihn gnadenlos durch: Entweder wird sie zum vierten Geburtstag ihrer Tochter bei ihr sein – oder tot. Weiterlesen

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