Vieles beginnt bei mir mit einem Film. Die erste Begegnung mit dem amerikanischen ‚war on drugs‘ war Steven Soderberghs „Traffic“ aus dem Jahr 2001, einige Jahre später folgt dann mit Don Winslows „Tage der Toten“ mein erster ‚großer‘ Thriller zu diesem Thema. Soderbergh und Winslow erzählen viel, aber längst nicht alles, vielmehr sind ihre Filme und Bücher Puzzleteile in einem komplexen, vielschichtigen Bereich – große, wichtige Teile, aber eben Teile. Deshalb war ich sehr gespannt, was Don Winslow mit „Das Kartell“ diesem Thema hinzuzufügen hat, das ihn in seinen Büchern immer wieder beschäftigt.
„Das Kartell“ setzt am Ende von „Tage der Toten“ ein: Drogenboss Adán Barrera sitzt im Bundesgefängnis in San Diego, Kalifornien, nachdem er von DEA-Agent Art Keller mit einer List auf amerikanischen Boden gelockt und dort verhaftet wurde. Art Keller hat sich seither in ein Kloster zurückgezogen, in dem er mit seiner Vergangenheit und Schuldgefühlen zu leben versucht. Und hier trifft Don Winslow eine erste falsche Entscheidung: Auch in „Das Kartell“ wird es um das Duell zwischen Barrera und Keller gehen, sie sollen die Gegenspieler sein, um die herum er den ‚war on drugs‘ behandelt. Doch was in „Tage der Toten“ gut funktioniert hat, erweist sich hier immer wieder als Hindernis. Zunächst einmal müssen beide Figuren wieder zurück ins Spiel gebracht werden, d.h. Barrera muss aus den USA nach Mexiko und in die Freiheit gebracht werden (hier lässt sich Winslow von dem ersten Ausbruch Guzmáns‘ im Jahr 2001 inspirieren, er ist kein Prophet, wie seit Sonntag bisweilen zu lesen war), Art Keller aus seinem Kloster herausgelockt und in den aktiven Dienst zurückgeführt werden. Das dauert dann so ungefähr 100 Seiten, auf denen man ausreichend Zeit hat sich zu fragen, warum ausgerechnet diese beiden Männer diesen tödlichen Krieg und ihre 30 Jahre währende Privatfehde überleben – und ob die Amerikaner tatsächlich so verzweifelt sind, dass sie außer Art Keller niemanden haben. Nun wäre das als alte (wenngleich unnötige) Fortsetzungsregel noch hinzunehmen, wenn wenigstens ihre Vergangenheit knapp zusammengefasst würde. Aber in fast jedem Absatz zu Keller wird erwähnt, dass er in Vietnam war und ein Pocho ist, immer wieder wird betont, dass er weder in den USA noch in Mexiko richtig hineinpasst. Mehr Profil entwickelt er dadurch aber nicht, vielmehr rückt seine Rachsucht in den Vordergrund. Und zu Barrera fällt Winslow ebenfalls wenig Neues ein. Diese Figuren sind seit „Tage der Toten“ auserzählt.
Ohnehin klammert sich Winslow an Wiederholungen und erfolgreiche Muster: Mehrfach erfolgt die Reminiszenz an die furchtbarste Szene in „Tage der Toten“, in der zwei Kinder von der Brücke geworfen werden. Gab es in „Tage der Toten“ eine heilige Hure, gibt es in „Das Kartell“ die Ex-Schönheitskönigin Magda, die ebenfalls sehr viel ertragen muss, dann aber selbständiger sein darf. Gewalt reiht sich an Gewalt, die in einer derartigen Fülle ausgebreitet wird, dass ihre Wirkung nachlässt – zu bezweifeln ist indes, dass diese Abstumpfung intendiert ist –, aber immerhin wird ständig betont, dass diese „Gewalt ohne Beispiel“ sei – was sie spätestens ab der Mitte des Buchs nicht mehr ist. In jedem Teil wird eine Figur eingeführt, sie gerät mit der einen oder anderen Organisation in Kontakt, dann stirbt sie oder muss ein Leben in Gewalt führen. Doch obwohl das Buch über 800 Seiten lang ist, entwickelt kaum Figur eine eigene Stimme – eine mögliche Ausnahme ist der Reporter Pablo Mora, dessen Potential Winslow leider nicht ausschöpft –, vielmehr werden Ereignisse und Erlebnisabschnitte abgehandelt. Möglichst schnell, möglichst abgehakt und möglichst didaktisch.
Denn es wird sehr viel erklärt: Dass das „sogenannte mexikanische Drogenproblem“ nicht „das mexikanische Drogenproblem“ sei, sondern das „amerikanische Drogenproblem“ (Hervorhebung im Original) ist schon auf Seite 35 zu lesen. Aber das ist auch schon seit Soderberghs „Traffic“ nicht neu – und der stammt aus dem Jahr 2001. Winslow hingegen verliert sich nicht nur in Allgemeinplätzen, sondern setzt abermals auf Wiederholungen. Dass die Zetas eine paramilitärische Gruppierung sind und sie das Golfkartell unterstützen bzw. übernehmen, wird mehrfach erwähnt, dazu gibt es mehrfach Abschnitte wie diesen: „Und Contreras hat seine eigene Privatarmee – die Zetas –, bei uns ausgebildet, denkt Keller mit Bitterkeit. In Fort Benning. Um den Drogenhandel zu bekämpfen. Jetzt kontrolliert Contreras mit Unterstützung der Zetas, seiner Privatarmee, die ganze Golfprovinz Tamaulipaus, und das macht ihn faktisch zum mächtigsten Narco des Landes.“ (S. 161). Es scheint also besser zu sein, zweimal innerhalb von drei Sätzen zu erwähnen, dass die Zetas die Privatarmee von Contreras sind, denn ich könnte es ja zwischenzeitlich vergessen haben. Weit mehr über die Macht und Bedrohlichkeit der Zetas konnte ich indes bei Augusto Cruz‘ „Um Mitternacht“ erfahren, einem gänzlichen anderen Buch, das einfach nur in Mexiko spielt und in dem es zwei Begegnungen des Protagonisten mit den Zetas gibt.
Fraglos hat Winslow recherchiert, fraglos lässt ihn das Thema nicht los. Aber in diesem Buch fehlen neue Ansätze und Blickwinkel, es fehlt Empathie. Wer wirklich etwas über das Leben von Frauen in Mexiko erfahren möchte, findet es in Jennifer Clements „Gebete für die Vermissten“, von dem Alltag in Juarez erzählen Charles Bowden, Roberto Bolaño oder auch der Dokumentarfilm „Narco Cultura“, über den ‚war on drugs‘ ist in dem Film „The House I live in“ weit mehr zu erfahren. Denn all diese Bücher und Filme entwickeln eigene Perspektiven und Stimmen – auch die Dokumentarfilme, dass sie ‚per se‘ objektiv sind, ist ein Vorurteil – und schaffen komplexe Einblicke in dieses Thema und seine verschiedenen Aspekte. Don Winslow wiederholt sich hingegen selbst.
Don Winslow: Das Kartell. Übersetzt von Chris Hirte. Droemer 2015.
Andere:
Im CrimeMag äußerst sich Alf Mayer wenig begeistert, außerdem versammelt er sehr viele Literaturhinweise.
Gut gefallen hat es hingegen Marcus Müntefering und Tobias Gohlis.