„Goodbye Julia“ ist der erste Film aus dem Sudan, der bei den Filmfestspielen in Cannes gelaufen ist. Dort er 2023 den Freedom Preis in der Sektion „Un Certain Regard“ gewonnen. Und nun ist er in einigen deutschen Kinos zu sehen.
Mit wenigen Bildern etabliert Regisseur Mohamed Kordofani in „Goodbye Julia“ die Situation im Sudan 2005: Mona (Eiman Yousif) hat ihrem Ehemann Akram (Nazar Goma) das Frühstück zubereitet und sitzt mit ihm am Tisch, als von draußen Geräusche in die Ruhe des Hauses hineindringen. Wütende Demonstranten ziehen durch die Straßen von Karthum. Mona schaltet den Fernseher ein, es kommt die Meldung, dass der Vize-Präsident des Landes – John Garang – bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen ist. Garang war Mitgründer der Sudan People’s Liberation Army, im Januar 2005 hat die SPLM das Naivasha-Abkommen mit der sudanesischen Regierung geschlossen, mit dem der 21-jährige Bürgerkrieg im Südsudan beendet wurde. Es gewährte dem Südsudan Autonomie innerhalb des Sudans und war Grundlage das Unabhängigkeitsreferendums im Südsudan 2011. Der Tod Garangs bedroht diesen erst seit wenigen Monaten bestehenden fragilen Waffenstillstand – und Akram, ein muslimischer Nordsudanese, fühlt sich von den südsudanesischen Demonstranten bedroht, er agiert voller Angst, herrscht seine Frau an, sie solle bloß in der Wohnung bleiben.
Mona aber fühlt sich eingeengt in der Wohnung, in der Ehe. Früher war sie eine Sängerin, ihrem Ehemann zuliebe hat sie aufgehört, heimlich besucht sie weiterhin Konzerte, singt in ihrem Auto. Auf dem Rückweg von einem dieser Ausflüge wird sie abgelenkt, verursacht einen Unfall und fährt den fünfjährigen Danny an. Voller Panik verlässt sie den Unfallort. Aber Dannys Vater Santiago (Paulino Victor Bol) hat den Unfall mitbekommen, er verfolgt sie mit seinem Motorrad bis zu ihrem Haus. Dort will er sie zur Rede stellen. Aber Akram glaubt, dieser Mann aus dem Südsudan bedroht seine Ehefrau und erschießt ihn.
Akrams Angst für den Südsudanesen und sein Griff zur Waffe hängen unmittelbar miteinander zusammen. Aber das eine rechtfertigt nicht das andere. Die Kamera beobachtet es, die Rückschlüsse müssen die Zuschauenden ziehen.
Akram hat Beziehungen – er stammt aus dem Norden, hat ein kleines Unternehmen, er kennt Leute, die wiederum Leute kennen. Die Ermittlungen wegen Totschlags unterbindet er mit Bestechungen, Santiagos Leiche kommt zu den anderen namenlosen Demonstranten, die in dieser Zeit gestorben sind. Mona aber wird von Gewissensbissen gequält. Deshalb macht sie Santiagos Witwe Julia (Siran Riak) ausfindig, stellt sie letztlich als Haushaltshilfe ein, verhilft Danny zu einem Schulplatz, bezahlt sogar das Schulgeld. Akram ahnt nicht, wer Julia und ihr Sohn sind – für ihn sind alle Südsudanesen suspekte, dumme „Sklaven“ wie sie noch sein Großvater besaß.
„Goodbye Julia“ bezieht einige Spannung der Frage, wer etwas weiß und wer entdeckt werden wird – Julia fällt auf, dass Mona sehr viel lügt, aber sie versteht auch einige dieser Lügen. Zwischen den Frauen entsteht eine Art Freundschaft, die aber beeinflusst wird von der politischen Situation des Landes.
Es gibt einige Filme, die parabelgleich die Geschichte eines Landes anhand zweier Familien erzählen. In Kordofanis Film ist diese Verschränkung von privatem Drama und politischer Geschichte in keiner Sekunde konstruiert. Vielmehr erklären sie einander, sie begründen ungeheuer schmerzhafte Entscheidungen und Kompromisse. Julia ist als Kind nach Karthum gekommen, sie ist Christin und im Süden geboren, aber sie sieht mittlerweile Karthum als ihre Heimat an. Dennoch ist sie den Vorurteilen und Diskriminierungen der muslimischen Mehrheit in Karthum ausgesetzt: Sie muss ihre Wohnung verlassen, weil sie aufgrund der Unruhen niemand mehr in der Nachbarschaft haben will. Später wird auch ihre provisorische Unterkunft geräumt. Sie hat in diesem Land kaum eine Chance: Ihre Haut ist zu dunkel und sie ist Christin.
Auch Mona ist nicht frei: Ihr Mann kontrolliert sie. Sie fürchtet die Scheidung. Dennoch hat sie Privilegien und beginnt, zaghaft die Grenzen zu überschreiten: Mit einem südsudanesischen Kirchenchor singt sie einmal zusammen. Das mag harmlos wirken, ist aber für viele ihre Landsleute ein Affront.
Die Konflikte gibt es aber nicht nur zwischen Nord und Süd, zwischen Muslimen und Christen. Es gibt ähnliche Spannungen mit den Menschen aus den Nuba Mountains, Darfur oder dem Osten. In Bemerkungen und Fragen wird deutlich, wie wichtig die Herkunft der Familie ist – wie viele Vorurteile mit den Regionen dieses großen Landes verbunden sind. Dadurch erzählt „Goodbye Julia“ von am Beispiel des Verhältnisses zwischen Norden und Süden von einem grundlegenden Problem des Landes. In einem Interview hat Kordofani gesagt, dass der Sudan eine neue nationale Identität brauche, „if that makes sense. Something not based on the pride of origin, not based on gender, or ethnicity, or religion, or all those things that drove us apart, but on values that we can all really share, the values that the revolution has been calling for: Freedom, justice, co-existance. These are values we can really be proud of, they are values that can bring us together. And part of that process, maybe the first part, would be reconciliation and the admission of guilt for the things that went wrong in the past.“
Seinen Film sieht Kordofani al seinen Beitrag zu dieser neuen Zukunft. In Julias Leben tritt nach einigen Jahren ebenfalls ein Mann, Majier (Ger Duany) ist ein Ex-Kommandant der SPLA. Im Gegensatz zu Julia ist er für die Unabhängigkeit des Südsudans, für die im Januar 2011 99 Prozent aller Südsudanesen stimmen werden. Dieses Ergebnis, so Kordofani, war der Auslöser dieses Films: Es konnte nicht sein, dass nur aus politischen Gründen so viele Menschen für die Trennung stimmten. Also begann er selbst nachzudenken, wie viele Südsudanesen er kennt.
Er stellt sich seinen Vorurteilen – und dieser Weg findet sich auch in dem Film: Mona steht sehr deutlich im Zentrum, durch sie wird klar, wie sehr man Rassismus verinnerlichen kann. Sicherlich zeigen sich Akrams Vorurteile deutlicher, er formuliert sie klar. Aber auch Mona ist in einer rassistischen Gesellschaft aufgewachsen.
Es gibt viele Dinge, die an diesem Film bemerkenswert sind: Die Schauspieler*innen, die konzentrierte visuelle Inszenierung, die Tatsache, dass er nicht jedes Detail erklärt (und damit zu erkennen gibt, dass er für ein „westliches“ Publikum inszeniert ist), die Verweigerung, einfache Antworten zu liefern. Die Musik, die sehr gut ausgewählt ist. Deshalb habe ich ihm manch etwas zu dick aufgetragene Metapher (die Vögel im Käfig bspw.) mühelos verziehen – zumal „Goodbye Julia“ auch ein Debüt ist. Im Sudan gedreht übrigens, auch davon hat Kordofani in Interviews erzählt.
Die größte Hoffnung für eine friedliches Zusammenleben im Sudan verbindet dieser Film mit seinen weiblichen Hauptfiguren. Das erinnert an sudanesische Literatur, die voller starker Frauenfiguren steckt. Für einen Beitrag über aktuelle Literatur aus dem Sudan bei SWR Kultur habe ich die südsudanesische Autorin Stella Gaitano einmal gefragt, woher das kommt – und sie sagte damals, weil Frauen in diesem Land keine andere Wahl haben als stark zu sein. Ohnehin musste ich an ihre Kurzgeschichtensammlung „Endlose Tage am Point Zero“ (Ü: Günther Orth, Edition Orient 2024) während des Films einige Male denken: Garangs Tod, die Folgen der Unabhängigkeit sind dort vielschichtig erzählt. Denn so hoffnungsvoll der Südsudan als Land begonnen hat, so hart ist der Boden der Realität, auf dem die Menschen ankommen sind.
Diese Realität ist es auch, die „Goodbye Julia“ eine weitere Ebene verleiht: Kordofani hat Karthum am 13. April 2023 verlassen, zwei Tage später brachen die Kämpfe aus. Seither wurden die Menschen dieses Landes in einen brutalen Krieg zweier Generäle und ihre Armeen gezogen, steckt mitten in einer großen Hungersnot, große Überflutungen verschlechtern die ohnehin katastrophale Lage. Von den Häusern, die man in diesem Film sieht, steht wahrscheinlich keines mehr.