Abkehr vom Krimi – „Das himmlische Kind“ von Heinrich Steinfest

(c) Droemer Knaur

(c) Droemer Knaur

Eine Mutter will sich selbst und ihre Kinder töten, indem sie ihre Kinder betäubt und im Winter mit dem Auto in einen abgelegenen See fährt. Doch ihre Tochter Miriam ist kein gewöhnliches zwölfjähriges Mädchen. Sie ist intelligent, hat bereits „begriffen, wie sehr menschliches Glück nicht nur darin bestand, etwas zu erfahren, sondern auch darin, etwas nicht zu erfahren. Zumindest nicht sofort“ und vertraut ihren Eingebungen. Außerdem neigt sie zu einer „gewissen Gesetzestreue“, deshalb ist sie verwundert, dass ihre Mutter ihr im Auto eine Cola reicht. „Denn obgleich sie durchaus das Bedürfnis verspürte, das ganze Jahr über den süßsauren Geschmack dieses aufbrausenden Getränks zu genießen, hatte sie die einmal erfolgte und aus behaupteten Gründen der Vernunft erteilte Beschränkung auf die Urlaubszeit akzeptiert. Hin und wieder aufzumucken gehörte zum Spiel, so wie zum Spiel gehörte, eine Cola auch mal heimlich zu trinken oder sich ungefragt ein Stück Schokolade einzuverleiben. Daß aber die Mutter selbst die Regel durchbrach, ohne dies stichhaltig zu begründen, empfand Miriam als irritierend.“ Folgerichtig trinkt sie die Cola nicht, bemerkt indes, wie wichtig ihrer Mutter ist, dass sie sie zu sich nimmt. Also täuscht sie Schlucke vor, hält aber insgeheim auch ihren jüngeren Bruder Elias davon ab, mehr von seiner Apfelschorle zu trinken. Damit rettet sie ihnen das Leben: Als ihre Mutter in den See fährt, ist Miriam nicht eingeschlafen, sondern kann sich und ihren Bruder ans Ufer retten. Allerdings sind sie nun allein und durchnässt inmitten eines unbekannten Waldes.

In der Folge seziert Heinrich Steinfest in seinem Roman „Das himmlische Kind“ nicht die Tat der Mutter, sondern konzentriert sich auf die Erlebniswelt der Kinder. Sie sind – Hänsel und Gretel gleich – allein im dunklen Wald, doch die findige Miriam entdeckt eine Hütte, in der sie Unterschlupf finden. Es gelingt ihr, ein Feuer anzuzünden, sie stöbert Decken und einige essbare Pilze auf. Als bei ihrem Bruder dann hohes Fieber ausbricht, sorgt sie mit Wadenwickeln, heißem Wasser und vor allem einer symbolhaften Geschichte dafür, dass er am Leben bleibt.

Nachdenken über das Erzählen
Die Erzählperspektive bleibt daher nicht nur dicht bei Miriam, sondern sie wird auch zur Erzählerin ihrer eigenen Geschichte im Roman. Dadurch sind die für Steinfest typischen Reflexionen der Narration möglich, in der sowohl Miriam ihre Rolle als Erzählerin als auch die Bedingungen einer Erzählung im Allgemeinen verhandelt werden. Als sie beispielsweise an einem Punkt in ihrer Geschichte nicht weiterkommt, erzählt sie ihrem Bruder: „Nein, aber weißt Du, einige Sachen in so einer Geschichte stecken im Nebel. Man kann sie nicht sehen. Manchmal wirkt etwas Gerade schief oder umgekehrt. Was Blaues grün. Du verstehst mich, oder? Es gibt eine Wahrheit, aber sie muß aus dem Nebel rauskommen. Oder etwas liegt in der Ferne und man muß erst drauflosgehen, um wirklich sagen zu können, was es ist.“ Und in diesem Nebel findet Miriam schließlich eine wundersame Deutung für ihre Erlebnisse, da sie nicht vermag, ihrem Bruder die Wahrheit zu sagen: dass ihre Mutter sich umgebracht hat. Miriam selbst sagt von sich, sie mache der Mutter keine Vorwürfe: „Es mochte komisch klingen … nein, das tat es nicht: Miriam empfand tiefe Dankbarkeit dafür, daß ihre Mutter sich dagegen entschieden hatte, die inniglich geliebten zwei Kinder bei anderen Menschen unterzubringen. Daß es ihr Plan gewesen war, Miriam und Elias mitsterben zu lassen. Genauso mußte doch eine gute Mutter denken, oder?“ An dieser Überzeugung will – und wird – Miriam ihr ganzes Leben lang festhalten.

Eine allzu weise Heldin
Miriam ist eine ganz und gar ungewöhnliche Heldin, für ihre zwölf Jahre erstaunlich klug und reflektiert, was aber bereits auf den ersten Seiten des Romans angeführt wird. Dennoch erscheint sie mitunter auf eine erwachsene Art zu weise zu sein – gerade auch im Vergleich zu den anderen klugen Kindern in Steinfests Romanen. Dadurch wird manches zu sehr erklärt, Anspielungen und Verweise werden wiederholt, so dass ihre Bedeutung auch in jedem Fall klar wird. Das wäre nicht nötig gewesen, denn es macht den Zauber und Tragik dieses Romans aus, dass manche Ereignisse nicht eindeutig zu erklären sind. Gerade die Welt der Kinder ist in sich stimmig, es sind die Eltern, die weitaus egoistischer sind als vermeintliche Hexen. Ohnehin treten mit dem Einbruch der Erwachsenen in diese geschlossene Welt der Kinder auch im Roman Misstöne auf. Weder der Exkurs über die Frage, ob ein Vater seine Tochter mehr lieben würde, wenn sie schlank wäre, noch manche Überlegungen über die Rolle der Frau sowie politische Korrektheit fügen sich in diese Geschichte ein. Glücklicherweise sind sie jedoch nur kurz.

Kein Kriminal-, sondern nur ein Roman
Insgesamt ist „Das himmlische Kind“ ein zauberhafter Roman, in dem Steinfest-Leser die Tugenden bisheriger Bücher wiederfinden werden – poetische Sprache, scheinbar unerklärliche Wendungen, eine mitunter magische Welt und Gedanken über das Leben und Sterben. Jedoch verzichtet Heinrich Steinfest nun auf die wesentlichen Elemente des Kriminalplots – eine Tat und einen Ermittler – und ein wenig ist seiner Geschichte dadurch die Erdung verloren gegangen. Schon immer waren Heinrich Steinfests Romane auch phantastische Geschichten, jedoch sorgte der Kriminalplot für einen bodenständige Verankerung, die hier mitunter fehlt. Im Gespräch mit CulturMag hat er sich über die Genre-Frage geäußert und ausgeführt, dass er der Gefahr der Wiederholung entgehen wollte. Dieses Ziel hat er sicher erreicht, allerdings bleibt für seinen zweiten Roman „Der Allesforscher“, der im März bei Piper erscheinen wird, auch noch Raum für Verbesserungen.

Heinrich Steinfest: Das himmlische Kind. Droemer/Knaur 2012.

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Media Monday #150

1. Fragt man mich nach meinen drei liebsten SchauspielerInnen, so fallen mir spontan Jack Nicholson, Meryl Streep und Jesper Christensen ein.

media-monday-150

2. Es gibt Filme die allein auf die Unterhaltung abzielen, und ebenso gibt es Filme, die versuchen, den Zuschauer zum Nachdenken anzuregen oder den Anspruch haben, sich ernsthaft mit einem sozialen oder gesellschaftlichen Thema auseinanderzusetzen. Bevorzugt ihr eine der Gruppen und wenn ja, warum? Hmm, grundsätzlich finde ich nicht, dass ernsthafte Filme nicht auch unterhaltsam sind, aber ich glaube, ich ahne, worauf Wulf mit dieser Frage hinaus will.;-) Und wenn ich die Wahl zwischen einem Film von Seth MacFarlane und einem Film von Mike Leigh habe, würde ich mich immer für letzteren entscheiden, weil ich Filme mag, die mich verändern.

3. Fernab von sympathischen und/oder attraktiven SchauspielerInnen oder präferierten Genres; habt ihr einen Lieblingsregisseur, der euch ungeachtet der genannten Kriterien in steter Folge ins Kino treibt, wenn sein neuestes Werk anläuft? Einen Lieblingsregisseur habe ich nicht, vielmehr gibt es einige RegisseurInnen, deren Namen mich ins Kino ziehen: Joachim Trier, Pernille Fischer Christensen, Steven Soderbergh, Kelly Reichardts, Debra Garnik, Spike Jonze und Thomas Vinterberg sind die, die mir jetzt spotan einfallen.

4. Es kommt immer wieder vor, dass man ins Kino gelockt und von dem dann folgenden Film grenzenlos enttäuscht wird. Was war euer schlimmster Film, für den ihr auch noch eine Kinokarte gelöst habt? Die schlimmsten Filme der letzten Jahre habe ich in Pressevorführungen gesehen, also habe ich keine Kinokarte dafür gelöst und kann sie nicht nennen. Spontan würde mir hier „Die Firma“ einfallen, den ich damals ganz schrecklich fand.

5. Den einen sind deutsche Filme verhasst, wieder andere können mit Hollywood-Produktionen nichts anfangen, den nächsten ist Bollywood ein Gräuel. Gibt es (nicht nur länderspezifische) Sparten, denen ihr absolut nichts abgewinnen könnt? ‘Absolut’ finde ich ein wenig hart, da ich mich bemühe, auch Filme jenseits meiner Vorlieben zu sehen – das schärft den Blick. 😉 Aber Horrorfilme muss ich nicht unbedingt sehen, außerdem schaue ich auch nur sehr selten Martial-Arts-Filme.

6. Wenn ich lese, dass es einen neuen Film mit einem meiner in Frage 1 genannten LieblingsschauspielerInnen gibt, dann ist mir eigentlich schon im Vorfeld klar, dass ich ihn sehen möchte.

7. Mein zuletzt gesehener Film war „The Sea“ und der war trotz einer Länge von knapp 90 Minuten zäh, weil John Banville das Drehbuch zu der Verfilmung seines Romans nicht hätte selbst schreiben sollen – oder es einem anderen Regisseur hätte anvertrauen sollen.

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Filmfest Emden-Norderney – Tag 3 und Tag 4

Beim Schrottsammeln

Beim Schrottsammeln. Aus: “The Selfish Giant”

Mittlerweile kenne ich die Wege zu den Kinos und Veranstaltungsorten, habe einige Kollegen kennengelernt und mich an den Rhythmus aus Schreiben, Tee trinken, durch den Regen kämpfen und Filme gucken gewöhnt. Außerdem habe ich gestern den besten Film des Festivals gesehen: „The Selfish Giant“ ist ein großartiges britisches Sozialdrama mit einer stimmigen Bildsprache, tollen Schauspielern und einer im perfekten Rhythmus erzählten Geschichte über zwei Jungen, die sich in einer rauen Vorstadtsiedlung durch Leben schlagen. Ich hatte hohe Erwartungen an den Film, die in diesem Fall ausnahmsweise übertroffen wurden. Wer also die Gelegenheit hat, diesen wunderbaren Film zu sehen, sollte sie nutzen. (Eine ausführliche Kritik bei kino-zeit.de folgt).

Am Nachmittag ging ich dann zum Filmtee mit August Diehl, bei dem er viel über die Arbeit mit Quentin Tarantino erzählte, der beispielsweise erst die Schauspieler castet und dann überlegt, welche Rollen sie spielen könnten, und betonte, dass er die deutsche Filmlandschaft für besser hält als ihren Ruf. Er verwies noch einmal darauf, dass das Filmfördersystem zwei Seiten hat: Zum einen bekommt man Gelder für Filme, so dass sie überhaupt finanziert werden können. Zum anderen aber haben Nicht-Filmschaffende ein sehr großes Mitspracherecht bei der Vergabe, so dass dann oftmals zu viele Kompromisse geschlossen werden müssten.

„Siblings are forever“

Arbeit auf dem Hof (c) NFI

Arbeit auf dem Hof (c) NFI

Anschließend habe ich meinen Plan geändert und doch die norwegische Dokumentation „Siblings are forever“ statt der Komödie „Gott verhüte!“ gesehen – die Gelegenheit, den norwegischen Film zu sehen, wird sich höchstens in Lübeck ergeben und dort laufen so viele andere Filme. Außerdem habe ich ja bei jedem Festival das Motto, so viele skandinavische Filme mitzunehmen wie ich sehen kann.

In „Siblings are forever“ begleitet Regisseur Frode Fimland die Geschwister Magnar und Oddny Kleiva in ihrem Alltag auf einem Bauernhof. Mittlerweile 73 (Magnar) und 70 (Oddny) Jahre alt, haben sie das elterliche Haus niemals verlassen und die Zeit scheint auf ihrem Hof stillzustehen. Sie betreiben Landwirtschaft auf altmodische Weise und haben eine enge Verbindung zu ihren Tieren, die sie weiterhin in jedem Sommer auf ihren Berghof bringen. Dort verbringen sie ebenfalls ihre ‚Ferien’ und genießen es, etwas mehr freie Zeit als üblich zu haben. An vergangene Jahre erinnern sie sich vor allem aufgrund des Wetters – wann im Sommer der Schnee fiel und wie viel es regnete. Diesen Stillstand fängt Frode Fimland in Zeitraffern ein, in denen die Jahreszeiten durch die Veränderungen in der Landschaft einfangen werden. Knappe zwei Jahre folgt er den Geschwistern und so finden sich mit zunehmenden Verlauf des Films wiederkehrende Bilder und Themen: die Eiche, die das Wetter und insbesondere die Härte des Winters vorhersagt, die Ausbeute bei der Kartoffelernte und ein Hirsch, der sich immer wieder an einem Pflaumenbaum zu schaffen macht. Und dadurch lässt man sich nach und nach als Zuschauer immer mehr auf dieses Leben, das der Zeit entrückt zu sein scheint.

„God help the girl“

Eine Band?

Eine Band?

Der letzte Film des Tages war dann „God help the girl“ von Stuard Murdoch, der Regie führte und das Drehbuch schrieb. Umschreiben würde ich den Film als Versuch, ein hippes Independent-Musical zu drehen: hübsch anzusehende Darsteller in Retro-Klamotten singen nette Popsongs mit erzählenden Texten und tanzen ein wenig. Die Geschichte dreht sich um Eve (Emily Browning), die wegen ihrer Magersucht und Depressionen in einer Klinik behandelt wird, aber immer wieder abhaut, um auf eigene Faust ins Leben zurückzufinden. Schließlich freundet sie sich mit James (Olly Alexander) und Cass (Hannah Murray) an, mit denen sie ihre Liebe zur Musik teilen kann und versucht sich an der Gründung einer Band. Und das ist nett anzusehen, aber leider auch belanglos.

Insgesamt war es also ein durchwachsener dritter Tag. Heute habe ich nur noch die John-Banville-Verfilmung „The Sea“ gesehen, der ich aber vermutlich einen eigenen Beitrag widmen werde. Außerdem habe ich mich mit Hans Petter Moland getroffen und ein fabulöses Interview geführt, in dem wir über seinen Film, die Coen-Brüder und die norwegische Filmindustrie gesprochen haben. Und einen besseren Abschluss für meinen Aufenthalt in Emden hätte ich mir nicht wünschen können.

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Filmfest Emden-Norderney – Tag 2

Ein Publikumsfestival sorgt immer auch dafür, dass ich meine Einschätzung der Rezeption von Filmen schärfen kann. Während ich den Rest des Jahres die meisten Filme in Pressevorstellungen sehe, in denen es – zumindest in Köln – meist recht ruhig zugeht, sitze ich hier in Emden oder im November in Lübeck inmitten eines überwiegend zahlenden Publikums und bekomme dessen Reaktionen unvermittelt mit. Nun bin ich mir bewusst, dass ich Filme anders sehe. Auch schreibe ich keine „Empfehlungskritiken“, sondern hege den Wunsch, dass Leser meiner Kritiken etwas über den Film erfahren, das sie vorher vielleicht nicht wussten, ihn aus einer anderen Perspektive sehen oder vielleicht über den ein oder anderen Aspekt noch einmal nachdenken. Diese Vermittlungsleistung möchte ich erbringen, dabei versuche ich auch zu bedenken, wie andere Zuschauer diesen Film sehen könnten.

Die Töchter des Monsieur Claude

Die Töchter des Monsieur Claude

Und gestern war ich über die ausgelassene Begeisterung und die Lachanfälle des Publikums bei „Monsieur Claude und seine Töchter“ doch überrascht. Diese – wie bald auf jedem Plakat zu lesen sein wird – neue Erfolgskomödie aus Frankreich (in drei Wochen wurden dort bereits 5,6 Millionen Tickets verkauft) dreht sich um ein konservatives, katholisches französisches Ehepaar, dessen drei Töchter einen Juden, einen Araber und Chinesen geheiratet haben. Die Eltern haben immer gute Miene bewahrt, sind jedoch mit der Wahl ihrer Töchter nicht zufrieden. Und nun verlobt sich ihre vierte Tochter mit einem Ivorer – ein weiterer Zusammenprall der Vorurteile ist also vorprogrammiert. Der Film variiert das Komödienprinzip der letzten Jahren – Spiel mit political correctness, culture clash und Vorurteilen – und potentiert es immer mehr. Für mich stellte sich dort einige Male ein Beigeschmack ein, aber da ich den Film noch für kino-zeit.de bespreche, fasse ich es mal anders zusammen: Die letztjährige neue Erfolgskomödie aus Frankreich, „Paulette“, fand ich deutlich witziger.

„Marina“ von Stijn Coninx

Bei der Aufnahme von "Marina"

Bei der Aufnahme von “Marina”

Auch der belgische Film „Marina“ kam bei vielen Zuschauer besser an als bei mir – immerhin haben sie zwischenzeitlich mitgesungen und geklatscht. Regisseur Stijn Coninx schildert in seinem arg gefälligen Biopic das Heranwachsen des Sängers Rocco Granada (gespielt von Matteo Simoni), der mit dem Lied „Marina“ weltberühmt geworden ist. Geboren in Kalabrien, folgte er als Kind mit seiner Schwester und seiner Mutter seinem Vater nach Belgien, der dort in einer Kohlemine arbeitet. Im Mittelpunkt des Films steht Roccos Kampf um ein selbstbestimmtes Leben, zugleich erzählt Stijn Coninx von dem großen Rassismus, dem die italienischen ‚Gastarbeiter’ in Belgien ausgesetzt waren. Jedoch fehlt dem Film eine reflektierte Haltung, eine kritische Erzählinstanz, die die Problematik tatsächlich beleuchtet und nicht nur zeigt. In fast jeder Szene ist zu merken, dass der Film auf den Erzählungen des nun alten Rocco basiert, dessen Erinnerungen zweifellos aufschlussreich, indes ebenso verklärt sind. So ist sein Vater die Figur, die Rocco Steine in den Weg wirft, zugleich wird stets betont, dass er ein schwer arbeitender, im Grunde genommen gutherziger Mann ist, dem die Zeit einfach übel mitgespielt hat. Mit einer stärkeren Erzählperspektive hätte der Film aber aus dieser Figur mehr gewinnen können: Roccos Vater dachte, er käme für zwei Jahre, dann blieb er sein ganzes Leben. Die Sprache hat er nie gelernt, er verkannte, dass seine Kinder mehr Zeit in Belgien als in Italien verbracht haben, und litt unter den Folgen der Arbeitsbedingungen unter Tage. Damit repräsentiert er die erste Generation von Gastarbeitern in Belgien, aber auch Ländern wie Deutschland (hier musste ich einige Male an Fatih Akins „Solino“ denken), jedoch nutzt der Film das Potential, das in dieser Figur steckt nicht auch. Auch an Rocco könnten die Probleme der zweiten Generation deutlich werden, aber hier beschränkt sich Stijn Coninx auf die dramatischen Geschichte seiner Liebe zu einer blonden Belgierin und der Musik. Daher ist sein Film sicher nett anzusehen – aber auch voller verschenkter Möglichkeiten.

„Kraftidioten“ von Hans Petter Moland

Tod in Norwegen

Tod in Norwegen

Mein Höhepunkt des gestrigen Tages ist daher zweifellos „Kraftidioten“, wie der norwegische Film „The Order of Disappearance“ im internationalen und wohl auch deutschen Verleih heißt. Hans Petter Moland erzählt die Geschichte des Schneeräumwagenfahrers Nils (Stellan Skarsgård), dessen Sohn Ingvar mit einer Überdosis tot aufgefunden wird. Nils ist überzeugt, dass sein Sohn kein Junkie war, aber die Polizei ermittelt nicht weiter. Als er dann von einem Freund (Tobias Santelmann) seines Sohnes erfährt, dass dieser von Gangster ermordet wurde, begibt er sich auf einen Rachefeldzug und mordet sich die Verbrechensleiter nach oben.

Im Grunde genommen erzählt Hans Petter Molands Film also die Geschichte eines normalen, braven Bürgers, der zum Rächer wird. Die Anlehnungen an die Coens und Tarantino sind offensichtlich, aber auch Hans Petter Molands Film ist mehr als ein Morden nach Nummern. Dazu trägt zum einen die Figuren des oberen Gangsterbosses Greven (Pål Sverre Hagen, „Kon-Tiki“) bei, der seine Stellung dem Erbe seines Vaters zu verdanken hat, aber selbst soziopathische Züge zeigt. Bemüht um einen schicken veganen Lebensstil mit Karottensaft und Kunst an den Wänden, bricht die Gewalt aus ihm heraus. Pål Sverre Hagen verleiht ihm eine leicht übertriebene Extravaganz sowie ausgefeilte Manierismen, mit denen er sich zwar beständig hart an der Grenze zur Karikatur bewegt, sie aber niemals überschreitet.

Als Greven nun erfährt, dass immer mehr Mitglieder seiner Gang ermordet werden, tippt er darauf, dass die Serben den Frieden in der Region ignorieren und lässt deshalb einen ihrer Kuriere entführen und ermorden. Dieser war aber wiederum der Sohn des obersten serbischen Bosses Papa (Bruno Ganz), so dass dieser Rache schwört – „Sohn für Sohn“. Damit verlagert sich der Film vom Familiendrama über eine Rachegeschichte zu einem blutigen Gangsterkrieg, in dem der eigentlich brave Nils steckt. Es spritzt einiges Blut, die Grenze des Humors wird wenigstens einmal überschritten – es ist nicht lustig, wenn man einer Frau ins Gesicht schlägt –, aber neben dem typisch skandinavischen, schwarzen, derben Humor besitzt „Kraftidioten“ einige ideenreiche Seitenhiebe auf den norwegischen Wohlfahrtsstaat, auf Gleichberechtigung und den modernen Lebensstil. Dadurch ist in genregemäßen Szenen oft eine originelle Kleinigkeit zu finden – beispielsweise trägt Greven ein Papptablett voll Kaffeebecher, als er mit seinen Gefolgsleuten zu dem entführten Serben kommt, das in typischer Zeitlupe gefilmt wird. Es gibt witzige Dialoge über die Diskrepanz von Sonne und Wohlfahrt (These: Es gibt kein Land, in dem beides zu haben ist – selbst Kalifornien ist pleite), die gute Versorgung in norwegischen Gefängnissen (sogar das Essen ist, niemand vergewaltigt einen und es gibt Zahnarztbehandlungen) und eine kurze Diskussion, ob es eine Provokation war, den ermordeten Serben an Schild mit der Zahl 1389 zu hängen (aber niemand der Norweger weiß wohl, dass in diesem Jahr die Schlacht auf dem Amselfeld war). Dadurch bewegt sich „Kraftidioten“ sicher innerhalb des Genres, fügt ihm aber – anders als beispielsweise „Jackpot“ – eigene Ideen hinzu. Dazu gehört auch der Einsatz von Nils’ Schneemobil, das vom Arbeitsplatz zum Ort der Einsamkeit und des Rückzugs sowie letztlich zur Waffe wird. Darüber hinaus setzt Hans Petter Moland die düsteren Taten stets in Kontrast zu der schneebedeckten, unschuldigen und schönen Landschaft Norwegens, die Kameramann Philip Øgaard („Nord“, „Ein Mann von Welt“) in bestechend schöne Bilder fasst. Die beste Idee ist aber, dem internationalen Verleihtitel gemäß, tatsächlich die ‚Reihenfolge des Verschwindens’ dem Film als Strukturprinzip zugrunde zu legen. Nach jedem Ableben gibt es einen Zwischentitel – und so kann man sich den Spaß machen, die Toten mitzuzählen (wie die Frau hinter mir) – muss man aber nicht. Ich habe jedenfalls herzlich gelacht bei diesem Film.

Heute geht es dann weiter mit „The Selfish Giant“, auf den ich sehr gespannt bin. Außerdem werde ich den Filmtee mit August Diehl besuchen und die Komödie „Gott verhüte!“ (umentschieden!) den norwegischen Dokumentarfilm “Siblings are forever” sowie den britischen Film „God help the girl“ sehen.

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Filmfest Emden-Norderney – Tag 1

(c) Filmfest Emden-Norderney

(c) Filmfest Emden-Norderney

Seit gestern bin ich nun Emden und so ein kleineres Festival hat durchaus Vorteile: Die Filme laufen unter Woche erst nachmittags, am Wochenende geht es dann um elf Uhr los. Deshalb habe ich – gemessen an einem Filmfestival – einige filmfreie Zeit, die ich natürlich zum Schreiben nutze. Und zum Tee trinken. Und würde es nicht ständig regnen, würde ich mehr durch die Gegend laufen und Delft-Luft schnuppern. Aber ich zwar die T-Shirts im Koffer rechtzeitig gegen eine Fleece-Jacke getauscht, nur bei den Schuhen habe ich die Nachbesserungen versäumt. Aber ich bin ja auch in erster Linie hier, um Filme zu sehen, und im Kino war es bisher immer trocken und warm.

„Optimistene“ von Gunhild Westhagen Magnor

(c) NFI

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Den Auftakt machte gestern der norwegische Dokumentarfilm „Optimistene“ über eine Damen-Volleyballmannschaft, deren Spielerinnen zwischen 66 und 98 Jahre alt sind. Seit 40 Jahren trainieren sie einmal in der Woche zusammen, aber sie hatten noch nie ein richtiges Spiel. Doch nun haben sie einen passenden Gegner gefunden und ein „Länderspiel“ gegen eine schwedische Altherren-Mannschaft steht an. Also beginnen die Spielerinnen, etwas ernsthafter zu trainieren. Sie lesen sich die Regeln durch, stellen fest, dass ihr Netz zu niedrig ist, üben erstmals auf einem richtigen Volleyball- statt einem Tennisfeld und holen sich sogar Hilfe vom norwegischen Volleyballverband. Mit viel Energie stürzen sie sich in ihre Vorbereitungen, zugleich wirft Regisseurin Gunhild Westhagen Magnor Seitenblicke in die Lebenswirklichkeit der Spielerinnen.

(c) nfi

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Der Star des Films die 98-jährige Goro, die mit bemerkenswerter Lebenskraft und –willen jeden Morgen aufsteht, Gymnastik macht, versucht, auf einem Bein zu stehen und ihre Beine auf einen halbhohen Schrank zu schwingen. Sie gestaltet ihre Tage mit Handarbeiten und ihrem Haushalt, zugleich aber zeigen kleine Beobachtungen auch ihre Einsamkeit. Die Betthälfte ihres verstorbenen Ehemannes ist mit einer Überdecke bezogen, sie schläft ausschließlich auf einer Seite. An Silvester steht sie alleine am Fenster. Diese Momente sind rührend, betonen aber auch ihre Energie. Als sie beiläufig erwähnt, dass sie an Krebsn erkrankt ist, fügt sie hinzu, dass sie verhindern will, dass der Krebs streut. Denn an Krebs will sie nicht sterben, dass ‚würde nicht zu ihr passen’.

(c) nfi

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Goro legt einen gesunden Optimismus an den Tag, der auch den Rest ihrer Mitspielerinnen auszeichnet – und ihrer Mannschaft sowie dem Film den Namen gegeben hat. Sie wissen alle, dass sie alt sind und sterben werden, aber sie wollen die Zeit bis dahin beweglich und fit bleiben. Diese positiv-pragmatische Grundeinstellung hat mich berührt, aber viele Zuschauer des überwiegend deutlich älteren Kinopublikums im ausverkauften Saal aber anders auf einige Szenen reagiert. Während mich beispielsweise die Übungen von Goro eher rührten, lachten viele Zuschauer und feierten sie letztlich auch für gelungene Gymnastik. Als die Truppe schließlich in Schweden in einem Scandic Hotel absteigt und sich einige der Damen von dem üblichen „Daumen hoch, Daumen runter“-Schild auf dem Bett verunsichern ließen, war es für mich ein Moment, der zeigte, dass sie ihren Wohnort bisher kaum verlassen hatten, für andere Zuschauer war diese Szenen vor allem witzig. Dieses Zusammenspiel aus Rührung und Humor charakterisiert die Stimmung dieses Films ganz gut. Es gibt einige lustige Szenen, im Gedächtnis sind mir indes die kleineren Momente geblieben: Wenn die über 90-jährige Lillemor sich erst an den Gedanken gewöhnen muss, ihr großes Haus mit dem kleineren Haus der Kinder zu tauschen, später aber mit ihrem Mann vergnügt dort sitzt und einen Wein trinkt; wenn Goro an Weihnachten das Foto ihres verstorbenen Mannes in die Hand nimmt; wenn einige der Spielerinnen anlässlich der üblichen Hotelzimmerbügel erst einmal irritiert sind – oder sich über die gesponserten Trinkbecher von einer Bank freuen. In diesen Szenen hat sich für mich fast ein ganzes Leben abgezeichnet. Bisweilen habe ich mich zwar gefragt, ob nicht einiges in diesem Film inszeniert ist, aber ungeachtet dessen ist „Optimistene“ ein lustiger und bewegender Film, den ich empfehlen kann.

„Wolf“ von Jim Taihuttu

Internationale_Wolf

Der zweite Film des Tages war dann das niederländische Drama „Wolf“ von Jim Taihuttu. In schwarzweiß gedreht, erzählt er darin von Majid (Marwan Kenzari), der gerade auf Bewährung entlassen wurde, wieder bei seinen Eltern wohnt und auf dem Blumenmarkt arbeitet, auf dem sein Vater 30 Jahre lang gearbeitet hat, und sich durchs Leben schlägt – im wahrsten Sinn des Wortes: Seine Leidenschaft ist das Kickboxen, mit dem er Geld verdienen könnte. Aber die Versuchung des schnellen Geldes durch Diebstähle und Raubzüge ist zu groß und schon bald befindet er sich auf dem völlig falschen Weg. Eine ausführliche Kritik des Films werde ich für kino-zeit.de schreiben, deshalb begnüge ich mich hier mit dem Fazit, dass „Wolf“ sicher kein originelles, dennoch aber ein gutes Migrantions-Verbrechensdrama ist.

„Everyone’s going to die“ von Jones

filmfestdownloads.vhs-emden.de

Zum Abschluss folgte dann der Debütfilm des Regieduos Jones, das für „Everyone’s going to die“ auch als Produzenten und Drehbuchautoren verantwortlich ist. Im Mittelpunkt stehen die 29-jährige Melanie (Nora Tschirner), die an den englischen Küstenort gezogen ist, um dort mit ihrem Verlobten zu wohnen, und der ältere Ray (Rob Knighton), der anlässlich des Todes seines Bruders wieder in seinen Heimatort zurückgekehrt ist. Durch einen Zufall begegnen sie sich, unterhalten sich, trennen sich und treffen sich erneut. Beide sind sie verlorene Seelen, finden aber in dem anderen Verständnis und einen Gesprächspartner. Das erinnert alles an Filme von beispeilsweise Richard Linklater, allerdings schafft Jones in den besten Momenten etwas eigenes. So befindet sich Melanie in der Eingangssequenz auf einer Luftmatratze in einem Pool, man sieht ein kleines aufgemaltes Bärtchen unter der Nase, das – wie sich später zeigt – zu ihrem Charlie-Chaplin-Kostüm gehört, mich aber zunächst an Hitler denken ließ. Sie zieht sich an, wandert durch das Haus und trifft schließlich eine andere jungere Frau, gegenüber der sie bekennt, sie sei „lost“. Es ist sofort klar, dass sie damit nicht nur den Filmriss der letzten Nacht meint, sondern ihr gesamtes Leben. In diesen ersten Bildern wird der melancholisch-absurde Grundton des Films deutlich, den Jones aber nicht konsequent genug beibehält. Durch die Musik und die Lichtsetzung klingt dieser Ansatz immer wieder durch, auch gibt es sehr schöne Bilder und weitere gelungene schräge Szenen, in denen beispielsweise Ray mit einer Katze zu sprechen versucht, die seine Schwägerin für die Wiedergeburt ihres Mannes hält. Jedoch gibt zu viele seitliche Großaufnahmen von Nora Tschirners Gesicht, neben den bewusst elliptischen Dialogzeilen wird auch viel Banales ausgesprochen. Dadurch bekommt der Film einen prätentiösen Beigeschmack. Es scheint manchmal als schreckte das Duo Jones vor dem eigenen Mut zurück. So wollen sie am Ende eigentlich keine Lösungen, sondern Entscheidungen präsentieren, verzichten indes nicht auf die konventionelle Schlussszene. Dank der vielen gelungen und eigenen Ansätze ist „Everyone’s going to die“ als Debüt aber interessant.

Insgesamt war es also ein guter erster Tag auf dem Filmfest, dem heute mit den Filmen „Marina“ aus Belgien, „Kraftidioten“ aus Norwegen“ und „Monsieur Claude und seine Töchter“ aus Frankreich hoffentlich ein guter zweiter Tag folgen wird. Nun gehe ich aber erst einmal einen Tee trinken.

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Amerika und Afrika – Über „Americanah“ und „Nairobi Heat“

(c) S. Fischer

(c) S. Fischer

Was bedeutet es, schwarz zu sein? In dem großartigen Roman „Americanah“ erzählt Chimamanda Ngozi Adichie von der Nigerianerin Ifemelu, die in die USA geht und dort zum ersten Mal erfährt, was es bedeutet, schwarz zu sein, in einer Welt, in der weiße Haut das Ideal und erstrebenswerte Ziel ist. In dem Moment, in dem sie in den USA ankommt, spürt sie, dass fortan nicht mehr wie in Nigeria die Klasse über ihr Fortkommen entscheidet, sondern die Rasse. Ifemelu – und mit ihr der Leser – erlebt die Allgegenwärtigkeit einer Hautfarbe, die jede Fremd- und bald auch schon Selbstwahrnehmung bestimmt – abhängig von dem Land und der Gesellschaft, in der man sich befindet. In „Nairobi Heat“ geht Mukoma wa Ngugis Protagonist Ishmael gewissermaßen den umgekehrten Weg: Er ist ein afroamerikanischer Cop, der das erste Mal nach Afrika reist und dort in einem Fall ermitteln will. Im Gegensatz zu Ifemelu kennt er die Diskriminierungen in den USA, er kennt die sprachlichen und gesellschaftlichen Codes, denen man sich unterwirft oder gegen die man sich auflehnt. In Kenia erlebt er nun andere Reaktionen auf seine Erscheinung: „Die Leute hier waren klein und schlank, und ich fühlte mich maßlos schwer, als hätte ich einige Körperteile zuviel.“ Die Afrikaner rufen ihn, den „afrikanische(n) Amerikaner, (…) schwarze(n) Amerikaner“ „Weißer Mann“. Anfangs macht es ihm nichts aus, je länger er jedoch in Kenia bleibt, desto mehr empfindet er die Geringschätzung, die damit verbunden ist. Während nun Ifemelu in Adiches Roman mit sich selbst hadert und sich selbst (er-)finden muss, scheint sich bei Ishmael eine Sehnsucht zu erfüllen, die er zuvor nicht gekannt hat. Er wollte nie einer der Schwarzen sein, die sich wie Weiße verhalten, zugleich hat er aber kein Problem damit, dass Schwarze ihn für einen Verräter halten, weil er als Polizist andere Schwarze verhaftet. In Afrika findet er daher auch nicht zu selbst, sondern verbringt Tage voller Leidenschaft, Hass, Liebe und Gewalt. Es ist ein „anderes Leben, ein Leben am Limit, wo es immer um alles oder nichts ging, und in dem man vielleicht nebenbei auch noch was Gutes tun konnte“. Auch Ifemelu geht schließlich nach Nigeria zurück, getrieben von großem Heimweh und der Sehnsucht nach ihrer großen Liebe Obinze, „der einzige Mensch, bei dem sie nie das Bedürfnis verspürt hatte, sich zu erklären“.

(c) Transit Verlag

(c) Transit Verlag

„Americanah“ ist ein globaler Gesellschaftsroman, in dem Chimamanda Ngozi Adichie ihre scharfsinnigen Analysen und Überlegungen in eine Liebesgeschichte einbettet und zugleich von dem Leben der Nigerianer in ihrer Heimat, in England (dorthin geht Obinze) und den USA erzählt. Sehr unterhaltsam und gut zu lesen, hat dieser Roman meinen Blick auf die Welt verändert und zählt für mich zu den besten Büchern des Jahres. Die thematischen Parallelen zu „Nairobi Heat“ sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich stilistisch um zwei grundverschiedene Bücher handelt. „Nairobi Heat“ ist ein hardboiled-Roman, in dem Ishmael den Mord an einer hübschen jungen weißen Frau aufgeklärt, die eines Nachts vor dem Haus eines schwarzen Professors gefunden wird. Der Verdächtige ist Joshua Hakizimana, der 1994 beim Massaker in Ruanda tausende Flüchtlinge gerettet hat und als „der schwarze Schindler“ gilt. Er beteuert seine Unschuld, dennoch hat der Fall allein schon aufgrund der Hautfarbe des Opfers sowie des Verdächtigen politische und gesellschaftliche Brisanz. Ein anonymer Tipp führt Ishmael schließlich nach Nairobi und dort beginnt er, mehr über Joshua herauszufinden. Dadurch verbindet Mukoma wa Ngugi die Detektivgeschichte mit Überlegungen zum Leben in den USA und in Kenia, zu den Folgen des Völkermordes in Ruanda und den Umgang mit Schuld. Daneben geht es in diesem rund 180 Seiten langen Roman um die komplexen Beziehungen zwischen Afrika und den USA, um Verrat und Korruption – und inmitten der Kneipenschlägereien und Toten immer auch um Hoffnung. Deshalb ist „Nairobi Heat“ ein sagenhaftes Debüt – und ebenso wie „Americanah“ sehr gute Literatur.

Mukoma wa Ngugi: Nairobi Heat. Übersetzt von Rainer Nitsche. Transit Verlag 2014.
Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah. Übersetzt von Anette Grube. S. Fischer 2014.

Über die Autoren

Foto: Africanwriter.com

Foto: Africanwriter.com

„Nairobi Heat“ ist der Debütroman von Mukoma wa Ngugi, der 1971 als Sohn von Ngugi wa Thiong’o in Evanston, Illionis/USA geboren wurde, in Kenia aufgewachsen ist und zum Studium zurück in die USA ging. Er arbeitet als Literaturprofessor an der Cornell University und schreibt als Journalist und Kolumnist für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Sein zweiter Roman „Black Star Nairobi“ ist gerade in den USA erschienen.

(c) Beowulf Sheehan/PEN American Center

(c) Beowulf Sheehan/PEN American Center

Chimamanda Ngozi Adichie wurde 1977 in Nigeria geboren und ging im Alter von 19 Jahren in die USA. „Americanah“ ist ihr dritter Roman, zuvor erschienen „Blauer Hibiskus“ und „Die Hälfte der Sonne“ (beide im Luchterland Literaturverlag), außerdem ist ihre Kurzgeschichtensammlung „Heimsuchungen“ beim S. Fischer Verlag erhältlich. Für „Americanah“ wurde sie mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet. Sie lebt in Lagos und in den USA.

Chimamanda Ngozi Adichie wird im Mai auf Lesereise in Deutschland und in die Schweiz gehen.

12. Mai 2014
Literaturhaus Frankfurt, Schöne Aussicht 2, 60311 Frankfurt. Beginn 19:30 Uhr
13. Mai 2014
Rautenstrauch-Joest-Museum f.Völkerkunde, Bibliothek 2. OG, Cäcilienstraße 29-33, 50678 Köln
14. Mai 2014
Kaufleuten Restaurants AG, Pelikanplatz, 8001 Zürich
15. Mai 2014
Literaturhaus Basel, Theaterstr. 22, 4001 Basel
16. Mai 2014
Kulturbrauerei Palais, Knaackstr. 97, 10435 Berlin
17. Mai 2014
Universität Hannover, Literarischer Salon, Königsworther Platz 1, 30167 Hannover

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Ein Ausblick auf das Filmfest Emden-Norderney

Auf geht’s nach Emden! Vom 8. bis zum 11. Mai werde ich in Emden auf dem Filmfest sein, das noch einige Tage länger geht – aber dann ohne mich. 😉 Nordwesteuropäische Produktionen sind dort der Schwerpunkt, deshalb laufen dort neben skandinavischen Filmen vor allem Filme aus Großbritannien, Irland, Belgien und den Niederlanden.

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Besonders freue mich auf das niederländische Drama „Wolf“ (Regie: Jim Taihuttu), das von einem jungen Kampfsportler erzählt, der in die Welt des organisierten Verbrechens abrutscht, und „The Selfish Giant“ von Clio Barnard, die als eine der wichtigsten Vertreterinnen des New British Cinema gilt. Gerne würde ich auch die Banville-Verfilmung „The Sea“ gucken, aber hier gibt es eventuell eine Terminkollision. In jedem Fall werde ich aber endlich den norwegischen „Kraftidioten“ von Hans Petter Molland sehen können.

Die anderen skandinavischen Spielfilme sind „Pionér“ aus Norwegen und „Hross í oss“ („Of Horses and Men“) aus Island, die ich beide bereits in Lübeck gesehen habe. Außerdem gibt es noch die beiden norwegischen Dokumentationen „Optimistene“ und „Søsken til evig tid“ (Siblings are Forever), die ich beide gerne sehen würde. Ohnehin ist auffällig, wie viele norwegische Filme hier laufen. Das könnte zum einen ein weiteres Indiz auf die von mir beobachtete Verbreitung und zunehmenden Erfolg von norwegischen Filmen sein, zum anderen aber – da es mein erstes Jahr hier ist – auch nur Zufall.

Alle weiteren Filme sind auf der Homepage des Festivals zu finden, außerdem werde ich im Verlauf meines Aufenthalts hier auch noch mehr über das Festival und die Filme schreiben. Nun freue ich mich aber erst einmal darauf, ein neues Filmfestival zu entdecken. (Und ein wenig Nordluft zu schnuppern, die fehlt mir hier nämlich.)

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