Ein Publikumsfestival sorgt immer auch dafür, dass ich meine Einschätzung der Rezeption von Filmen schärfen kann. Während ich den Rest des Jahres die meisten Filme in Pressevorstellungen sehe, in denen es – zumindest in Köln – meist recht ruhig zugeht, sitze ich hier in Emden oder im November in Lübeck inmitten eines überwiegend zahlenden Publikums und bekomme dessen Reaktionen unvermittelt mit. Nun bin ich mir bewusst, dass ich Filme anders sehe. Auch schreibe ich keine „Empfehlungskritiken“, sondern hege den Wunsch, dass Leser meiner Kritiken etwas über den Film erfahren, das sie vorher vielleicht nicht wussten, ihn aus einer anderen Perspektive sehen oder vielleicht über den ein oder anderen Aspekt noch einmal nachdenken. Diese Vermittlungsleistung möchte ich erbringen, dabei versuche ich auch zu bedenken, wie andere Zuschauer diesen Film sehen könnten.
Und gestern war ich über die ausgelassene Begeisterung und die Lachanfälle des Publikums bei „Monsieur Claude und seine Töchter“ doch überrascht. Diese – wie bald auf jedem Plakat zu lesen sein wird – neue Erfolgskomödie aus Frankreich (in drei Wochen wurden dort bereits 5,6 Millionen Tickets verkauft) dreht sich um ein konservatives, katholisches französisches Ehepaar, dessen drei Töchter einen Juden, einen Araber und Chinesen geheiratet haben. Die Eltern haben immer gute Miene bewahrt, sind jedoch mit der Wahl ihrer Töchter nicht zufrieden. Und nun verlobt sich ihre vierte Tochter mit einem Ivorer – ein weiterer Zusammenprall der Vorurteile ist also vorprogrammiert. Der Film variiert das Komödienprinzip der letzten Jahren – Spiel mit political correctness, culture clash und Vorurteilen – und potentiert es immer mehr. Für mich stellte sich dort einige Male ein Beigeschmack ein, aber da ich den Film noch für kino-zeit.de bespreche, fasse ich es mal anders zusammen: Die letztjährige neue Erfolgskomödie aus Frankreich, „Paulette“, fand ich deutlich witziger.
„Marina“ von Stijn Coninx
Auch der belgische Film „Marina“ kam bei vielen Zuschauer besser an als bei mir – immerhin haben sie zwischenzeitlich mitgesungen und geklatscht. Regisseur Stijn Coninx schildert in seinem arg gefälligen Biopic das Heranwachsen des Sängers Rocco Granada (gespielt von Matteo Simoni), der mit dem Lied „Marina“ weltberühmt geworden ist. Geboren in Kalabrien, folgte er als Kind mit seiner Schwester und seiner Mutter seinem Vater nach Belgien, der dort in einer Kohlemine arbeitet. Im Mittelpunkt des Films steht Roccos Kampf um ein selbstbestimmtes Leben, zugleich erzählt Stijn Coninx von dem großen Rassismus, dem die italienischen ‚Gastarbeiter’ in Belgien ausgesetzt waren. Jedoch fehlt dem Film eine reflektierte Haltung, eine kritische Erzählinstanz, die die Problematik tatsächlich beleuchtet und nicht nur zeigt. In fast jeder Szene ist zu merken, dass der Film auf den Erzählungen des nun alten Rocco basiert, dessen Erinnerungen zweifellos aufschlussreich, indes ebenso verklärt sind. So ist sein Vater die Figur, die Rocco Steine in den Weg wirft, zugleich wird stets betont, dass er ein schwer arbeitender, im Grunde genommen gutherziger Mann ist, dem die Zeit einfach übel mitgespielt hat. Mit einer stärkeren Erzählperspektive hätte der Film aber aus dieser Figur mehr gewinnen können: Roccos Vater dachte, er käme für zwei Jahre, dann blieb er sein ganzes Leben. Die Sprache hat er nie gelernt, er verkannte, dass seine Kinder mehr Zeit in Belgien als in Italien verbracht haben, und litt unter den Folgen der Arbeitsbedingungen unter Tage. Damit repräsentiert er die erste Generation von Gastarbeitern in Belgien, aber auch Ländern wie Deutschland (hier musste ich einige Male an Fatih Akins „Solino“ denken), jedoch nutzt der Film das Potential, das in dieser Figur steckt nicht auch. Auch an Rocco könnten die Probleme der zweiten Generation deutlich werden, aber hier beschränkt sich Stijn Coninx auf die dramatischen Geschichte seiner Liebe zu einer blonden Belgierin und der Musik. Daher ist sein Film sicher nett anzusehen – aber auch voller verschenkter Möglichkeiten.
„Kraftidioten“ von Hans Petter Moland
Mein Höhepunkt des gestrigen Tages ist daher zweifellos „Kraftidioten“, wie der norwegische Film „The Order of Disappearance“ im internationalen und wohl auch deutschen Verleih heißt. Hans Petter Moland erzählt die Geschichte des Schneeräumwagenfahrers Nils (Stellan Skarsgård), dessen Sohn Ingvar mit einer Überdosis tot aufgefunden wird. Nils ist überzeugt, dass sein Sohn kein Junkie war, aber die Polizei ermittelt nicht weiter. Als er dann von einem Freund (Tobias Santelmann) seines Sohnes erfährt, dass dieser von Gangster ermordet wurde, begibt er sich auf einen Rachefeldzug und mordet sich die Verbrechensleiter nach oben.
Im Grunde genommen erzählt Hans Petter Molands Film also die Geschichte eines normalen, braven Bürgers, der zum Rächer wird. Die Anlehnungen an die Coens und Tarantino sind offensichtlich, aber auch Hans Petter Molands Film ist mehr als ein Morden nach Nummern. Dazu trägt zum einen die Figuren des oberen Gangsterbosses Greven (Pål Sverre Hagen, „Kon-Tiki“) bei, der seine Stellung dem Erbe seines Vaters zu verdanken hat, aber selbst soziopathische Züge zeigt. Bemüht um einen schicken veganen Lebensstil mit Karottensaft und Kunst an den Wänden, bricht die Gewalt aus ihm heraus. Pål Sverre Hagen verleiht ihm eine leicht übertriebene Extravaganz sowie ausgefeilte Manierismen, mit denen er sich zwar beständig hart an der Grenze zur Karikatur bewegt, sie aber niemals überschreitet.
Als Greven nun erfährt, dass immer mehr Mitglieder seiner Gang ermordet werden, tippt er darauf, dass die Serben den Frieden in der Region ignorieren und lässt deshalb einen ihrer Kuriere entführen und ermorden. Dieser war aber wiederum der Sohn des obersten serbischen Bosses Papa (Bruno Ganz), so dass dieser Rache schwört – „Sohn für Sohn“. Damit verlagert sich der Film vom Familiendrama über eine Rachegeschichte zu einem blutigen Gangsterkrieg, in dem der eigentlich brave Nils steckt. Es spritzt einiges Blut, die Grenze des Humors wird wenigstens einmal überschritten – es ist nicht lustig, wenn man einer Frau ins Gesicht schlägt –, aber neben dem typisch skandinavischen, schwarzen, derben Humor besitzt „Kraftidioten“ einige ideenreiche Seitenhiebe auf den norwegischen Wohlfahrtsstaat, auf Gleichberechtigung und den modernen Lebensstil. Dadurch ist in genregemäßen Szenen oft eine originelle Kleinigkeit zu finden – beispielsweise trägt Greven ein Papptablett voll Kaffeebecher, als er mit seinen Gefolgsleuten zu dem entführten Serben kommt, das in typischer Zeitlupe gefilmt wird. Es gibt witzige Dialoge über die Diskrepanz von Sonne und Wohlfahrt (These: Es gibt kein Land, in dem beides zu haben ist – selbst Kalifornien ist pleite), die gute Versorgung in norwegischen Gefängnissen (sogar das Essen ist, niemand vergewaltigt einen und es gibt Zahnarztbehandlungen) und eine kurze Diskussion, ob es eine Provokation war, den ermordeten Serben an Schild mit der Zahl 1389 zu hängen (aber niemand der Norweger weiß wohl, dass in diesem Jahr die Schlacht auf dem Amselfeld war). Dadurch bewegt sich „Kraftidioten“ sicher innerhalb des Genres, fügt ihm aber – anders als beispielsweise „Jackpot“ – eigene Ideen hinzu. Dazu gehört auch der Einsatz von Nils’ Schneemobil, das vom Arbeitsplatz zum Ort der Einsamkeit und des Rückzugs sowie letztlich zur Waffe wird. Darüber hinaus setzt Hans Petter Moland die düsteren Taten stets in Kontrast zu der schneebedeckten, unschuldigen und schönen Landschaft Norwegens, die Kameramann Philip Øgaard („Nord“, „Ein Mann von Welt“) in bestechend schöne Bilder fasst. Die beste Idee ist aber, dem internationalen Verleihtitel gemäß, tatsächlich die ‚Reihenfolge des Verschwindens’ dem Film als Strukturprinzip zugrunde zu legen. Nach jedem Ableben gibt es einen Zwischentitel – und so kann man sich den Spaß machen, die Toten mitzuzählen (wie die Frau hinter mir) – muss man aber nicht. Ich habe jedenfalls herzlich gelacht bei diesem Film.
Heute geht es dann weiter mit „The Selfish Giant“, auf den ich sehr gespannt bin. Außerdem werde ich den Filmtee mit August Diehl besuchen und die Komödie „Gott verhüte!“ (umentschieden!) den norwegischen Dokumentarfilm “Siblings are forever” sowie den britischen Film „God help the girl“ sehen.
Da werde ich ja gleich wieder neidisch auf Pressevorführungen. Zwar erlebe ich nur selten unangenehmes Publikum, aber immer spüre ich dieses Dilemma: Einerseits will ich meine Ruhe haben und würde am liebsten allein im Kino sitzen, andererseits wünsche ich Kino und Film natürlich gefüllte Säle (die es aber bei meinen OmU-Vorstellungen sowieso nur selten gibt). Na ja, man muss nehmen, was man kriegt …
“Kraftidioten” habe ich mal auf die Watchlist gesetzt. Ein lustiger Film, das wäre doch mal wieder was.
Oh ja, da bin ich gespannt, ob Du den auch lustig findest. Über manche Szenen/Dialoge lache ich jedenfalls immer noch. 🙂
Das Dilemma verstehe ich gut, aber ich bin im Kino von knisternden Tüten, Kommentaren und Nachos-Essern schnell genervt. Dafür machen gerade Komödien in einer lachenden Gemeinschaft mehr Spaß – sofern ich sie denn auch lustig finde. 😉