Seit gestern bin ich nun Emden und so ein kleineres Festival hat durchaus Vorteile: Die Filme laufen unter Woche erst nachmittags, am Wochenende geht es dann um elf Uhr los. Deshalb habe ich – gemessen an einem Filmfestival – einige filmfreie Zeit, die ich natürlich zum Schreiben nutze. Und zum Tee trinken. Und würde es nicht ständig regnen, würde ich mehr durch die Gegend laufen und Delft-Luft schnuppern. Aber ich zwar die T-Shirts im Koffer rechtzeitig gegen eine Fleece-Jacke getauscht, nur bei den Schuhen habe ich die Nachbesserungen versäumt. Aber ich bin ja auch in erster Linie hier, um Filme zu sehen, und im Kino war es bisher immer trocken und warm.
„Optimistene“ von Gunhild Westhagen Magnor
Den Auftakt machte gestern der norwegische Dokumentarfilm „Optimistene“ über eine Damen-Volleyballmannschaft, deren Spielerinnen zwischen 66 und 98 Jahre alt sind. Seit 40 Jahren trainieren sie einmal in der Woche zusammen, aber sie hatten noch nie ein richtiges Spiel. Doch nun haben sie einen passenden Gegner gefunden und ein „Länderspiel“ gegen eine schwedische Altherren-Mannschaft steht an. Also beginnen die Spielerinnen, etwas ernsthafter zu trainieren. Sie lesen sich die Regeln durch, stellen fest, dass ihr Netz zu niedrig ist, üben erstmals auf einem richtigen Volleyball- statt einem Tennisfeld und holen sich sogar Hilfe vom norwegischen Volleyballverband. Mit viel Energie stürzen sie sich in ihre Vorbereitungen, zugleich wirft Regisseurin Gunhild Westhagen Magnor Seitenblicke in die Lebenswirklichkeit der Spielerinnen.
Der Star des Films die 98-jährige Goro, die mit bemerkenswerter Lebenskraft und –willen jeden Morgen aufsteht, Gymnastik macht, versucht, auf einem Bein zu stehen und ihre Beine auf einen halbhohen Schrank zu schwingen. Sie gestaltet ihre Tage mit Handarbeiten und ihrem Haushalt, zugleich aber zeigen kleine Beobachtungen auch ihre Einsamkeit. Die Betthälfte ihres verstorbenen Ehemannes ist mit einer Überdecke bezogen, sie schläft ausschließlich auf einer Seite. An Silvester steht sie alleine am Fenster. Diese Momente sind rührend, betonen aber auch ihre Energie. Als sie beiläufig erwähnt, dass sie an Krebsn erkrankt ist, fügt sie hinzu, dass sie verhindern will, dass der Krebs streut. Denn an Krebs will sie nicht sterben, dass ‚würde nicht zu ihr passen’.
Goro legt einen gesunden Optimismus an den Tag, der auch den Rest ihrer Mitspielerinnen auszeichnet – und ihrer Mannschaft sowie dem Film den Namen gegeben hat. Sie wissen alle, dass sie alt sind und sterben werden, aber sie wollen die Zeit bis dahin beweglich und fit bleiben. Diese positiv-pragmatische Grundeinstellung hat mich berührt, aber viele Zuschauer des überwiegend deutlich älteren Kinopublikums im ausverkauften Saal aber anders auf einige Szenen reagiert. Während mich beispielsweise die Übungen von Goro eher rührten, lachten viele Zuschauer und feierten sie letztlich auch für gelungene Gymnastik. Als die Truppe schließlich in Schweden in einem Scandic Hotel absteigt und sich einige der Damen von dem üblichen „Daumen hoch, Daumen runter“-Schild auf dem Bett verunsichern ließen, war es für mich ein Moment, der zeigte, dass sie ihren Wohnort bisher kaum verlassen hatten, für andere Zuschauer war diese Szenen vor allem witzig. Dieses Zusammenspiel aus Rührung und Humor charakterisiert die Stimmung dieses Films ganz gut. Es gibt einige lustige Szenen, im Gedächtnis sind mir indes die kleineren Momente geblieben: Wenn die über 90-jährige Lillemor sich erst an den Gedanken gewöhnen muss, ihr großes Haus mit dem kleineren Haus der Kinder zu tauschen, später aber mit ihrem Mann vergnügt dort sitzt und einen Wein trinkt; wenn Goro an Weihnachten das Foto ihres verstorbenen Mannes in die Hand nimmt; wenn einige der Spielerinnen anlässlich der üblichen Hotelzimmerbügel erst einmal irritiert sind – oder sich über die gesponserten Trinkbecher von einer Bank freuen. In diesen Szenen hat sich für mich fast ein ganzes Leben abgezeichnet. Bisweilen habe ich mich zwar gefragt, ob nicht einiges in diesem Film inszeniert ist, aber ungeachtet dessen ist „Optimistene“ ein lustiger und bewegender Film, den ich empfehlen kann.
„Wolf“ von Jim Taihuttu
Der zweite Film des Tages war dann das niederländische Drama „Wolf“ von Jim Taihuttu. In schwarzweiß gedreht, erzählt er darin von Majid (Marwan Kenzari), der gerade auf Bewährung entlassen wurde, wieder bei seinen Eltern wohnt und auf dem Blumenmarkt arbeitet, auf dem sein Vater 30 Jahre lang gearbeitet hat, und sich durchs Leben schlägt – im wahrsten Sinn des Wortes: Seine Leidenschaft ist das Kickboxen, mit dem er Geld verdienen könnte. Aber die Versuchung des schnellen Geldes durch Diebstähle und Raubzüge ist zu groß und schon bald befindet er sich auf dem völlig falschen Weg. Eine ausführliche Kritik des Films werde ich für kino-zeit.de schreiben, deshalb begnüge ich mich hier mit dem Fazit, dass „Wolf“ sicher kein originelles, dennoch aber ein gutes Migrantions-Verbrechensdrama ist.
„Everyone’s going to die“ von Jones
Zum Abschluss folgte dann der Debütfilm des Regieduos Jones, das für „Everyone’s going to die“ auch als Produzenten und Drehbuchautoren verantwortlich ist. Im Mittelpunkt stehen die 29-jährige Melanie (Nora Tschirner), die an den englischen Küstenort gezogen ist, um dort mit ihrem Verlobten zu wohnen, und der ältere Ray (Rob Knighton), der anlässlich des Todes seines Bruders wieder in seinen Heimatort zurückgekehrt ist. Durch einen Zufall begegnen sie sich, unterhalten sich, trennen sich und treffen sich erneut. Beide sind sie verlorene Seelen, finden aber in dem anderen Verständnis und einen Gesprächspartner. Das erinnert alles an Filme von beispeilsweise Richard Linklater, allerdings schafft Jones in den besten Momenten etwas eigenes. So befindet sich Melanie in der Eingangssequenz auf einer Luftmatratze in einem Pool, man sieht ein kleines aufgemaltes Bärtchen unter der Nase, das – wie sich später zeigt – zu ihrem Charlie-Chaplin-Kostüm gehört, mich aber zunächst an Hitler denken ließ. Sie zieht sich an, wandert durch das Haus und trifft schließlich eine andere jungere Frau, gegenüber der sie bekennt, sie sei „lost“. Es ist sofort klar, dass sie damit nicht nur den Filmriss der letzten Nacht meint, sondern ihr gesamtes Leben. In diesen ersten Bildern wird der melancholisch-absurde Grundton des Films deutlich, den Jones aber nicht konsequent genug beibehält. Durch die Musik und die Lichtsetzung klingt dieser Ansatz immer wieder durch, auch gibt es sehr schöne Bilder und weitere gelungene schräge Szenen, in denen beispielsweise Ray mit einer Katze zu sprechen versucht, die seine Schwägerin für die Wiedergeburt ihres Mannes hält. Jedoch gibt zu viele seitliche Großaufnahmen von Nora Tschirners Gesicht, neben den bewusst elliptischen Dialogzeilen wird auch viel Banales ausgesprochen. Dadurch bekommt der Film einen prätentiösen Beigeschmack. Es scheint manchmal als schreckte das Duo Jones vor dem eigenen Mut zurück. So wollen sie am Ende eigentlich keine Lösungen, sondern Entscheidungen präsentieren, verzichten indes nicht auf die konventionelle Schlussszene. Dank der vielen gelungen und eigenen Ansätze ist „Everyone’s going to die“ als Debüt aber interessant.
Insgesamt war es also ein guter erster Tag auf dem Filmfest, dem heute mit den Filmen „Marina“ aus Belgien, „Kraftidioten“ aus Norwegen“ und „Monsieur Claude und seine Töchter“ aus Frankreich hoffentlich ein guter zweiter Tag folgen wird. Nun gehe ich aber erst einmal einen Tee trinken.
Jetzt wünschte ich wirklich, ich könnte auch in Emden sein, dieser wunderbaren kleinen Stadt.
Viel Spaß beim Tee trinken und den kommenden Filmen.
Oh ja, dann würden uns auch im “echten” Leben kennenlernen. 🙂
Ich sollte jemanden finden, der mich für die Berichterstattung von Filmfestivals bezahlt, dann wäre das kein Problem. 😉