Krimi-Kritik: „Wanted“ von Jörg Juretzka

(c) Ullstein

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Ein Fremder kommt nach sechs Tagen hektischem Ritt in Buttercup, North Carolina an. „Es war Mittagszeit, heiß wie nur je ein Augusttag in dieser dumpf brütenden Ebene, und wer sich leisten konnte, ritt seine Mätresse oder lag sonst wie japsend im Schatten.“ Der Fremde bringt also sein Pferd („Erst das Pferd und dann der Reiter. Eine meiner kleinen Regeln. Man sollte nie vergessen, wer wen auf seinem Rücken trägt und warum eine Umkehrung dieses Arrangements keine gute Idee wäre.“) in einen Mietstall und begibt sich dann in den örtlichen Saloon.

Ja, „Wanted“ ist ein Kryszinski-Roman. Wenngleich der Privatdetektiv aus Mülheim an der Ruhr schwer verletzt im Krankenhaus in der „Perle des Ruhrgebiets“ liegt und sich ein Zimmer ausgerechnet mit Hauptkommissar Menden teilen muss, „mein Schatten an der Wand, mein Schwert des Damokles, mein Antipod, meine Nemensis“, gibt es doch Verbindungen zwischen Buttercup und Mülheim. Zwischen diesen Orten wechseln die Abschnitte des Buchs und so zeigen sich Parallelen und Überschneidungen, die sich allmählich zu einer Interpretation des Geschehens zusammenfügen. Dadurch ist „Wanted“ ein Roman, in den man erst einmal hineinfinden muss – und in dem es nicht immer simpel ist, die einzelnen Figuren und ihre Gegenparts zu identifizieren. Sobald man sich aber auf diese Geschichte und das Vorgehen eingelassen hat, macht es sehr viel Spaß, die Verbindungen aufzudecken. Dabei findet Juretzka für jede Figur ein passendes Wild-West-Gegenstück, was zu allerlei Amüsement führt. Und dass sich Journalisten als Zombies entpuppen, passt dann nicht nur gut ins Bild dieses eigenwilligen Romans. 😉

Dennoch ist „Wanted“ mehr als eine Genrespielerei des Autores: Die jeweiligen Plots um Grundstücksspekulationen, Bestechung, Korruption sowie Bedrohungen zeigen, dass es einige Vorgänge und Typen bereits seit über 100 Jahren gibt – und manchmal eine Stadt im Heute genauso vorgeht wie ein skrupelloser Großgrundbesitzer im Wilden Westen. In diesem Sinn: Reite weiter, einsamer Fremder!

Jörg Juretzka: Wanted. Ullstein 2004.

Jörg Juretzka im Zeilenkino:
„Prickel“
„Sense“
„Platinblondes Dynamit“

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Krimi-Kritik: „Ein dunkler Sommer“ von Thomas Nommensen

(c) Rowohlt

(c) Rowohlt

Für Entführung mit Todesfolge wurde Frank Brückner vor zehn Jahren zu einer Haftstrafe verurteilt. Damals soll er ein zehnjähriges Mädchen gekidnappt haben, das an dem Ort, an dem es gefangen gehalten wurde, gestorben ist. Nun hat er seine Haftstrafe abgesessen und wird frei gelassen. An die damaligen Ereignisse hat er nur eine bruchstückhafte Erinnerung, traut sich selbst daher nicht vollends über den Weg und will auf Anregung seines Psychiaters herausfinden, was damals passiert ist. Deshalb nimmt er Kontakt zu ehemaligen Zeugen auf, außerdem besucht er Orte, die eine Rolle gespielt haben. In der Gegenwart ermitteln Hauptkommissar Arne Larsen und sein Kollege Frank Kuhlmann an dem Mord an einem Werkstattbesitzer, der allerhand Dreck am Stecken hat und – wenig überraschend – an dem Prozess gegen Frank Brückner beteiligt war: Er änderte seine Aussage, so dass Brückner für die fragliche Zeit kein Alibi mehr hatte.

Mit kapitelweise wechselnden Perspektiven erzählt Thomas Nommensen in „Ein dunkler Sommer“ nun von Frank Brückner, einem dicken Jungen, der den Mord an dem Werkstattbesitzer beobachtet hat, dem pensionierten Kommissar Gregor Harms, der trinkt und unter Aussetzern leidet, der Familie des damals gestorbene Mädchens und anderen Personen. Dadurch dauert es einige Kapitel, bis der eigentliche Fall in den Mittelpunkt rückt, außerdem bekommt man schon sehr früh viele, vielleicht sogar zu viele Informationen. Von vorneherein steht fest, dass die Fälle zusammenhängen, auch scheinen fast alle Figuren, denen ein Kapitel gewidmet ist, involviert zu sein. Nimmt anfangs Gregor Harms viel Raum ein, der damals die Ermittlungen leitete, aber immer noch unter den Folgen leidet. Mit zunehmendem Verlauf rückt er indes an den Rand – fast glaubt man ihn vergessen –, um dann am Ende wieder aufzutauchen. Dadurch gehen Stringenz und Tempo verloren. Auch zieht sich der finale Showdown ungemein lange hin. Durch die Eliminierung jeglicher Verdächtiger im Vorfeld bleibt aber zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Täter übrig (den ich natürlich nicht verrate). Nachdem die erste Gefahr gebannt ist, wird zudem jede Kleinigkeit nochmals sorgsam erwähnt, weitere Hintergründe werden im Gespräch von Larsen und Kuhlmann geklärt, so dass jede Einzelheit gedeutet wird. Das nimmt dem gesamten Kriminalroman Spannung, vor allem aber dem Leser Raum für eigene Gedanken.

Schließlich folgt noch ein Epilog, der den Eindruck verstärkt, dass in diesem Buch die Ideen für zwei Geschichten zusammengefasst worden sind – oder nachträglich zu viel eingefügt wurde. Das ist schade, da zum einen die eine Grundidee auf den ersten hundert Seiten bereits gut eingeführt wird – die Sprache Brückners deutet schon daraufhin –, sie jedoch dann keine Rolle mehr spielt, sondern erst am Schluss durch eine unglaubwürdige Volte wieder aufgegriffen wird. Und zum anderen sorgt die Fülle an Ideen dafür, dass trotz über 400 Seiten über Arne Larsen, der ja die Hauptfigur dieser neuen Reihe werden soll, nicht viel zu erfahren ist – außer dass er gerne an Tatorten und Aufenthaltsorten von Verdächtigen ist, um ihnen näher zu kommen, aber kein Profiler sein will, und eine unsichere Beziehung mit einer Journalistin führt. Insgesamt gibt es daher viele vielversprechende Ansätze in diesem Krimi-Debüt, aber mit einer stärkeren Konzentration auf eine Geschichte und einen Hintergrund sowie rund 100 Seiten weniger wäre „Ein dunkler Sommer“ ein besserer Kriminalroman geworden.

Thomas Nommensen: Ein dunkler Sommer. Rowohlt 2014.

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Sehen und Verschwinden – Über „Lichtschacht“ von Anne Goldmann

(c) Argument Ariadne

(c) Argument Ariadne

Eigentlich wollte ich das Buch nur kurz anlesen, um es dann in den nächsten Tagen zu beenden. Eigentlich wollte ich nämlich noch weiter an einem Beitrag schreiben, mein Aufenthalt beim Filmfest München planen und einige Mails verschicken. Stattdessen schreckte ich von einem Anruf hoch und stellte fest, dass über zwei Stunden vergangen waren, seit ich das Buch ‚mal kurz angelesen‘ habe. Unmerklich hat mich Anne Goldmann mit ihrer gänzlich unprätentiösen Schreibweise in den Bann gezogen, hat mich ihre Hauptfigur Lena mit ihrem Willen, ein neues Leben zu finden, ihrer Beeinflussbarkeit, ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit und gleichzeitiger Sehnsucht nach Halt und Stabilität fasziniert.

Dabei ist die Geschichte von „Lichtschacht“ auf den ersten Blick denkbar einfach: Nachdem Lena zur Zwischenmiete die Wohnung einer Bekannten bezogen und auf Vordermann gebracht hat, raucht sie auf der Dachterrasse einen Joint und beobachtet drei Personen – einen Mann und zwei Frauen – auf einem gegenüberliegenden Häuserdach. Offensichtlich haben sie Spaß, sie lachen und trinken Wein. Einen Moment lang schaut Lena nicht hin und plötzlich ist eine der Frauen verschwunden. Stattdessen sitzen nur noch zwei Personen ruhig auf dem Dach, schließlich legt der Mann der Frau einen Arm um die Schulter. Lena ist verwirrt. Sie hatte schon einmal im Rausch einen Anfall von Verfolgungswahn, also hätte sie vielleicht lieber die Finger von dem Joint gelassen, dann würde sie sich jetzt auch nicht einbilden, sie hätte die Frau vom Dach fallen sehen. Deshalb geht sie schlafen, aber das Verschwinden der Frau lässt sie nicht los. Sie redet sich ein, dass sie vermutlich einfach vom Dach in die Wohnung gegangen ist, als sie gerade nicht hingesehen hat, oder sie die ganze Episode nicht richtig wahrgenommen hat. Also richtet sich weiter in ihrem neuen Leben mit einem Halbtags- und Katzensitterjobs ein, schließt Bekanntschaften, verliebt sich erst in Max, dann in Georg, ihre Gedanken kehren jedoch beständig zu der Frau zurück. Fast scheint sie zu spüren, dass etwas nicht stimmt. Halbherzig schleicht sie sich in das fragliche Haus, aber sie ist „keine gute Detektivin“, deshalb weiß sie nicht, wonach sie suchen sollte und findet nichts heraus. Auch lässt sie sich von Georg ablenken. Das dunkle Gefühl bleibt indes.

Wie der Protagonist Jeffries (James Stewart) in Hitchcocks „Rear Window“ ist Lena bei ihren Nachforschungen eingeschränkt. War Jeffries durch einen Beinbruch auf einen Rollstuhl angewiesen, so dass er dem Verdacht, sein Nachbar hätte seine Frau ermordet, nur als Beobachter nachgehen konnte, halten Lena innere Einschränkungen ab. Sie ist eine ambivalente Persönlichkeit, die mitunter anlehnungsbedürftig erscheint, jedoch Wert auf ihre Unabhängigkeit legt. Mal ist sie gutgläubig, dann wieder resolut mit ihren Urteilen. Als sie Georg das erste Mal begegnet, hält sie ihn für einen Aufschneider, sein ruhiger Freund Max gefällt ihr besser. Dann offenbart Max in einer Situation psychische Labilität, in der Georg durch seine Ruhe besticht. Diese Souveränität gefällt ihr, sie wünscht sie sich in ihrem eigenen Leben und erhofft sich dadurch ein wenig Anerkennung und Selbstvertrauen. Zugleich ist ihr Leben von Abwesenheit bestimmt. Ihre Mutter starb früh, ihr Vater war viel auf Reisen, ein nicht-vergessener Geburtstag versetzt sie bereits in Hochstimmung. Deshalb erzählt der Roman auch vom Sehen und Gesehen werden. Lena befürchtet, dass die Frau niemand vermisst – so wie auch ihr Verschwinden lange unbemerkt bleiben würde, weil sie niemand wirklich sieht. Als sie dann mehr über die Frau vom Dach erfährt, erkennt sie nicht nur eine äußerliche, sondern eine beständig größer werdende innerliche Ähnlichkeit, die ihre Ängste, aber auch ihren Mut befeuern.

Sicher war ich schnell auf der richtigen Fährte und habe mich auch nicht von den an sich gut platzierten Ablenkungen von meinem Verdacht ablenken lassen. Aber wie zuletzt bei dem Film „Prisoners“ ist die Auflösung in diesem Buch eine Nebensächlichkeit, eine Konzession an die Form, aber nicht das Wesentliche des Buches. „Lichtschacht“ ist atmosphärisch ungemein dicht, Lena ist als Charakter mit ihren Ecken und Widerhaken faszinierend rund und die Mischung aus Suspense und Selbstfindung ist überzeugend. Ein famoses Buch!

Anne Goldmann: Lichtschacht. Argument Ariadne 2014.

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Skandinavische Filme auf dem Filmfest München

München, ich komme! In diesem Jahr fahre ich zum ersten Mal zum Filmfest nach München und freue mich schon auf tolle Filme und das Wiedersehen und Kennenlernen von Kollegen. Aus Skandinavien – genauer gesagt aus Schweden, Norwegen und Dänemark – sind insgesamt fünf Filme zu sehen:


(c) Prokino

(c) Prokino

„Når dyrene drømmer“ („When Animals Dream“) aus Dänemark lief bereits in Cannes und wird mit „Låt den rätte komma in“ von Tomas Alfredson verglichen. Regisseur Jonas Alexander Arnby erzählt die Geschichte der Außenseiterin Marie, die mit ihrem Eltern in einem kleinen Küstenort lebt. Sie spürt, dass ihr Körper sich verändert, auch will sie herausfinden, warum ihre Familie nicht über ihre Vergangenheit spricht – und gerät dadurch auf Kollisionskurs mit allen um sie herum. Der Film startet auch regulär am 21. August 2018 in den deutschen Kinos. Zum Trailer. Eine Kritik folgt.



(c) NFI

(c) NFI

„Doktor Proktors Prompepulver“ („Doktor Proktors Pupspulver“) ist ein norwegischer Kinderfilm – und der skandinavische Film, den ich nicht sehen werde. Dabei ist die Geschichte durchaus ansprechend: Lise freundet sich mit dem frechen Bulle an und gemeinsam besuchen sie den schrägen Doktor Proktor, der ein Pupspulver erfunden hat, das nicht nur lautes Furzen hervorruft, sondern einen auch fliegen lässt. Zum Trailer. Zur Kritik von Rochus Wolff.



(c) Paradox

(c) Paradox

Im Mittelpunkt von „Tusen Ganger God Natt“ („A Thousand Times Good Night“) steht die Kriegsfotografin Rebecca, die eines Tages eine Selbstmordattentäterin in Kabul aufnimmt und bei dem Anschlag schwer verletzt wird. Zurück in ihrer Heimat stellt sie ihr Mann daher vor die Wahl zwischen Beruf und Familie. Der norwegische Regisseur Erik Poppe hat selbst als Kriegsfotograf gearbeitet, daher bin ich sehr gespannt, wie er von diesem Beruf erzählt. Zum Trailer. Zur Kritik.



Im Wasser

Im Wasser

Die norwegisch-schwedische Ko-Produktion „The Quiet Roar“ von Henrik Hellström erzählt von der sterbenskranken Marianne, die mithilfe psychoaktiver Drogen eine wichtige Episode in ihrer Vergangenheit noch einmal erleben möchte. Mit wenig Dialogen und teilweise beeindrucken Bildern ist dieser Film, den ich vorab bereits sehen konnte, eine berührende Meditation über das Leben und die Lieben. Zum Trailer. Zur Kritik.



Bergmans Fernsehzimmer

Bergmans Fernsehzimmer

Und schließlich ist in München noch die schwedische Dokumentation „Trespassing Bergman“ zu sehen, in dem unter anderem Claire Denis, Martin Scorsese, Woody Allen, Lars von Trier, Michael Haneke und Ang Lee erzählen, wie Ingmar Bergman sie beeinflusst hat. Da ich gerade selbst mitten in einer kleinen Bergman-Werkschau stecke, freue mich schon sehr auf diesen Film. Zum Trailer. Zur Kritik.

Das Filmfest geht vom 27.06. bis 05.07.2014 und alle weiteren Informationen über Filme, Kinos und mehr sind hier zu finden.

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Humbert Humbert in Florida – Über „Tampa“ von Alissa Nutting

Celeste Price ist 26 Jahre alt, wunderschön, Lehrerin an einer Junior-Highschool, verheiratet mit dem Polizisten Jack Ford und lebt in Florida. Ihr Mann sieht gut aus und ist reich, befriedigen kann er sie aber nicht. Denn Celeste ist pädosexuell: Sie giert nach 14-jährigen Jungen, nach deren schlaksigem Körperbau und Unschuld. Deshalb ist sie Lehrerin geworden und hält ihren Mann mit gelegentlichem, meist unter Alkohol- oder Tabletteneinfluss geschehenen Sex bei Laune. Sie behilft sich mit Teenagerpornos und dem Ansehen von Jungs im Einkaufszentren, vor allem aber wartet sie auf das neue Schuljahr. Dann wird sie mit ein wenig Glück einen Jungen finden, der ihr Verlangen stillt.

(c) Hoffmann und Campe

(c) Hoffmann und Campe

In Ich-Perspektive lässt Alissa Nutting in ihrem Romandebüt „Tampa“ die Lehrerin Celeste von ihrem Trieb erzählen. Von der ersten Seite an ist man ihrem Verlangen ausgeliefert, blickt mit ihren Augen auf ihre Umgebung und ihr Leben, folgt ihren Blicken und Empfindungen, steht mit ihr vor dem Haus des 14-jährigen Jack, auf den sie ein Auge geworfen hat, erfährt ihre Gedanken bei der Selbstbefriedigung, bei ihrer Annährung und schließlich dem Missbrauch von Jack. Der Skandal ist bei diesem Buch einkalkuliert: Es geht auf nahezu jeder Seite des Buches um Sex. Sicher gibt es Verweise auf Celestes Jugendwahn, mit Sport, Cremes, Kuren und Sex mit 14-Jährigen will sie jung bleiben, allerdings darf trotz aller gesellschaftskritischen Ansätze, die hier anklingen, nicht übersehen werden, dass sie vor allem jung aussehen will, damit junge Teenager mit ihr Sex haben wollen.

Über Celestes Sexleben ist daher viel zu erfahren, über ihre Vergangenheit und ihren Alltag hingegen nur wenig. Vielmehr wird man in eine Welt gezogen, in der sich jeder Gedanken darum dreht, den passenden Jungen zu finden – und nicht erwischt zu werden. Dass Celeste eines Tages auffliegen wird, ist von vorneherein klar. Außerdem wurde das Buch von dem Fall der Lehrerin Debra Lafave inspiriert, die vor knapp zehn Jahren wegen einer „Beziehung“ zu einem Schüler verurteilt wurde und zum Medienstar wurde. Sie wählte die Verteidigungsstrategie der engelsgleich aussehenden Unschuld, der kein Teenager widerstehen könnte – und auch Celeste sieht sich in erster Linie als verführerisch. Sie glaubt nicht, dass sie den Jungs schadet und würde nicht auf die Idee gekommen, dass der Sex, den sie mit ihrem minderjährigen Schüler Jack hat, Vergewaltigungen sind. Auch Jack glaubt, er sei in seine Lehrerin verliebt. Dennoch schließt sich das Buch dieser Verteidigungsstrategie, die sexuelle Übergriffe entschuldigt, keinesfalls an. Vielmehr schleichen sich Zwischentöne ein, in denen das Machtgefüge sehr deutlich wird. Celeste jammert darüber, dass Jack nicht so gefügig ist, wie er es sein sollte, oder sich nicht durch Sex beruhigen lässt – weder durch ihre Brüste noch Analverkehr. Mit der Dauer ihrer „Beziehung“ beklagt sie, dass er nicht mehr so unschuldig sei, außerdem ist ihr sehr bewusst, dass er bald zu alt sein wird. Und wenngleich Jack nur aus ihrer Perspektive zu erleben ist, sind Folgen des Missbrauchs zu bemerken: Jacks Noten werden schlechter, er wird fahriger, unkonzentrierter, seine Verzweiflung und Überforderung mit der Situation sind zu spüren. Obwohl sexuelle Übergriffe auf Mädchen und Jungen weiterhin von vielen unterschiedlich bewertet werden – auch wäre die Rezeption dieses Buches vermutlich anders ausgefallen, wäre Celeste ein Mann und Jack ein 14-jähriges Mädchen –, sind die Folgen indes gleich. Dieser Missbrauch hat Jacks Leben zerstört, und die Täterin wird weitermachen, solange sie es geht.

Alissa Nutting: Tampa. Übersetzt von Verena von Koskull. Hoffmann und Campe 2014.

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Krimi-Kritik: „Rotzig & Rotzig“ von Jörg Juretzka

„Der Mann war noch nicht ganz aufgeschlagen, noch nicht ganz tot, als am Kellergeschoss eine Stahltür aufsprang und zwei rotznasig und unterernährt wirkende Jungs von vielleicht neun oder zehn Jahren herausstürmten, sich auf den Leichnam stürzten und ihm ebenso ungerührt wie routiniert die Taschen auf links zogen. Ich hatte instinktiv ein paar Schritte rückwärts gemacht und stand nun da, schockgefroren, die Flanke meines Toyotas im Kreuz, Katzenkorb an der Hand, Pappkarton mit CDs, Dosenbier, Rasierzeug und anderem Lebenswichtigem unterm Arm, und fühlte mich von einer Sekunde auf die andere geradezu wundervoll eingestimmt auf den Job, den ich da angenommen hatte.“

Nein, Kristof Enrico Kryszinski hat nicht wirklich den Job gewechselt, sondern ermittelt mal wieder verdeckt. Er soll im Auftrag einer Mülheimer Wohnungsbaugesellschaft einen Mietstreik in der Hochhaussiedlung Wohnpark Nord verhindern, der sich aufgrund fortgesetzter Einbrüche und Vandalismus abzeichnet. Als Hausmeister hat er mehr oder weniger uneingeschränkten Zugang zu allen Räumlichkeiten, deshalb erscheint dieser Job als ideale Tarnung. Nachdem ihm sein Vorgänger nun vor die Füße gefallen ist, macht er sich mit der Umgebung vertraut. Es ist eine Siedlung, wie sie in fast jeder Großstadt zu finden ist. Hier gibt es die rotznasigen Zwillinge Üffes und Sien (eigentlich Yves und Sean), einige einsame Frauen, Möchtegern-Gangster namens Nordpark Hoodies und die unvermeidlichen Blockwarte, die für Recht und Ordnung sorgen wollen. Da er mit Scuzzi in einer ähnlichen Siedlung aufgewachsen ist, ist dieser Job für Kryszinski fast ein Heimspiel. Er kennt die meisten Tpyen und Tricks und versucht vor allem, Üffes und Sien das Handwerk zu legen. Als er sich aber deren Familie genauer ansieht, stößt er nicht nur auf eine medikamentenabhängige Mutter und einen merkwürdigen Stiefvater, sondern auch auf eine äußerst desinteressierte Dame von Jugendamt. Das stimmt ihn misstrauisch, außerdem hat Kryszinski bekanntermaßen ein gutes Herz, deshalb kann er diese Jungs nicht einfach so aufgeben – so sehr sie ihm auch auf die Nerven gehen.

(c) Unionsverlag

(c) Unionsverlag

„Rotzig & Rotzig“ beginnt wie ein typischer Kryszinski-Roman, in dem insbesondere Üffes und Sein einen witzigen Kontrapunkt zu Kryszinskis Gegrummel setzen. Ungefähr nach der Hälfte nimmt die Geschichte jedoch eine Wendung, die für schreckliche Zwischenfälle und unschöne Wahrheiten sorgt. Und es ist Juretzkas große Kunst, diese ernsthaften und grausamen Momente hervorragend in die gewohnt lustigen und deftigen Szenen einzufügen. Mit Kinderhandel und Kinderpornographie nimmt er sich abermals brisante Themen vor und zeigt inmitten von Kryszinskis turbulenten und gefährlichen Nachforschungen, wie verzweigt und einflussreich ein Netzwerk von Kindervergewaltigern sein kann. Diese Ermittlungen treiben Kryszinski an den Rand des Erträglichen und sie werden weitreichende Folgen haben. Für ihn – und die Reihe.

Noch eine Bemerkung zum Schluss: Juretzkas Schreibstil ist fraglos Geschmackssache – ich schätze ihn sehr und kann bei seinen Büchern viel lachen, andere werden damit nichts anfangen können. Wer aber vor Juretzkas Büchern zurückschreckt, weil „Rotzig & Rotzig“ bereits der neunte Band einer Reihe ist und er die Vorgänger nicht alle lesen möchte, dem sei dieser Band als Einstieg empfohlen. Denn es wäre schade, diesem eigenwilligen Privatdetektiv keine Chance zu geben.

Jörg Juretzka: Rotzig & Rotzig. Rotbuch 2010. Taschenbuchausgabe im Unionsverlag.

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Ein Mafiagangster in Norwegen – Über die Serie „Liliyhammer“

Die schönste Überraschung enthält die letzte Folge der Serie „Lilyhammer“: Dort sitzt Ingrid Olava („Oslo, 31. August“) am Klavier und spielt ihr „Back to love“. Ohnehin ist die Musik ein Pluspunkt der Serie, und ihr wurde auf der Blu-ray sogar ein zugebenen kurzer Menüpunkt gewidmet. Aber von der Titelmelodie bis zu den gespielten Liedern sind die gute gemischten jazzigen und poppigen Töne weitaus origineller und einprägsamer als viele Handlungselemente dieser Serie.

Die Geschichte

(c) Studiocanal

(c) Studiocanal

Nachdem sein Boss gestorben ist und dessen Sohn und Nachfolger ihn umbringen lassen wollte, entscheidet sich Frank Tagliano (Steven Van Zandt) gegen dessen Organisation auszusagen und mithilfe des Zeugenschutzprogramms des FBI ein anderes Leben zu beginnen. Und da ihm seit der Übertragung der Olypmischen Spiele 1994 die norwegische Stadt Lillehammer wie das Paradies auf Erden erscheint, will er dort hin. Also bekommt er mit dem Namen Giovanni „Johnny“ Henriksen eine neue Identität, den guten Rat, nicht bei der Polizei aufzufallen, und geht nach Norwegen. Dort lebt er sich dank seiner alten „Überzeugungsmethoden“ überraschend schnell und kommt mit Erpressungen, Drohungen und vor allem Gefälligkeiten zu einer Kneipe, einem Führerschein, einer schicken Wohnung und schließlich sogar einer hübschen blonden norwegischen Freundin. Nach nur einer Nacht wird sie schwanger – denn wer denkt schon an Verhütung oder Schutz! –und nun scheint er sich endgültig in seinem neuen Dasein eingerichtet zu haben. Aber bald ist ihm ein übereifriger Polizist auf den Fersen und alarmiert durch seine tollpatschigen Nachforschungen auch alte Feinde in den USA.

Ein Amerikaner in Lillehammer

(c) Studiocanal

(c) Studiocanal

Ein Großteil der Unterhaltung entsteht durch den Zusammenprall der toleranten und liberalen Norweger mit dem knallharten Ex-Mafioso, für den Prügel eine stärkere Waffe als Worte sind. Anfangs sorgen diese Zusammenstöße für durchaus komische Momente, jedoch nutzt sich dieses Konzept ab und schon bald entsteht der Eindruck, die armen Norweger hätten nur auf einen starken Mann gewartet, der ihnen entweder den Mut gibt, selbst durchzugreifen, oder ihnen zeigt, wo es langgeht. Leider wurde auch in der deutschen Version die Serie komplett synchronisiert, während in den USA die norwegischen Teile untertitelt wurden. Und so bleiben nicht nur einige der Gags auf der Strecke, sondern die Einfachheit der Verständigung erstaunt über alle Maßen.

Johnny mit Freundin (c) Studiocanal

Johnny mit Freundin (c) Studiocanal

Aber auch im Original ist die Handlung vorhersehbar, außerdem bleiben die Nebenfiguren blass. Polizistin Laila Hovland (Anne Krigsvoll) ist durch ihr Äußeres und schrullig-schroffes Auftreten offensichtlich an Marge Gunderson aus „Fargo“ angelehnt, aber ihr fehlt sowohl Entfaltungsspielraum als auch der grimmige Humor. Johnnys Freund und Geschäftspartner Torgeir (Trond Fausa) ist erschreckend einfach gestrickt, Arbeitsamtsmitarbeiter Jan (Fridtjov Såheim) verspricht einiges, aber er bleibt kleinlaut und widerlich. Erst in der letzten Folge zeichnet sich eine Entwicklung ab, so dass aus seiner Rolle in der zweiten Staffel mehr gemacht werden könnte. Das bleibt auch für Johnnys Freundin Sigrid (Marian Saastad Ottesen) zu hoffen, die bis zur letzten Folge lediglich ein blondes love interest ist, das den Nachtclub, Johnnys plötzlichen Reichtum und seine neuen Freunde mit einem leicht staunend geöffneten Mund und erstaunlicher Naivität hinnimmt. Hier wäre es weitaus unterhaltsamer, wenn sie erkennt, wer er ist – und im Zweifelsfall einfach mitmischt. Und selbst Steve van Zandt greift mit der schiefen Körperhaltung und ‚coolen‘ Sprüchen auf seine Rolle des Silvio Dante aus den „Sopranos“ zurück.

Weder Drama noch Komödie

(c) Studiocanal

(c) Studiocanal

Insgesamt vertraut die Serie zu sehr darauf, dass die Grundidee eines Mafioso in Norwegen in Verbindung mit Steve van Zandt zwangsläufig eine Mischung aus typischen skandinavischen Krimikomödien und den „Sopranos“ ergeben muss. Einen eigenen Ton sucht man daher vergebens, vielmehr schwankt die Serie zwischen Drama und Komödie. Deshalb hadert Johnny mehr mit der plötzlichen Schwangerschaft seiner Freundin als seiner Situation, kommt es im Zweifelsfall zu einem Gag und nur wenigen bemerkenswerten Momenten. Das ist schade und sorgt dafür, dass „Lilyhammer“ wohl lediglich als erste Netflix-Serie in Erinnerung bleiben wird.

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