Über “Reckless” von Ed Brubaker und Sean Phillips

An manchen Büchern gibt es kein Vorbeigehen – dazu gehörte kürzlich „Reckless“, eine Graphic Novel von Ed Brubaker und Sean Phillips, deren „The Fade Out“ ich sehr gerne mochte. Und auf dem Buchrücken von „Reckless“ stehen all die Worte, die mich derzeit ansprechen: „former Sixties radical“ und „Weather Undergrund days“, deshalb habe ich Teil 1 im Comicladen meines Vertrauens gekauft.

„Reckless“ spielt Anfang der 1980er Jahre in Los Angeles, Hauptfigur ist Ethan Reckless, der optisch dem 1970er-Jahre-Robert-Redford – also der beste Redford – sehr ähnlich sieht und in einem blutigen Schlamassel steckt. Sein Geld verdient er nämlich damit, dass er Menschen hilft, die in Schwierigkeiten stecken. Aber dieses Mal scheinen die Schwierigkeiten weitaus größer zu sein als er dachte. Als er nun blutüberströmt einem anderen Typen gegenübersteht, beginnt eine lange Rückblinde, in der erzählt wird, wie er in dieser Situation gelandet ist und wer eigentlich Ethan Reckless ist. Und diese Hintergrundgeschichte ist bemerkenswert: Sie referenziert sehr geschickt und in aller Knappheit wichtige Ereignisse in der Geschichte des Weather Underground, aber auch dem Vorgehen des FBI gegen die radikalen Gruppierungen. Dazu gehört eine Bombe, die versehentlich explodiert, die an die Ereignisse in Greenwich Village 1970 erinnert. Bei dem erwähnten Bankraub musste ich an den Überfall auf die Nanuet Mall 1981 denken. Dazu wird früh erzählt, dass Ethan Reckless eigentlich ein Undercover-FBI-Agent war und als er seinen früheren Kontaktmann trifft, beschwert er sich darüber, dass dieser einen früheren Zugriff verweigert hat, weil er unbedingt den Weather Underground mit den Black Panthers in Verbindung bringen wollte – was der damaligen FBI-Taktik entsprochen hat. Auch im weiteren Verlauf wird das Agieren von FBI und CIA immer wieder eine Rolle spielen, dadurch bekommen Geschichte und Charakter eine spannende Grundierung, die Reckless in diesem ersten Band über die eher altmodische Anlage eines ermittelnden Rächers, der sich für andere einsetzt, heraushebt. Und hier wird auch die Zeit, in der die Handlung spielt, wichtig: Als Ronald Reagan 1981 Präsident der USA wurde, dachten viele Linke in den USA, ihre Welt würde zusammenbrechen. Es war ein herber Rückschlag – und es ist ein Grund für Reckless zu tun, was er tut. Und er erzählt all das, was Anfang der 1980er Jahre in Los Angeles passiert ist, ebenfalls aus einer Zukunft, in der – wie wir wissen – dieses Gefühl abermals weit verbreitet ist.

Ich bin gespannt und angesichts des Endes ein bisschen skeptisch, ob diese zeitgeschichtliche Grundierung in den folgenden Bänden beibehalten wird. Aber dazu kommt noch, dass Reckless‘ Hauptquartier ein altes Kino namens „El Ricardo“ (wohl ein Verweis auf Lucy und Ricky Ricardo) ist, in dem er regelmäßig „The Night of the Hunter“ spielen lässt, obwohl niemand kommt. Ohnehin erinnert vieles an die 1950er und 1960er Jahre in diesem Buch, vor allem an die Detektivromane dieser Zeit. Brubaker schreibt im Nachwort selbst, dass er von der Comic-Adaption von Richard Starks „Parker“ daran erinnert wurde, dass er so etwas machen wollte. Aber „Reckless“ ist eine modernere Version, ohne Rassismus, mit mehr Introspektion (obwohl es immer ein pulpiger Crime Comic bleibt) und sogar mit interessanten Frauenfiguren – da hoffe ich sehr, dass die Punkrockerin Anna, die in Reckless‘ Kino arbeitet, mehr Raum bekommen wird. Und natürlich wird diese Welt des Noir und des Pulp auch in den Bildern beschworen: es gibt explodierende Autos, strömendes Blut, dazu kommt das Los Angeles der früheren 1980er Jahre in Gelb und Pink. Das alles hat mir schon sehr große Lust auf Band 2 gemacht.

Ed Brubaker, Sean Phillips: Reckless. Image Comics 2020. 144 Seiten.

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Über “Glory” von NoViolet Bulawayo

Jidada „mit einem da und noch einem da“ ist ein fiktionales Land auf dem afrikanischen Kontinent, das seit über 40 Jahren vom Alten Pferd und seinen Getreuen der Jidada Partei beherrscht wird. Einst haben sie die Unabhängigkeit erkämpft, aber heute ist Jidada durch Korruption, Skrupellosigkeit und Egoismus zu einem der ärmsten Länder des Kontinents geworden. Dürre, Armut und Stromausfälle sind ebenso an der Tagesordnung wie Wahlfälschungen, ethnische Säuberungen und Folterungen. Aber nicht das wird das Alte Pferd stürzen, sondern die Ambitionen seiner Ehefrau, der Eselin Marvellous. Als sie offensichtlich seine Nachfolge anstrebt, haben sein Vize und die Anführer der Defenders -– eine brutale Armee aus bissigen Hunden – genug und setzen ihn mit einen unblutigen Coup ab.

(c) Suhrkamp

Pferde, Esel, Hunde, Katzen, Kühe und Schafe – in ihrer bissigen, zornigen und aufwühlenden Parabel „Glory“ arbeitet die simbabwische Autorin NoViolet Bulawayo mit dem satirischen Mittel des Anthropomorphismus, um von einem korrupten Regime zu erzählen, das deutlich an Simbabwe erinnert. Das Alte Pferd ist Robert Mugabe, sein Nachfolger wird das Pferd Tuvy sein, das immer einen Schal trägt – so wie Mugabes Nachfolger Mnangagwa. Eine kollektive Erzählstimme erzählt vom Ende des Alten Pferdes, der Hoffnung auf eine neue Zeit unter neuer Führung. Dann tritt im zweiten Drittel des Romans eine zentrale Figur zum ersten Mal auf: die Ziege Destiny kehrt nach 10 Jahren im Exil wieder nach Jidada zurück und stellt sich ihren Traumata und denen ihrer Mutter, vor allem die ethnischen Massaker an den Nbebele, die das Alte Pferd und seine Getreuen in den 1980er Jahren anrichten ließ (Gukurahundi). Die Perspektive verschiebt sich noch stärker von den Herrschenden zu den Beherrschten und zu dem hochkomischen, bisweilen ätzenden Spott kommt eine schmerzhafte, fast poetische Erzählung von Leid, wiederholt enttäuschter Hoffnung und einem langsam entstehenden, sehr, sehr kaltem Zorn. Er ist es, der ein hoffnungsvolles Ende erlaubt – aber viel mehr noch macht NoViolet Bulawayo damit deutlich, dass Frauen bzw. „Waipchen“ weder in einem patriarchalen, autoritären Staat noch in einer politischen Satire an den Rand gehören.

Die Vielfalt Bulawayos erzählerischer Register ist beeindruckend: es gibt vordergründige Witze wie der Verweis auf den twitternden Pavian aus den USA, der dort 2018 Präsident ist. Oder Schimpfworte wie „Deckschwester“ für jede Frau, die etwas verlangt. Mit einem Wort wird die Frauenverachtung in Jidada deutlich – und das ist nur ein Beispiel für die gelungene Übersetzung von Jan Schönherr, die die verschiedenen Tonfälle trifft. Sei es die bissige, aber wohltuend komplexe Abrechnung mit dem politischen System. Oder auch die tiefvergrabene Trauer und vielen Traumata angesichts des brutalen Vorgehens der Defenders gegen Demonstranten und Oppositionelle und den Gedanken an die Fünfte Brigade, die in den 1980ern die Ndebele ermordet haben. Dazu verbindet NoViolet Bulawayo gekonnt orale Erzähltraditionen nicht nur mit der politischen Satire, sondern auch mit Social-Media-Narrativen. Das zeigt sich beispielsweise an dem Wort „Tholukuthi“, das beständig wiederholt wird. Es verweist auf das Geschichtenerzählen – es ist ein Ndebele-Wort, das Überraschung ausdrückt – und ist zudem ein Hinweis auf einen Social-Media-Moment: Der Song „Tholukuthi Hey!“ war ein großer Hit zu der Zeit als Mugabe abgesetzt wurde. Auch werden Tweets nicht nur wiedergebeben, sondern es wird auch erzählt, dass es zwei Jidadas gibt: Den realen Ort, das „Land Land“, und das andere Land im Internet, in dem sich die Bewohner von Jidada aufregen, austauschen und mutig Kritik üben. Denn eines zeigt dieses Buch auch sehr deutlich: wie beherrschend die Angst ist in einem Leben in einer Diktatur.

„Glory“ ist ein großer Roman, der weit über die Geschichte Simbabwes, ja, sogar die Geschichte vieler afrikanischer Länder herausreicht. Denn das Versprechen von freien Wahlen und dem Wiederherstellen der „Größe“ von Nationen, die Mechanismen von Genoziden, die Prinzipien von Unterdrückung, ethnischem Hass, Korruption, Ausbeutung und Bereicherung finden sich überall auf der Welt.

NoViolet Bulawayo: Glory. Aus dem Englischen von Jan Schönherr. Suhrkamp Verlag 2023. 464 Seiten. 25 Euro.

Dies ist die längere Textfassung eines Rezensionsgespräches bei DLF Kultur, nachzuhören unter diesem Link.

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Übers Bloggen (und Twitter)

Seit ungefähr drei Jahren nehme ich mir regelmäßig vor, wieder häufiger und dafür kürzer zu bloggen – mit offensichtlich wenig Erfolg. Das hat Gründe: Mittlerweile werde ich meist dafür bezahlt, dass ich über Krimis schreibe, und ich will diesen Blog nicht zur reinen Zweitverwertungsstelle machen. Außerdem habe ich insbesondere im vergangenen Jahr so viel gearbeitet, dass für den Blog einfach keine Zeit mehr geblieben ist.

In den vergangenen Monaten habe ich nun viel über die und meine Kommunikation im Internet nachgedacht. Anlass war die Übernahme von Twitter durch einen größenwahnsinnigen, gefährlichen Milliardär. Sie hat mich zunächst dazu gebracht hat, meinen Twitter-Account nicht mehr zu nutzen. Ich war gespannt, wie das für mich wird, Twitter war immer „mein“ soziales Netzwerk. Ich habe so einige Menschen darüber kennengelernt, mit denen ich teilweise mittlerweile auch Kontakt im Offline-Leben habe und befreundet bin. Gerade bei Festivals war es toll, dadurch mit Leuten ins Gespräch zu kommen, das habe ich erst voriges Jahr beim African Book Festival erlebt. Dazu war Twitter eine meiner Nachrichtenquellen und Plattform zum Bewerben eigener Inhalte. Ich habe dort viel gelernt über die Welt, meine Perspektive hat sich fraglos erweitert – und das finde ich toll.

Aber schon vor dem Verkauf hatte sich einiges verändert: Weiterlesen

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Deutscher Krimi-Preis 2022

Und die nächste Jury-Entscheidung, an der ich beteiligt war, kann ich heute bekanntgeben: die Preisträger*innen des Deutschen Krimi-Preises stehen fest. Der Preis wird zum 39. Mal vergeben – ich habe mich über das Ergebnis sehr gefreut.

National:

1. Platz: Johannes Groschupf: Die Stunde der Hyänen (Suhrkamp)

2. Platz: Oliver Bottini: Einmal noch sterben (Dumont)

3. Platz: Sybille Ruge: Davenport 160×90 (Suhrkamp)

 

International:

1. Platz: Riku Onda: Die Aosawa-Morde (Atrium) deutsch von Nora Bartels

2. Platz: Jacob Ross: Die Knochenleser (Suhrkamp) deutsch von Karin Diemerling

3. Platz: Cherie Jones: Wie die einarmige Schwester das Haus fegt (CulturBooks) deutsch von Karen Gerwig

 

Die Jury: Volker Albers (Hamburger Krimifestival) / Andreas Ammer (ARD) / Claudia Denker (Buchhandlung Chatwins, Berlin) / Jens Dirksen (WAZ Kultur) / Monika Dobler (Krimibuchhandlung glatteis, München) / Christiane Dreiling (Buchladen Neusser Straße einzigundartig, Köln) / Joachim Feldmann (Kritiker) / Tobias Gohlis (Krimikolumnist Die ZEIT) / Günther Grosser (Kritiker) / Sonja Hartl (Kritikerin) / Cornelia Hüppe (Krimibuchhandlung Miss Marple, Berlin) / Reinhard Jahn (Bochumer Krimi Archiv) / Christian Koch (Krimibuchhandlung Hammett, Berlin) / Alf Mayer (Kritiker CrimeMag) / Torsten Meinicke (Buchladen in der Osterstraße, Hamburg), Peter Münder (Kritiker) / Ulrich Noller (WDR) / Michaela Pelz (krimi-forum.de) / Thomas Przybilka (BoKAS) / Kirsten Reimers (Kritikerin) / Robert Schekulin (Kritiker, Buchhändler) / Jan C. Schmidt (kaliber38.de) / Joachim Schneider-Sacotte (Kritiker) / Sylvia Staude (Frankfurter Rundschau) / Bettina Thienhaus (Kritikerin) / Jutta Wilkesmann (Krimibuchhandlung Die Wendeltreppe, Frankfurt) / Thomas Wörtche (Kritiker) Die Kritiker:innen der Jury stimmen nicht für Titel, an deren Veröffentlichung sie aktiv beteiligt sind. Thomas Wörtche stimmt zudem ausdrücklich nicht für Titel des Suhrkamp Verlags.

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Krimibestenliste 2022 – Die zehn besten Kriminalromane des Jahres

Jeden Monat stimme ich bei der Krimibestenliste ab und einmal im Jahr dann stimmen wir über das ganze Jahr ab. Heute wurde sie veröffentlicht, die Krimibestenliste des Jahres 2022. Eine kommentierte Liste mit mehr Informationen und ein PDF zum Herunterladen gibt es im Blog von Jury-Sprecher Tobias Gohlis.

(1) Riku Onda: Die Aosawa-Morde. Aus dem Japanischen von Nora Bartels. Atrium 2022. 568 Seiten.

(2) Sybille Ruge: Davenport 160×90. Suhrkamp 2022.

(3) Christoffer Carlsson: Was ans Licht kommt. Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann. Rowohlt 2022. 492 Seiten.

(4) Åsa Larsson: Wer ohne Sünde ist. Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger, Holger Wolandt. Bertelsmann 2022. 590 Seiten.

(5) Jacob Ross: Die Knochenleser. Aus dem Englischen von Karin Diemerling. Suhrkamp 2022. 376 Seiten.

(6) Oliver Bottini: Noch einmal sterben. DuMont 2022. 476 Seiten.

(7) Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda. Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Diogenes 2022. 367 Seiten.

(8) Johannes Groschupf: Die Stunde der Hyänen. Suhrkamp 2022. 265 Seiten.

(9) Cherie Jones: Wie die einarmige Schwester das Haus fegt. Aus dem Englischen von Karen Gerwig. CulturBooks 2022. 325 Seiten.

(10) Dror Mishani: Vertrauen. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Diogenes 2022. 351 Seiten.

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Netzfund: Literature Map

In dem Blog von Anke Gröner habe ich einen Link zu Literature Map gefunden – und musste es natürlich sofort ausprobieren. Das Prinzip ist einfach: Ich gebe eine*n Autor*in ein, dann werden mir weitere Autor*innen angezeigt, die mir auch gefällen könnten. Wie auf der Seite steht: „It is based on Gnooks, Gnod’s literature recommendation system. The more people like an author and another author, the closer together these two authors will move on the Literature-Map.“

Mein erster Versuch war mit Deborah Levy:

Die Schnittmenge zwischen den Autorinnen, die dort stehen, und die ich gerne lese, ist tatsächlich sehr groß. Allen voran natürlich Rachel Cusk, aber das ist nun wirklich auch eine offenkundige Verbindung. Candice Carty-Williams indes schon weniger oder auch Shirley Jackson, dennoch finde ich es sehr plausibel, dass sie dort stehen. Also musste ich natürlich noch weitere Namen durchtesten.

Zum Beispiel Mieko Kawakami:

Hier gefällt mir, dass es nicht nur um die Herkunft geht, sondern dort eine Menge junger feministischer Autorinnen steht. Sicherlich gibt es einige Lücken, gerade bei Debüt-Autor*innen. So kennt die Seite weder Wayétu Moore, Alia Trabucco Zéran noch Tomi Obaro, durchaus aber Abi Daré. Jacob Ross und Femi Kayode kennt sie nicht, Tade Thompson schon – offenbar aber eher als Science-Fiction. Autor. Auch gibt es nicht zu jedem Namen sehr viele Treffer:

Und da frage ich mich tatsächlich, worin diese Nähe wohl besteht. Wobei: auch mir stehen alle die im Regal.  Aber für mich ist mit der größte Spaß, dass manche Ergebnisse gleich interessante Einsichten mitliefern: So konstatiert die Seite eine enge Verbindung zwischen Simone Buchholz und Garry Disher. Offenbar bin ich nicht die einzige, die sowohl Derek Raymond als auch Hilary Mantel gerne liest. Und nicht nur das: Jennifer Egan ist eine meiner Lieblingsautorinnen – und sie steht ziemlich nah an Derek Raymond, was auf eine hohe Übereinstimmung deutet. Faszinierend.

 

Ergänzung: Leider ist es nicht nur ein harmloser Spaß, darauf hat mich Orkun Ertener unter meinem FB-Post aufmerksam gemacht. Auch Adolf Hitler wird dort als Autor geführt – und durch ihn kann man dann gleich eine ganze Reihe rechtsextremistischer Rassisten stoßen, die der Algorithmus einem “empfiehlt”.

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Eine Anmerkung zu Sybille Ruges „Davonpart 160×90“

(c) Suhrkamp

Seit Monaten will ich etwas schreiben zu Sybille Ruges sensationellen Debütroman „Davenport 160×90“ – und habe es die ganze Zeit nicht geschafft. Nun wurde bereits einiges zu diesem Roman gesagt und geschrieben, vielem stimme ich zu. Die Sprache ist großartig – sie kühn und treibt voran, ohnehin ist das Tempo hoch in diesem Roman. Er steckt voller Anspielungen, Referenzen und Verweisen – vieles wird im CrimeMag aufgedeckt, dort findet sich auch eine Plotzusammenfassung und viele weiterführende Hinweise in Alf Mayers begeistertem Text.

Tatsächlich wird Heiner Müller in den Reaktionen häufig genannt, diese Referenz ist ja durch den Paratext des Buches auch angelegt. Aber da gibt es etwas, was ich hinzufügen möchte. Denn ich musste beim Lesen nicht an Heiner Müller denken. Sondern an Derek Raymond. Genauer: Derek Raymond, in dessen „Nightmare on the streets“ es den Polizisten Kleber regelrecht zugrunde richtet, dass seine geliebte Frau an seiner Stelle gestorben ist. Natürlich gibt es stilistische Unterschiede, auch ist das Buch anders aufgebaut. Aber: in der wuchtigen, sprachlich scharfen Beschreibung der Trauer, die existentiell ist und sowohl Kleber als auch Sonja Slanski wirklich bis in die Knochen erschüttert, sind diese Bücher gewissermaßen aus einem ähnlichen Geiste heraus geschrieben – sie sind beide novels in mourning.

So hat Raymond in seinen „Hidden Files“ (dt.: Die verdeckten Dateien, Dumont Noir 1999. Übersetzt von Michael K. Iwoleit, Reinhold H. Mai) den Noir-Roman beschrieben: „Mit dem Wort Dasein meine ich den einzige für die Menschheit gültigen Vertrag. (…) Dieser Vertrag ist die Grundlage des Noir-Romans, dessen Abscheu vor der Gewalt, die so genau wie möglich geschildert wird, um Menschen daran zu erinnern, wie widerlich sie ist, ihn dazu veranlaßt, gegen jeden Tod zu protestieren, der einen Menschen vor seiner Zeit ereilt, und das ist es, was ihn zu einem Roman in Trauer macht.“ (S.129)

Aber es ist nicht der Tod, den Sonja Slanski betrauert – in ihm spiegelt sich auch eine Trauer über die Gesellschaft wider, die ihre eigenen Fehlentwicklungen hinnimmt und Verwerfungen für „normal“ hält. In beiden Büchern trauern zwei zutiefst nihilistische Menschen: Sonja Slanski glaubt an nichts und niemanden, sie verdient Geld mit Deals, die anderen zu schmutzig sind, einzig ihr russischer Ziehvater vermag es gelegentlich ihr eine Freude zu machen, indem er ihr etwas teures und abwegiges schenkt. Sonja Slanski erwartet nichts mehr, sie hat womöglich nie etwas erwartet. Aber dann weckt dieser Tod eine Wut, eine eiskalte und gefährliche Wut (wie z.B. die des namenlosen Sergeants in „Ich war Dora Suarez), die sie zu dem Täter führt. Kleber richtet seine Trauer zugrunde, er verfällt vor Leid und Schmerz dem Wahnsinn. Nur die Liebe, die ist für ihn überall, sogar wenn er zerschossen am Boden liegt.

Sybille Ruge: Davenport 160×90. Suhrkamp 2022. 264 Seiten. 15 Euro.

Mehr Derek Raymond und u.a. “Nightmare on the streets” gibt es auch in der ersten Folge meines Podcasts “Abweichendes Verhalten”, die unter diesem Link und bei allen gängigen Podcatchern sowie Spotify finden ist.

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