Es ist ein geheimnisvoller Anruf, durch den Emma Victor in eine Mordermittlung gerät. Eigentlich arbeitet die ehemalige PR-Frau bei dem Frauennotruf von Boston, als sie von der Stimme am anderen Ende der Leitung mit Namen angesprochen wird und zu einem Treffen gebeten wird. Emma Victor zögert, aber sie wird neugierig und findet sich abends auf der genannten Straße ein. „Mein Blick war auf das Ende der Straße gerichtet, das langsam näher kam. Dann sah ich sie.“ Es waren Füße, die aus einer Seitenstraße herausragten – und diese Füße gehörten zu der Frau, die sich dort mit Emma Victor treffen wollte. Also verständigt sie die Polizei, verschweigt aber, dass sie das Adressbuch der Toten eingesteckt hat – und sie kennt. „Ein Gesicht, mit dem ich eine Unterhaltung geführt habe. In einem französischen Restaurant, vor nur zwei Wochen.“ Sie erinnert sich an den Abend, wie sie miteinander ins Gespräch gekommen sind. Eine zufällige Bekanntschaft, die aber wohl ausgereicht hat, damit sich Julie Arbeder in einer Notsituation an sie wendet. Also beschließt sie, auf eigene Faust ein paar Nachforschungen anzustellen.
(c) Ariadne
Emma Victor ist eine sehr glaubwürdige private Ermittlerin. Schon als PR-Frau hat sie eine Folk-Sängerin vertreten, die mit ihrem Coming-Out ihre Karriere ruiniert hat, aber glücklich geworden ist. Und eine Ärztin, die gegen den Vietnamkrieg war. Sie hat „mal eine Rolle gespielt, war die Antwort auf das patriarchale Gesellschaftsbild“. Nun beantwortet sie ein Telefon, sie hat keine Superkräfte, aber ist schlichtweg beharrlich und mutig. Also fragt sie ein wenig herum – bei Julies Mitbewohnerinnen, ihren Kollegen, versucht Kontakt zu ihrer heimlichen Geliebten aufzubauen, die allerdings mittlerweile selbst gestorben ist.
Allerhand Verdächtige gibt es also in dem spannenden hardboiled-Fall mit genretypischen Zutaten: die hübsche Zufallsbekanntschaft, die eine geheimnisvolle Geliebte hat; eine reiche Familie mit deutlichen Verfallsanzeichen und nicht zuletzt Dr. Frances Cohen, die durchaus zum Kreis der Verdächtigen gezählt werden könnte, in die sich Emma Victor aber verliebt. „Sie kam zu spät“ gehört zu den frühen Romanen der „lesbian detective fiction“, einem hochspannenden Subgenre, in dem immer wieder feministische Positionen auf die eher konservativ-maskulinen Konventionen der „hardboiled detective novel“ trifft. So ist Frances Cohen nicht nur die Verdächtige, die in sich die Hauptfigur verliebt, sondern auch eine Wissenschaftlerin, eine Ärztin, die nicht bereit ist, ihre Forschungen aufzugeben. Es geht um Abtreibung, künstliche Befruchtung, Genetik, Verhütung, das hochgradig feministische Thema der Mutterschaft. Somit verhandelt Mary Wings in Gewand eines Detektivromans die Frage nach der Kontrolle über weibliche Körper.
Ohnehin streifen die durchaus lakonisch-hartgesottenen Dialoge und Gedanken beinahe beiläufig politische Themen, dadurch steckt viel feministische Gesellschaftskritik in diesem Kriminalroman aus dem Jahr 1986, in dem nicht nur die Kürzungen für Hilfseinrichtungen in Boston aufgegriffen werden, sondern auch der Ausverkauf von Arbeitern und Gewerkschaften. Dazu gibt es zahlreiche Spitzen gegen (feministische) Gesprächskreise und gelangweilte Frauen, die ihr Leben mit dem Besuch in einer Lesbenbar auffrischen wollen.
Mary Wings: Sie kam zu spät. Übersetzt von Andrea Droste. Argument Ariadne 1992.