Normalerweise lese ich erst ein Buch und sehe dann den Film. Im letzten Jahr habe ich es lediglich bei „Naokos Lächeln“ in anderer Reihenfolge gemacht, in diesem Jahr nun bei „Am Anfang eines viel zu kurzen Tages“, der Verfilmung von Anthony McCartens Roman „Superhero“. Bei dieser Vorgehensweise verschieben sich die Rezeptionseinflüsse. Nun habe ich die Bilder des Films im Kopf, das Aussehen der Schauspieler und ihre Interpretation der Rolle. Im Verlauf der Lektüre rückt der Film zumeist in den Hintergrund, aber gerade am Anfang beeinflusst der Film doch die Erwartung.
Über die Besonderheiten des Films
Erzählt wird in Buch und Film von dem krebskranken Donald Delpe und seiner Familie. In dem Film des irischen Regisseurs Ian Fitzgibbon wird die Rolle hervorragend von Thomas Brodie-Sangster gespielt. Beeindruckt hat mich aber insbesondere der Erzählstil des Films. Donald hat in seinen Comics ein Ventil für seine Krankheit gefunden. Daher unterbrechen animierte Szenen den Fortgang der Handlung und etablieren eine zweite Ebene in dem Film, die sich allein im Donald und seine Wahrnehmung dreht. Dabei bringen die düsteren Bilder seine Ängste zum Ausdruck. Neben den animierten Szenen habe ich in meiner Besprechung für spielfilm.de auch die Musik hervorgehoben, die gut eingesetzt war. Aber im Gegensatz zu den animierten Szenen ist Musik ein sehr filmisches Mittel, also spielte sie bei den Erwartungen an den Roman keine Rolle.
„Superhero“ – Eine Geschichte in drei Akten
Im Grunde genommen habe ich also bei „Superhero“ ein Jugendbuch über einen krebskranken Jungen erwartet, der gerne Comics zeichnet. Stattdessen ist Anthony McCartens Buch ein Roman über Lebenslust und Kompromisslosigkeit. Mit kurzen, oftmals stakkatohaften Sätzen wird die Geschichte von Donald Delpe erzählt. Eine ironische Distanzierung, die zugleich Donalds Wahrnehmung von der Welt widerspiegelt, ist bereits durch den Aufbau des Romans in drei Akten gegeben: Im ersten Akt begegnen wir den handelnden Personen: Donald Delpe, 14 Jahre alt und krebskrank. Sein Vater Jim, ruhig, bisweilen teilnahms- und hilflos. Seine Mutter Renata, besessen von dem Gedanken, dass ihr Sohn gegen die Krankheit kämpfen muss. Dr. Adrian King, Therapeut und Strohwitwer, seit seine schöne Frau Sophie entschieden hat, dass sie lieber auf dem Land leben will. In wichtigen Nebenrollen gibt es noch Shelley, Donalds heimlicher Schwarm, und Jeff, Donalds kiffenden und sexuell erfahrenen Bruder. Der erste Akt dient der Einführung der Personen und dem grundlegenden Konflikt des Helden: Donald ist sterbenskrank und könnte sterben, ohne Sex zu haben. Der zweite Akt bringt die Zuspitzung des Konflikts und die Lösung – Donalds Krankheit kehrt nach kurzer Besserung zurück, aber Dr. King findet einen Weg, wie er doch noch Sex haben könnte. Der dritte Akt handelt dann von der Tragödie: Donald ist tot und Dr. Adrian King muss sich vor dem Disziplinarausschuss verantworten. Hier spielt Anthony McCarten seine Erfahrung als Theaterautor voll aus und bewahrt die Geschichte zudem vor dem Abgleiten in den Kitsch und die Trivialität.
Der andere Dr. King
Im Gegensatz zu dem Film, der Donald in den Mittelpunkt stellt und Dr. Adrian King eher als unkonventionellen, weisen Todes-Therapeuten sieht, sind sie in „Superhero“ fast gleichberechtige Figuren. Obwohl Dr. King eigentlich Donald helfen sollte, bringen der Junge und seine Wut auf die Welt Dr. Kings Leben in Aufruhr. Indem er Donald hilft, erkennt er, dass er selbst zu viele Kompromisse eingegangen ist und dadurch apathisch wurde. Durch schnelle Szenenwechsel, die stets mit Nennung des Ortes und der Tageszeit eingeleitet werden, und die im Stil eines Drehbuchs oder Theaterstücks wiedergegebenen Dialoge vermitteln sich diese Erkenntnisse – so widersprüchlich es klingen mag – beiläufig direkt. Dabei findet Anthony McCarten, der auch das Drehbuch zu dem Film geschrieben hat, bisweilen eindrücklich-skurrile Bilder. Darüber hinaus entwickelt Anthony McCarten auch einen wunderbar eigenen Ton, der stark mit den Comics zusammenhängt. Im Buch gibt es keine Zeichnungen, sondern die Dialoge der Comic-Figuren werden wiedergegeben. (Hier ist es etwas störend, dass bei den großgeschriebenen Umlauten die Punkte fehlen). Wie im Film verdeutlichen sie Donalds Wahrnehmung von der Umwelt. Zugleich untermauern sie aber auch, welche großartige Arbeit mit der Umsetzung dieser Dialoge im Film geleistet wurde, indem ihr rauer Ton durch die schroffen schwarz-weiß-Bilder hervorragend ins Visuelle übersetzt wurde.
Zwei Interpretationen einer Geschichte
Insgesamt bietet der Film die gefälligere Version der Geschichte, der manche Widerhaken genommen wurden. Dazu tragen vor allem die Entscheidungen bei, Donald als klare Hauptfigur einzusetzen und seiner Romanze mit Shelley größeren Raum zu geben. Dadurch verlagert sich der Schwerpunkt hin zu einer Coming-of-Age-Geschichte. Das Buch ist kompromissloser und erzählt insbesondere von Dr. Adrian King eine interessantere Geschichte. Aber sowohl Film als auch Buch werden durch ihren Erzählstil vor dem Abgleiten ins Melodram bewahrt. Daher ist die Verfilmung von „Superhero“ einer der seltenen Fälle, in denen der Film tatsächlich eine eigenständige Interpretation der Geschichte darstellt, die den tragikomischen Grundton des Buches beibehält.
„Am Ende eines viel zu kurzen Tages“ läuft am 30. August 2012 in den Kinos an. „Superhero“ von Anthony McCarten ist im Diogenes Verlag erschienen. Die Fortsetzung „Ganz normale Helden“ erscheint am 28. August 2012. Die Besprechung folgt.