Piscine Molitor Patel, benannt nach einem französischen Schwimmbad, lebt mit seinen Eltern und seinem Bruder in der ehemals französischen Kolonie Pondicherry in Indien. Sein Vater ist Zoodirektor und Pi – so nennt er sich, um den Hänseleien seiner Klassenkameraden zu entgehen – wächst weitgehend unbeschwert auf. Während sich sein Bruder ganz dem Cricket verschrieben hat, findet Pi in der Religion und Biologie sein Zuhause. Er ist zugleich Moslem, Christ und Hindu und interessiert sich sehr für Zoologie. Unzufrieden mit den politischen Entwicklungen in Indien und aus Angst, das bisherige Leben nicht aufrechterhalten zu können, beschließt Pis Vater, nach Kanada zu gehen. Er verkauft die Zootiere, und die Familie reist mit ihnen auf einem japanischen Frachter. Eines Nachts kommt es zu einem Zwischenfall – und das Schiff sinkt. Pi findet sich mit einem Zebra, einer Hyäne, einem Orang Utan auf einem Rettungsboot wieder. Nach einigen Tagen sind nur noch der Tiger namens Richard Parker und Pi am Leben. Pi erkennt, dass er sich mit dem Tiger arrangieren muss. Hierfür muss er zum einen seine Angst überwinden, denn sein Vater lehrte ihn in einer grausamen Lektion die Gefahr dieses Tieres – und zum anderen einen Weg finden, mit Richard Parker zurechtzukommen. Außerdem warten weitere Herausforderungen auf ihn: Er braucht Nahrung und Wasser, muss Stürmen und Haien trotzen, vor allem aber darf er nicht die Hoffnung verlieren.
Erzählweise und Deutungsmöglichkeiten
Vom Anfang des Buches „Schiffbruch mit Tiger“ von Yann Martel an steht fest, dass Pi diese Reise überleben wird, da er in Kanada einem Schriftsteller diese Geschichte erzählt. Der Schriftsteller wurde von Pis altem Freund Adirubasamy nach Kanada geschickt wurde, der ihm prophezeit hatte, durch Pis Geschichte werde er an Gott glauben. Diese Rahmenerzählung bedeutet aber noch etwas anderes: Wenn es nicht um Pis Überlebenskampf geht, dann muss die Geschichte eine weitere Bedeutung haben und sie bietet sehr viele Anknüpfungspunkte und Deutungsmöglichkeiten: Durchwoben mit Überlegungen zu Religion, Theologie und Zoologie, wird eine abenteuerliche, fast unglaubliche Geschichte eines Jungen erzählt, der Schiffbruch mit einem Tiger erleidet, die voller Phantastik-Symbole steckt. Daneben gibt es komische und dramatische Momente. Doch durch diese Uneindeutigkeit wird das Buch letztlich auch geschwätzig und inkonsequent. Wenn sich die Hauptfigur dazu entschließt, Christ, Moslem und Hindu zu sein, so mag es für ein Kind noch einen Versuch darstellen, sich die Welt zu erklären. Doch letztlich fehlt diesem Gedanken eine weitere Verarbeitung. Vielmehr macht sich auch der erwachsene Pi die Welt so, wie es ihm gefällt. Das funktioniert insbesondere bei der Kerngeschichte des Schiffsbruchs mit dem Tiger wunderbar. Hier zeigen sich die Vorteile der Uneindeutigkeit und des Phantastischen, doch als Stilmerkmal und insbesondere in dem Versuch, der Geschichte eine religiöse Dimension zu verleihen, misslingt dieser Ansatz.
Unterhaltsam, aber esoterisch
Daher ist es der Mittelteil, in dem Pis Zeit mit Richard Parker erzählt wird, der das Buch zu einer unterhaltsamen Lektüre macht. Pis Erlebnisse auf dem Rettungsboot, der zunehmende Verfall seines Körpers und auch seine seelische Verfassung sind eindringlich beschrieben, wenngleich es auch hier mitunter weniger Wörter bedurft hätte. Aber hier wird bereits der Weg angedeutet, auf dem das Buch in meinen Augen am ehesten funktioniert: als Verarbeitung eines Traumas. Und so kann ich zwar verstehen, dass dieses Buch sehr vielen Lesern gefällt. Es wurde immerhin über 7 Millionen Mal weltweit verkauft und sogar mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Mir jedoch war es zu esoterisch.
Die Verfilmung in 3D
Bereits 2002 hat Elizabeth Gabler für FOX die Filmrechte erworben und mit dem Produzenten Gil Netter an dem Projekt gearbeitet. Schließlich stieß Ang Lee zu ihnen und hat vier Jahre lang die Ideen weiter entwickelt. Wie viele Romane galt auch „Schiffbruch mit Tiger“ als nicht-verfilmbar. Aber hier beweist Ang Lee insbesondere durch den Einsatz der 3D-Technik das Gegenteil. Durch die dritte Dimension werden die außergewöhnliche Situation, in der sich Pi befindet, sein Staunen, die schönen und grausamen Erlebnisse unmittelbar für den Zuschauer erfahrbar. Unterstützt durch eine mitunter subjektive Kamera zeigen sich manche Bedrohungen unmittelbar – aber auch die berückenden Reize der Natur. Insbesondere die realitische Darstellung des Tigers, der komplett am Computer entstanden ist, ist beeindruckend. Daher ist Ang Lees Verfilmung „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“ ein visuell berauschendes Kinoerlebnis und zugleich eine Adaption, die sehr nah am Buch bleibt.
Der Erzählsituation im Film
Gelungen ist vor allem die Umsetzung der Erzählsituation des Romans: In „Schiffbruch mit Tiger“ erzählt der Schriftsteller eine Geschichte, die zugleich aber das Entstehen seines Romans beinhaltet. In dem Film fasst Drehbuchautor David Magee die Rahmenhandlung des Romans gut zusammen und lässt dadurch den Regisseur eine Geschichte erzählen. Sowohl Buch als auch Film beginnen daher mit dem Zusammentreffen von einem Schriftsteller und dem mittlerweile erwachsenen Pi (im Film gespielt von Irrfahn Kahn). Pi erzählt von seinem Leben und der Film verlässt sich nicht nur auf die gesprochenen Worte, sondern bebildert sie eindrucksvoll – wenngleich die Liebesgeschichte verzichtbar ist. Dabei ist es Irrfahn Kahn zu verdanken, dass die Wandlung des naiven und stürmischen Teenagers zu einem Mann glaubhaft ist. Er verleiht ihm sehr viel Tiefe, Wärme und Überzeugungskraft.
Durch die Nähe zum Buch weist der Film dieselben inhaltlichen Schwächen auf, allerdings fallen sie hier weniger ins Gewicht. Dafür ist „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“ visuell zu überwältigend. Leser des Buchs werden daher von der Verfilmung begeistert sein. Und allen anderen bleibt immer noch ein eindrucksvolles Seh-Erlebnis.
Der Film startet am 26. Dezember 2012 in den deutschen Kinos.
Yann Martell: Schiffbruch mit Tiger. Übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag 2003.
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