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Interview mit Attica Locke

Zu Attica Lockes neuen Roman habe ich nicht nur das Nachwort geschrieben, sondern auch für den Polar Verlag ein Interview mit ihr geführt.
Warum schreiben Sie Kriminalromane?

Mich fasziniert die Psychologie von Menschen, die Verbrechen begehen. Außerdem erlauben Krimis, gesellschaftliche Themen zu erforschen, ohne polemisch oder didaktisch zu wirken.

 „Bluebird, Bluebird“ und „Heaven, My Home“ sind die ersten beiden Teile eine der Highway-59-Reihe – wie würden Sie sie beschreiben?

Die Reihe folgt Texas Ranger Darren Matthews, der Ermittlungen zu Verbrechen in kleinen Städten am Highway 59 im Osten von Texas durchführt. Meine Familie – sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits – kommt aus Kleinstädten am Highway 59. Ich bin mit Fahrten auf diesem Highway zu meiner Verwandtschaft aufgewachsen, das ist ein wichtiger Teil meiner Lebensgeschichte und des Lebens meiner Vorfahren. Ich wollte über die Schwarzen Texaner in Ost-Texas schreibe.

Foto: Carsten Klindt

Warum ist Ihre Hauptfigur ein Texas Ranger?

Als ich beschloss, eine Reihe zu schreiben, wusste ich, dass ich eine Hauptfigur brauche, die in jedem Buch vorkommt. Da es aber um den Highway 59 gehen soll, der von Laredo im Süden bis Texarkana im Norden führt, durfte die Hauptfigur nicht zu sehr an einen Ort gebunden sein. Die Zuständigkeit der Texas Ranger ist viel weiter gefasst als die anderer Stafverfolgungsbehörden im Staat. So kam ich auf die Idee, die Hauptfigur zu einem Texas Ranger zu machen.

In Deutschland denken die meisten bei „Texas Ranger“ wohl an die Serie mit Chuck Norris. Wie werden sie in Texas und in USA gesehen?

Wie Sie haben die meisten Menschen in den USA vermutlich lediglich eine Ahnung, was ein Texas Ranger eigentlich ist – und diese beruht vermutlich ebenfalls auf besagter Fernsehserie. In Texas hingegen gelten sie als Eliteeinheit. Es gibt nur rund 150 Texas Ranger in dem gesamten Staat. Und sie dürfen gegen andere Strafverfolgungsbehörden ermitteln. Sie sind wie ein Mini-FBI.

Wie die Vorstellung der Texas Ranger ist auch die Vorstellung von Texas sehr von Büchern und Filmen geprägt, Ihre Romane erweitern dieses Bild.

Ich wollte, dass die Leute bei Texas nicht nur an weiße Rancher denken, sondern auch an einen Ort, an dem Schwarze Cowboys und Farmer leben. Der Osten von Texas unterscheidet sich zudem sehr vom Südwesten des Bundestaates, er ist dem amerikanischen Süden viel ähnlicher. Denken Sie also an Kiefern und Bäche statt an Kakteen und Wüste.

 Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Texas beschreiben?

Es ist ein großer Teil meiner Identität. Ich liebe, woher ich komme. Aber meistens mag ich die Politik in Texas nicht. Es ist eine komplizierte Beziehung: Ich liebe es, ich liebe es, “nach Hause” zu kommen, aber ich betrachte auch Kalifornien als mein Zuhause.

Die Frage, was Heimat eigentlich ist, wird in beiden Romanen erforscht. Was ist Heimat – auch für Sie?

„Heaven, My Home“ behandelt Heimat noch expliziter als der erste Roman und erzählt davon, wie schwierig es für Schwarze Amerikaner und Natives sein kann, sie zu definieren. Was bedeutet Heimat für die Caddo, von denen die meisten heutzutage in Oklahoma leben, was nicht ihre Heimat ist? Und was bedeutet Heimat für Schwarze, die in der Zeit der Sklaverei aus Afrika auf eine Plantage gebracht wurden?

Heimat ist – auch für mich – ein unsicheres Konzept. Ich lebe in Los Angeles, aber ein Teil meiner Seele lebt in Osttexas, wo meine Vorfahren herkommen.
Zu dieser Heimat und ihren Romanen gehört zweifellos auch der Blues, schon der Titel „Heaven, My Home“ ist ein Verweis auf einen Blues-Song. Was bedeutet Ihnen diese Musik?

Bluesmusik gibt mir das Gefühl, eng mit meiner Herkunft verbunden zu sein. Insbesondere Lightnin Hopkins ist meine Muse. Seine Musik ist so, wie ich auf dem Papier sein will: Schlau, lustig, weise und ehrlich.

Ich höre immer Musik, wenn ich schreibe. Sie hilft mir, in die richtige Stimmung zu kommen, sie hilft mir, mein Herz und meinen Verstand anzuregen. Und ich denke gerne, dass meine Prosa einen poetischen Stil hat, dass Musik meinen Stil prägt. Außerdem erwähne ich auch gerne Songs in den Büchern, sie verstärken das Gefühl für den Ort, denke ich.

(c) Polar Verlag

Ihre Romane sind sehr gegenwärtig, ich konnte die Agonie, die Verwirrung und auch Angst nach der Wahl Trumps fast spüren. Warum spielt der Roman zwischen der Wahl und Inauguration Trumps?

Aufgrund der Ereignisse am Ende von „Bluebird, Bluebird“ musste ich die Geschichte innerhalb von Wochen nach diesen Geschehnissen aufgreifen. Es wäre unglaubwürdig gewesen, dass sechs Monate oder ein Jahr vergangen sind, ohne dass zwischen Darren und seiner Mutter etwas wegen der Waffe geschehen wäre. Also beginnt „Heaven, My Home” ungefähr sechs Wochen nach „Bluebird, Bluebird”, was bedeutet, dass Trump zwar gewählt war, aber noch nicht im Amt. Letztlich hat es mir auch die Möglichkeit gegeben, eine Art „tickende Uhr” zu schaffen – ein Gefühl der Dringlichkeit unter den Texas Rangers und der Federal Task Force, Anklage gegen eine White-Supremacist-Gruppe zu erheben, bevor ein White Supremacist sein Amt antritt.

Wie haben Sie auf die Wahl Trumps reagiert?

Ich war am Boden zerstört. Sie fühlte sich an wie eine Zurechtweisung für die Fortschritte, die gegen Rassendiskriminierung unternommen wurden und von denen ich hoffte, sie würden weitergehen. Seit seiner Wahl bin ich voller Zorn. Ich bin die ganze Zeit über deprimiert und wütend.

Vergebung ist ein wichtiges Motiv in „Heaven, My Home“ – der Satz, „Schwarze sind die versöhnlichsten Menschen auf der Welt“ fällt einige Male. Wie stehen Sie dazu?

Ich denke, dass diese Aussage wahr ist. Aber ich denke auch, dass die Zeile im Buch, dass wir nicht wissen, ob es uns zu Heiligen oder Handlangern macht, ebenfalls wahr ist. Black Forgiveness richtet sich oftmals gegen uns: Es ist ein Schauspiel, dass einige Weiße tröstet und sie davon abhält, ihr rassistisches Verhalten zu ändern.

Attica Locke (c) Mel Melcon, Los Angeles

Geschichte ist für Ihre Romane ebenfalls wichtig. Wie haben Sie sie recherchiert – und was bedeutet Geschichte für Sie?

Ich bin nach Jefferson, Texas gefahren, habe Zeit am Caddo Lake verbracht. Außerdem habe ich viel zu der Geschichte der Gegend gelesen, viele Bücher über die Caddos und die Zeit in Jefferson vor dem Bürgerkrieg.

An Geschichte denke ich mit Faulkner: Es ist etwas, was immer bei uns ist und nichts, was man von der Gegenwart trennen kann. Wie gehen immer Seite an Seite mit den Geistern unserer Geschichte.

Ich habe gelesen, dass das Buch durch eine Hochzeit auf einer Plantage inspiriert wurde …

Im Jahr 2004 war ich auf einer Hochzeit auf der Oak Alley Plantage in Vacherie, Louisiana. Ich war noch nie zuvor auf einer Plantage und die Gefühle haben mich überwältigt … aber auch verwirrt. Warum haben sich ein weißer Mann und eine Schwarze Frau dazu entschieden, auf dem blutgetränkten Land einer Plantage zu heiraten? Ich wartete den ganzen Abend darauf, dass jemand eine Rede hält und etwas Poetisches dazu sagt, wo wir sind und warum … dass wir uns alle dort versammelt hatten, um dieses geschundene Land mit Liebe zu erneuern und als Anerkennung dafür, wie weit wir in diesem Land nun gekommen ist.

Dann war ich zutiefst enttäuscht als sich herausstellte, dass das Brautpaar den Ort lediglich aufgrund seiner Schönheit ausgesucht hatten, dass sie sich nicht für die Geschichte interessierten. Damit begann meine Faszination für historischen Tourismus und die Art und Weise, wie diese Stätten umgestaltet und neu genutzt werden. Es erlaubt den Menschen zu vergessen, was auf Plantagen in den USA wirklich passiert ist. Ich war so verstört von alle dem – also habe ich ein Buch geschrieben.

 

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Nachwort zu “Heaven My Home” von Attica Locke

Am 2. Oktober 2019 wurde die Polizistin Amber Guyger in Dallas zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil sie im Jahr zuvor den Buchhalter Botham Jean erschossen hat, als er in seiner Wohnung vor dem Fernseher saß und Eiscreme gegessen hat. Botham Jean war ihr Nachbar – Amber Guyger hatte die Wohnungen verwechselt und dachte, er sei ein Einbrecher. Nach der Verkündung des Urteils hat Botham Jeans jüngerer Bruder Brandt um das Wort gebeten und in einer kurzen Ansprache Amber Guyger vergeben. Dann bat er, die Verurteilte umarmen zu dürfen. Dieses Bild ihrer Umarmung, diese Geste der Versöhnung, wurde weithin gefeiert, gepriesen – und scharf kritisiert. Denn Amber Guyger ist weiß, Botham und Brandt Jean sind Schwarz.

Foto: Carsten Klindt

„Schwarze sind die versöhnlichsten Menschen auf der Welt“, sagt der alte Leroy Page mehrmals in Attica Lockes „Heaven, My Home“ – und Lockes Hauptfigur, der Schwarze Texas Ranger Darren Matthews, erkennt zunächst nicht, ob Page es stolz oder beschämt sagt. Erst beim zweiten Mal bemerkt er die Bitterkeit in Pages Stimme. Als Attica Locke „Heaven, My Home“ schrieb, lagen die Schüsse auf Botham Jean noch in der Zukunft. Aber es gibt unzählige Beispiele, bei denen Schwarze weißen Tätern vergeben haben. Das Konzept der Vergebung, der forgiveness, reicht zurück in die Zeit der Sklaverei, es hatte Bestand durch die Jim-Crow-Ära und wurde in der Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King jr. noch einmal bestärkt: „Forgiveness is not an occasional act, it is a constant attitude“. Mit Vergebung sei Fortschritt zu erreichen, Vergebung sei der Weg in die Zukunft.

Unumstritten war dieses Konzept niemals, am berühmtesten ist wohl Malcolm Xs „We will fight back“. Und auch an den jüngsten medialen Vergebungen entzündete sich breite Kritik. Das kulturelle Ritual der Vergebung funktioniert in eine Richtung: Schwarze vergeben Weißen. Sie vergeben, weil sie – wie es Roxane Gay in der New York Times formulierte – überleben müssen. Vergebung soll ermöglichen, in einer rassistischen Gesellschaft zu leben und sowohl historische wie auch gegenwärtige Schmerzen anzuerkennen. Doch wohin, fragt sich nun Darren Matthews bei Attica Locke, hat die Vergebung geführt?

Vergebung als kollektives Bedürfnis verlangt, den Zorn über die Abwertung und Verletzung zu unterdrücken; Morde, Gewalt und Ungerechtigkeiten hinzunehmen, Loyalität gegenüber den Unterdrückern zu bekunden. Deshalb kann sie helfen, sich der Kriminalität und Grausamkeit systemischer Ungerechtigkeit und Gewalt zu stellen, mit der Vergangenheit abzuschließen. Aber sie kann auch zu einem rituellen Vergessen führen; sie beseitigt die Unterdrückung nicht, fordert keine Reue oder Wiedergutmachung, bringt keine radikalen sozialen Veränderungen. Schwarze vergeben, aber die, denen sie vergeben, machen weiter, ja, sie wählen sogar einen Rassisten ins Weiße Haus. Was also, so Darren Matthews, macht Vergebung aus ihnen: „Heilige oder Handlanger“?

Attica Locke (c) Mel Melcon, Los Angeles

In ihrem Buch liefert Attica Locke keine Antwort auf diese Frage, vielmehr spürt sie ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit nach. Die Wahl Donald Trumps ist für Darren Matthews ein „Verrat an der Versöhnung“, die Obama verkörpert hat. Zeitlich ist „Heaven, My Home“ zwischen der Wahl und Inauguration Donald Trumps angesiedelt, und auf jeder Seite ist zu spüren, dass sich die Stimmung im Land geändert hat. Lähmende Unsicherheit und Entsetzen prägen die eine Seite; Triumph die andere. In den vier Wochen, seit Trump gewählt wurde, haben Kirchen gebrannt, wurden Kinder in Schulkantinen bespuckt, wurde eine mexikanische Frau auf einem Supermarktparkplatz vor den Augen ihres Mannes und ihrer Kinder angegriffen. Matthews weißer Vorgesetzter bei den Texas Rangers fürchtet, durch das neue Weiße Haus könnten die Ermittlungen gegen die Arische Bruderschaft beendet werden. Matthews bester Freund, der weiße FBI-Agent Greg Heglund, glaubt, indem er einen Schwarzen einem Hassverbrechen überführt, könnte er dem Justizministerium vermitteln, dass das FBI jedes Hassverbrechen ernstnimmt und sie kein „liberaler Hokuspokus“ sind. Und Darren Matthews, einer der wenigen Schwarzen bei den Strafverfolgungsbehörden in Texas, „wundert sich ganz benebelt vor Wut darüber, was eine Handvoll verängstigter Weißer einer Nation antun konnte“.

Einst ist Darren Matthews aus Überzeugung und Liebe zu seinem Heimatstaat Texas Ranger geworden, er hat geglaubt, dass Veränderungen möglich sind – auch in Texas, in dem die Zeichen des Ku-Klux-Klans kaum verhüllt werden. Deshalb hat er sein Jura-Studium abgebrochen, nachdem er von der (tatsächlich stattgefundenen) brutalen Ermordung von James Byrd Jr. durch Rassisten in Jasper, Texas erfahren hatte. Sein Onkel William war ebenfalls ein Texas Ranger, er war überzeugt, das Gesetz würde die Schwarzen retten, weil es sie schütze, wenn man Verbrechen gegen Schwarze genauso eifrig verfolgt wie Verbrechen gegen Weiße. Damit verkörpert er eine Hoffnung: Wenn es mehr Schwarze Gesetzeshüter gibt, könnte das Leben von Schwarzen auch besser geschützt werden. Dagegen ist Williams Bruder Clayton, ein Strafverteidiger, überzeugt, dass das Gesetz eine Lüge ist, vor der Schwarze Schutz brauchen – denn es sind Regeln, die von Anfang an gegen sie gerichtet waren. Dieser Konflikt zwischen seinen Onkeln, bei denen er aufgewachsen ist, bestimmt Darren Matthews Leben – und nun fragt er sich, ob Clayton nicht doch richtig lag, wenn er sagte, dass „Gerechtigkeit stets relativ“ sei.

Darren Matthews ist geprägt durch seine Erziehung und seine Erfahrungen, er ist mit den Geschichten der Bürgerrechtsbewegung groß geworden, mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die nun zerstört scheint. Dazu kommt die Widersprüchlichkeit, als Schwarzer in diesem Bundesstaat zu leben, ihn zu lieben, obwohl ihm Hass entgegenschlägt. „I make heaven my home, I shall not be moved“ lautet die Zeile des Blues-Songs, der diesem Roman seinen Namen gegeben hat – und der den Schmerz umfasst, kein tatsächliches Zuhause zu haben, keine Heimat, die an einen konkreten Ort gebunden ist. Dazu kommt aber in der Gegenwart der Wille, sich nicht vertreiben zu lassen, abermals die eigene Geschichte auslöschen zu lassen.

Diese Widersprüchlichkeit und die schwierige Geschichte machen Texas zu einem sehr geeigneten Ort für Kriminalliteratur. Schon Jim Thompson verortete sein Central City in „The Killer Inside Me“ in Texas, Joe R. Lansdale spürt seit Jahren den Verwerfungen der US-amerikanischen Gesellschaft in kleinen osttexanischen Orten nach. Attica Locke nun widmet sich aus Schwarzer Perspektive der intrinsischen Widersprüchlichkeit des Lebens Schwarzer Texaner im Osten des Bundesstaats entlang des Highway 59. Er beginnt im Süden in Laredo und geht im Norden bis nach Texarkana. Würde man ihm über Texas hinaus folgen, käme man bis nach Minnesota, so als würde er die USA in zwei Teile schneiden. Dabei quert er Houston, vor allem aber reihen sich kleine Ortschaften an dieser Straße. Manche Siedlungen wie Hopetown am Caddo Lake, einst von befreiten Sklaven gegründet, sind noch nicht einmal auf der Karte verzeichnet. Sie liegt ganz in der Nähe von Jefferson im Nordosten an der Grenze zu Louisiana, wo einige Bewohner versuchen, mit touristischen Touren und Attraktionen von ihrer glamourösen Vergangenheit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg zu profitieren. Hier ermittelt Darren Matthews in dem Verschwinden des neunjährigen Levi.

(c) Polar Verlag

Wie in Attica Lockes erstem Matthews-Roman „Bluebird, Bluebird“ liegen wesentliche Elemente zur Lösung des Falls in der Geschichte des Ortes, die hier aktiv umgeschrieben werden soll. Die einflussreiche, wohlhabende, weiße Rosemary King will den Schmerz der Sklaven und Natives nicht nur aussparen, sondern sie abermals verraten, ausbeuten und vertreiben, sie auslöschen aus der Geschichte. Die grausamen Spuren der Vertreibung der Caddos, die nun überwiegend in Oklahoma leben, das Blut der Sklaverei werden weggewischt, stattdessen will sie an die wirtschaftliche Blütezeit erinnern, ohne zu erwähnen, worauf dieser Wohlstand fußt. Es bleiben ausladende Kleider, herrschaftliche Anwesen und Raddampfer sowie das blühend weiße Bild einer Stadt, die einst an einer wichtigen Handelsroute lag. Doch diese Orte sind auch die Heimat von einem Schwarzen Mann wie Leroy Page, von den Haisnai, die zu den Caddos gehören, die von den Weißen vertrieben wurden. Ihr Wort für Verbündete ist „tayshas“, es hat dem Staat Texas seinen Namen gegeben, dessen Staatsmotto noch immer Freundschaft ist. Aber Verbündete waren die Weißen nie – und auch in der Gegenwart entstehen Zweifel an der Verbundenheit sogar in langjährigen Freundschaften wie der von Darren Matthews und Greg Heglund.

Attica Locke erzählt, wie vielfältig sich die Geschichte in ein Land und die Menschen einschreibt. Bei Darren Matthews ist durch die Geschichten, die ihm erzählt wurden, die vielen Ungerechtigkeiten und geerbten Vorurteile eine Blindheit gegenüber den Verfehlungen älterer Schwarzer Männer entstanden, als müsse er für die Gerechtigkeit sorgen, die sie nicht erfahren haben: „Entweder sie oder wir, stimmt’s“? Doch zugleich will er die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht ganz fallenlassen, er will nicht glauben, dass ein neunjähriger Junge, aufgewachsen mit einem Vater aus der Arischen Bruderschaft, zwangsläufig ein Rassist wird. Und er hadert damit zu verstehen, warum die Enkelin des alten Mack nichts dabei findet, wenn ein weißer Mann sie rassistisch beleidigt. Vielleicht hat sie andere Erfahrungen gemacht als er, vielleicht sind die Geschichten der Bürgerrechtsbewegung zu weit weg für sie.

„Bluebird, Bluebird“ hat gezeigt, dass man die Gegenwart besser verstehen kann, wenn man die Vergangenheit voll und ganz kennt. „Heaven, My Home“ erzählt nun, dass diese Kenntnisse nicht immer zu mehr Klarheit in der Gegenwart verhelfen. Doch Geschichte kann man nicht entkommen. Sie begleitet und prägt die Menschen, sie lässt sich nicht lösen von der Gegenwart – für niemanden.

Attica Locke: Heaven My Home. Übersetzt von Susanna Mende. Polar Verlag 2020.

Dieser Text ist mein Nachwort zu Attica Lockes “Heaven My Home” und zuerst in dem Buch bzw. auf der Seite des Polar Verlags erschienen.

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Krimi-Kritik: „Ein Job für Delpha“ von Lisa Sandlin

(c) Suhrkamp

Scheinbar harmlos kommt „Ein Job für Delpha“ am Anfang daher: Delpha Wade wurde nach vierzehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen und sucht nun im texanischen Beaumont des Jahres 1973 einen Job und eine Unterkunft. Ihr Bewährungshelfer hat ihr die beiden Ratschläge mit auf den Weg gegeben, sie solle so tun, als sei sie ruhig und entspannt – und sie solle fragen und bitten. Daran hält sich Delpha bei ihren anfangs erfolgslosen Versuchen, wieder Fuß zu fassen. Dann vermittelt ihr ihr Bewährungshelfer ein Bewerbungsgespräch bei Tom Phelan. Der Vietnam-Veteran hat bei einem Unfall auf der Bohrinsel den Mittelfinger an seiner linken Hand verloren und das Geld aus der Versicherung dafür genutzt, ein Privatdetektivbüro aufzumachen. Nun sucht er eine Sekretärin und ehe er sich für eine der aufreizenden Mitbewerberinnen entscheiden kann, hat Delpha den Job. Denn Delpha hat eine wichtige Eigenschaft: Sie erkennt Chancen und nutzt sie. Auf diese Weise hat sie auch schon ein Zimmer bekommen und genießt nun die Dinge, die sie lange Zeit nicht hatte: einen Raum für sich und die Möglichkeit zu entscheiden, was sie tun will.

Wir folgen Delphas weiteren Schritten, tagsüber arbeitet sie als Sekretärin, abends kümmert sie sich um die pflegebedürftige Tante ihrer Vermieterin. Im Hintergrund schwelen die Anhörungen zum Watergate-Skandal, der Vietnamkrieg geht zu Ende, Nixons Rücktritt steht bevor. Die Fälle, mit denen es Delpha und Tom zu tun bekommen, sind alltäglich: ein Junge kehrt nicht nach Hause zurück, ein untreuer Ehemann, ein potentielles tierisches Vergiftungsopfer und so weiter. Dennoch kann von Ruhe kaum die Rede sein, vielmehr schleichen sich immer mehr Unruhen und dunkle Ahnungen ein. Tom entdeckt Ungereimtheiten in einem Fall – und Delpha trifft auf den Mann, der sie einst in Gefängnis brachte. Damals arbeitete sie als Kellnerin und wurde von einem Mann und dessen Sohn überwältigt und vergewaltigt. Sie tötete den Sohn, der Vater aber konnte entkommen und hat sie mit einer falschen Aussage ins Gefängnis gebracht. Nach diesem Wiedersehen kann Delpha nicht anders als sich zu fragen, ob sie sich an ihm rächen will. Aber sie weiß, sie wäre die erste Verdächtige. Und sie weiß auch, dass sie sich unbedingt an das Gesetz halten muss, wenn sie nicht wieder ins Gefängnis will. Weiterlesen

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Gedanken zu „Wüste der Toten“ von Urban Waite

(c) Droemer Knaur

(c) Droemer Knaur

Es ist die Aussichtslosigkeit, die dieses Buch bestimmt. Als Ray Lamar vor zehn Jahren entschieden hat, für das Drogenkartell von Memo zu arbeiten, hat er damit seinem Leben – und dem seiner Familie – eine Wendung gegeben, die sich weder umkehren noch korrigieren lässt. Er hat seine Frau verloren, seine Heimatstadt und seinen Sohn verlassen, doch er ist seither von dem Wunsch getrieben, wieder zurückzukehren. Und nach zehn Jahren nutzt er dafür einen wahnwitzigen Vorwand: Ein letzter Job für Memo, der ihm das nötige Geld für einen Neuanfang einbringen soll. Von der ersten Minute an ahnt Ray, dass die Sache schief gehen wird. Aber seine Hoffnung bringt alle Zweifel zum Schweigen – und als er schließlich erkennt, dass es keinen Weg zurück mehr gibt, bleibt ihm nur noch Rache.

Rays Cousin Tom hat sich hingegen niemals für das Leben als Verbrecher entschieden. Er war Sheriff dieser Stadt, bis er sich zu einer Tat hinreißen ließ, die sein Leben veränderte. Diese Tat hing natürlich mit seinem Cousin zusammen, und doch hat Tom diese Entscheidung getroffen und will nicht einsehen, dass weder er noch Ray Gelegenheit bekommen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.

„Wüste der Toten“ ist kein Kriminalroman in dem Sinne, dass ein Verbrechen geschieht und aufgeklärt wird. Vielmehr erzählt Urban Waite von dem Scheitern, das nach Entscheidungen beinahe zwangsläufig eintritt, der Perspektivlosigkeit und einem Landstrich, in dem mexikanische Drogenbarone die treibende Wirtschaftskraft sind. Es ist eine Gegend ohne Perspektiven, ebenso trostlos wie die Wüste, hier kreisen bereits die Aasgeier, die im Original den Titel geben. Deshalb kann es in Rays Leben nur eine Richtung geben: bergab. „Wüste der Toten“ ist daher ein trostloses, ein staubtrockenes und knurrig-gutes Buch.

Urban Waite: Wüste der Toten. Übersetzt von Marie-Luise Bezzenberger. Droemer Knaur 2014.

Nachbemerkung: Abgesehen davon, dass Urban Waites Autorenseite ein schönes Intro hat, ist dort auch ein Autorenfoto von ihm zu finden. Normalerweise mache ich mir über das Aussehen von Autoren keine Gedanken, ich würde auch nur wenige Autoren erkennen. Aber da ich mir unter Urban Waite einen etwas jüngeren, aber mindestens 50-jährigen Cormac McCarthy vorgestellt habe, war ich doch überrascht.

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