Statt Baltimore sind die Schauplätze in Gavin Knights „The Hood“ Manchester, London und Glasgow, und sein Buch ist mindestens so schockierend wie die Fernsehserie „The Wire“. Nüchtern, fast referierend erzählt Gavin Knight von der Jugendkriminalität in diesen britischen Städten. Und er weiß, wovon er schreibt: Wie David Simon war Gavin Knight Reporter. Er arbeitete für den „Guardian“, die „Times“ und „Newsweek“, hat für das Buch zahllose Interviews geführt und einen Undercover-Ermittler begleitet. Daher basieren die Geschichten in seinem packenden Buch auf wahren Ereignissen.
Manchester – „Die überfallen keine Beerdigungen“
Seit 23 Jahren ist Anders Svensson Polizist. Seine erste Ehe mit einer Polizistin ist bereits gescheitert, in seiner zweiten Ehe kriselt es bereits sehr. Karriere wollte er nicht machen, deshalb hat er alle Beförderungen abgelehnt und arbeitet weiterhin an vorderster Front bei der XCalibre, der Einheit für Bandenkriminalität. Seine Taktik ist effektiv: Mit Ruhe und Geduld baut er sich ein Informanten-Netz auf, indem er die Mütter und Freundinnen von inhaftierten oder getöteten Bandenmitgliedern immer wieder besucht und ihr Vertrauen gewinnt. Irgendwann beginnen sie von alleine, ihm etwas zu erzählen. Die Hauptziele seiner Ermittlungen sind aber Merlin, der psychopathische Anführer einer Gang, und Flow, Merlins ruhiger Killer. Sie will er um jeden Preis überführen.
Diese erste Geschichte erzählt vor allem von Anders Svenssons Jagd nach Merlin und Flow, durch die zugleich die Problematik bei der Bekämpfung von Jugendkriminalität deutlich wird: Geld und Ressourcen fehlen, außerdem bekommen jugendliche Straftäter sehr schnell Bewährung. Aber wäre es eine Alternative, 16-Jährige bei ihrem ersten Vergehen lebenslang wegzusperren? Vor allem schockiert und überrascht die Brutalität der Gangs, die sich wohl auch ein Vorbild an „The Wire“ genommen haben. So zitieren sie aus der Fernsehserie und Pacman, einer von Merlins Lieutenants, ist bekannt dafür, wie Omar Little aus „The Wire“ in Kevlarweste zu posieren.
London – „Gefürchtet zu werden bedeutet, respektiert zu werden“
Schon als Teenager hat Pilgrim seine Verbrecherkarriere begonnen. Er wurde von seinem Vater von Jamaika nach London geholt, um dort mit seiner Stiefmutter und seinem Stiefbruder zu leben, die nicht sonderlich erfreut über seine Anwesenheit waren. Sein Vater ist ein Spieler, der sich kaum um seinen Sohn kümmerte. Auf der Suche nach Anerkennung und Verlässlichkeit ist Pilgrim bei einer Gang gelandet und hat sich einigen Respekt erarbeitet. Aber dann wird er bei einem Raubüberfall mit drei Dilettanten gefasst und kommt ins Gefängnis. Als er wieder frei kommt, haben sich die Regeln verändert: Selbst vor den Familien wird nicht mehr Halt gemacht, stattdessen werden Mütter und Schwestern vergewaltigt, um sich Respekt zu verschaffen. Das Sagen hat ein 14-jähriger ehemaliger somalischer Kindersoldat namens Troll. Für ihn ist Gewalt ist das einzige Mittel, dass er zur Konfliktlösung kennt.
Schmerzlich wird vor allem das Fehlen einer Vaterfigur deutlich, außerdem auch die Überforderung von Schulen und Sozialdiensten bei Kindern aus anderen Ländern wie Pilgrim und Troll. Es ist einfach nicht damit getan, einem ehemaligen Kindersoldaten die Waffe wegzunehmen und ihn in ein vermeintliches besseres Leben zu schicken. Denn für sie ist Angst die einzige Art Respekt, die sie kennen.
Glasgow – „Wut ist gut“
Im Mittelpunkt des abschließenden Teils von Gavin Knights „The Hood“ steht die schottische Stadt Glasgow und ihre Bandenkriminalität. Als Karyn McCluskey ihre Arbeit bei der Violende Reduction Unit in Glasgow aufnimmt, werden 71 Morde im Jahr in der Stadt begangen, aber Studien weisen daraufhin hin, dass nur 30 Prozent der Gewalttaten überhaupt gemeldet werden. Außerdem hat sich trotz einer beeindruckenden Aufklärungsrate von 98 Prozent seit Jahren nichts an der Gewalt geändert. Diesen Zustand akzeptiert Karyn nicht, sondern sie bildet mit engagierten Polizisten, Sozialarbeitern und Ärzten ein Bündnis, um die Spirale der Gang-Gewalt zu durchbrechen. Dabei entdeckt sie die Arbeit des Amerikaner David Kennedy, der durch ein konfrontatives Gespräch beträchtliche Erfolge erzielte: Indem Gangs, Polizisten und Opfer miteinander sprachen, wurden die Gewalt in verschiedenen amerikanischen Städten reduziert. Diese Methode will Karyn auch in Glasgow anwenden – und sie scheint tatsächlich Erfolg zu haben.
Dazu werden in diesem eindrucksvollen dritten Teil exemplarische Lebensgeschichten erzählt, die vor allem Gewalt als gemeinsames Merkmal haben. Der Griff zu Drogen folgt dann fast in logischer Konsequenz. Und dabei wird vor allem deutlich, dass Gang-Kriminalität kein Problem von bestimmten Rassen oder Religionen, sondern hauptsächlich von Armut und Männern ist. Aber es gibt Lösungen und Wege aus der Gewalt, selbst wenn sie nicht perfekt sind.
Beeindruckend und schockierend
„The Hood“ führt eindrucksvoll vor Augen, dass die oftmals als typisch amerikanisch angesehenen Probleme längst auch in Europa anzutreffen sind – und zwar nicht in einem armen europäischen Land, sondern in einer wohlhabenden Industrienation wie Großbritannien. Für Kinder – beispielsweise in Glasgow – ist der Weg aus ihrem Viertel in die Innenstadt zu weit, daher ist ein anderes Leben erst recht in weiter Ferne. Sie kennen keine Alternative, keinen Ausweg. Und anstatt ihnen zu helfen, streiten Justiz-, Gesundheits- und Sozialwesen um Zuständigkeiten und Budgets. Auch hier trifft die Parallele zu den USA zu: Um die Öffentlichkeit zu beschwichtigen, werden kurzlebige Aktionen initiiert. Aber die Ursachen bleiben bestehen. Das ist schockierend – zumal es auch auf Deutschland zutreffen dürfte. Vermutlich ist ein solches Buch nur noch nicht geschrieben worden.