Krimi-Kritik: „Kein Opfer ist vergessen“ von Michael Harvey

(c) Piper

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Die Fernsehserie „Cold Case“ mochte ich immer recht gerne. Die Fälle waren meist gut, die Charaktere sympathisch und lange Zeit hielten sich die privaten Verwicklungen auch im Hintergrund. Vor allem aber haben mir die Musik in den historischen Rückblenden und die leicht kitschigen zusammenfassenden Bilder am Ende der Folge gut gefallen. Dann verleidete mir eine kaum zu durchschauende Sendereihenfolge die Serie, ich wurde älter und kritischer und hörte auf, sie zu gucken. Als ich vor kurzem jedoch in dem Programm von Piper auf einen Krimi von einem der Drehbuchautoren und Entwickler der Serie stieß, dessen Cover schon an die typisch blaue Farbgebung der Serie erinnert, war meine Neugier geweckt – und dankenswerterweise bekam ich ein Rezensionsexemplar.

Im Mittelpunkt von Michael Harveys Thriller „Kein Opfer ist vergessen“ steht der Jahre zurückliegenden Mord an einem 14-jährigen Jungen. Der vermeintliche Mörder wurde damals verurteilt und später im Gefängnis ermordet, nun wurde jedoch Jake Havens ein Brief zugespielt, der an der Schuld des Täters zweifeln lässt. Da Jake gerade an einem Seminar der angesehenen Medill School of Journalism teilnimmt, in dem zurückliegende Fälle neu untersucht werden, nimmt er sich diesem Fall zusammen mit seinen Kommilitonen Sarah Gold und Ian Joyce – dem Erzähler – an. Bald decken sie weitere Ungereimtheiten auf, stoßen auf ähnliche Mordfälle und werden bedroht. Anscheinend sind sie einer großen Geschichte auf der Spur.

Mit präzisen und lebendigen Beschreibungen weckt Michael Harvey die Handlungsorte mühelos zu Leben, auch ist der Fall im Grunde genommen spannend. Leider hat sich Michael Harvey aber nicht einer Idee konsequent und tiefgehend gewidmet, sondern zahllose Nebenschauplätze und Nebenhandlungen eingebaut, die so unnötig sind wie die romantischen Verwirrungen der drei Hauptfiguren. Ohnehin sind sie die Schwachpunkte des Romans: Jake Havens wird auf seine Genialität und die damit einhergehende Überheblichkeit sowie ein Erlebnis in der Vergangenheit reduziert, Sarah Gold kommt kaum über das Klischee der hübschen, engagierten Nachwuchsjournalistin heraus, der alle Jungs verfallen. Sicherlich liegt es zum Teil an der personalen Erzählweise aus Sicht von Ian, dass sie in der Wahrnehmung stagnieren. Allerdings wird sie nicht konsequent durchgehalten, sondern durch die unvermeidlichen Kapitel aus Sicht des Täters und Wechsel in die auktoriale Ebene unterbrochen. Daher hätten sie mehr Profil bekommen können.

Stattdessen ist auf den ersten Blick ersichtlich, wer in diesem Buch gut und wer böse ist, auch das „große“ Geheimnis ist durch schlecht platzierte Hinweise allzu schnell durchschaut. Das ist umso bedauerlicher als allein der eigentliche Handlungsstrang um den zurückliegenden Mordfall ausreichend Potential für einen guten, psychologisch komplexen Kriminalroman bietet. Doch hier wird nach dem Motto „lieber zu viel als zu wenig“ verfahren, so dass am Ende ein zwar zügig zu lesender, aber leider allzu oberflächlicher Kriminalroman entstanden ist.

Michael Harvey: Kein Opfer ist vergessen. Übersetzt von Gabriele Weber-Jarić. Piper 2013.

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