Nun ist geschafft: 14 Lesungen in drei Tagen, die letzten vier fanden heute statt. Insgesamt war es heute der kurzweiligste Tag – und zwar nicht, weil Burkhard Spinnen nach der Mittagspause ständig Literatur mit Suppe verglich, sondern weil Leif Randt und Thomas Klupp zwei sehr witzige Texte vorgelesen haben und sich die Jury hin und wieder in den Haaren lag.
Zu Beginn des Abschlusstages hat Leif Randt einen Auszug aus seinem Roman „Schimmernder Dunst über CobyCounty“ gelesen, in dem der Ich-Erzähler Wim von seinem Leben in dem künstlichen, scheinbar perfekten, an die Truman-Show erinnernden Ort CobyCounty erzählt. Voller witziger Anspielungen und mit viel Ironie schildert er sein Dasein, in dem sämtliche Klischees wahr geworden scheinen. Dass diese scheinbare Idylle nicht erhalten bleibt, klingt zunächst in Kleinigkeiten an, ehe dann am Ende des Textes Wims bester Freund Wesley eine Warnung seiner Mutter übermittelt. Spätestens dann ist offensichtlich, dass CobyCounty eine Blase ist, die auf einen Abgrund zusteuert. Oder in Worten von Hubert Winkels eine „Dystopie als Utopie“. Mir haben insbesondere die Ironie des Textes und – wie könnte es anders sein – die eingeflochtenen Versatzstücke aus Film und Literatur gefallen. Die Anlage des Textes, die kleinen Hinweise auf die Brüche in dieser Welt und das Spiel mit Klischees lassen sich mich sogar über das – zumindest auf den ersten Blick – unnötige Setting in einem fiktiven englischen Seebad hinwegsehen. Die Jury war durchaus geteilter Meinung. Während Hubert Winkels und Daniela Strigl sich überzeugt zeigten, kritisierte insbesondere Paul Jandl die künstliche Realität und mangelnde Authentizität und erhielt in diesem Punkt die Zustimmung von Hildegard E. Keller.
Im Anschluss las dann Anne Richter die Erzählung „Geschwister“, in der – perspektivisch nicht immer eindeutig – das Verhältnis der Geschwister Fred und Ruth behandelt wird. Sie sind in einem Ort in Thüringen aufgewachsen, Ruth lebt mittlerweile im Westen und kehrt nun zur Beerdigung der Mutter heim. Der Plot klingt altbekannt, tatsächlich ist in diesem Text nicht viel Neues zu entdecken: eine Beerdigung, komplexe familiäre Beziehungen, Arbeitslosigkeit und ein wenig DDR-Erbe – alles recht schlicht erzählt. Die Jury war mehrheitlich ebenfalls nicht begeistert, konstatierte aber auch das erzählerische Talent von Anne Richter. Hildegard E. Keller war naturgemäß begeistert – sie hatte den Text ja auch eingeladen; Hubert Winkels fand hingegen erzählerisches Unglück vor. Für mich hat – bereits zum zweiten Mal an diesem Tag – Daniela Strigl den Nagel auf den Kopf getroffen, als sie beschrieb, die Geschichte handle von einer „dünnflüssigen Familie“.
Danach ging es dann in die Mittagspause. Und nachdem ich es gestern einfach für ein Versehen hielt – und in den Klagenfurter Texten direkte Rede gerade angesagt ist – möchte ich jetzt doch noch einmal etwas loswerden: „Frau Schortmann, moderieren Sie nicht mit Sonnenbrille!“
Im zweiten Block des Tages las Michel Božiković einen Auszug aus einem Roman, der mit „Wespe“ betitelt war. Dieses titelgebende Insekt hält einen lebensmüden Mann von seinem Selbstmord ab, danach wird es rasant: Er schlägt zwei Polizisten nieder, rast eine Straße entlang und findet sich letztlich in einem Krieg wieder. Mich störten vor allem die „dramaturgischen Schwächen“ (Strigl), die sich vor allem in dem fehlenden Handlungsort und Hinweisen auf die handelnde Person bemerkbar machen. Auch der Rest der Jury hatte Schwierigkeiten mit dem Plot, so dass Burkhard Spinnen letztlich zu dem oben angesprochenen Suppenvergleich griff: aus dem ganzen Topf (dem Roman) hat der Autor die falsche Kelle (den Auszug) gewählt. Dagegen war die Deutung von Alain Claude Sulzer weitaus interessanter. Er verwies auf eine Debatte in der Schweiz, in der es um Raser auf der Autobahn geht, die wohl oft aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen. Daher hat er den Text als den inneren Monolog eines solchen jungen Mannes gelesen. Das ist mal ein Ansatz – auch wenn mir ausnahmsweise mal Meike Feßmanns Hinweis auf die Jugendabenteuerliteratur der 1950er Jahre passender erscheint.
Zum Abschluss las dann der im Vorfeld hochgehandelte Thomas Klupp den Text „9to5 Hardcore“, ebenfalls ein Auszug aus einem Roman. In dieser Universitätssatire erzählt Robert Thaler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Kulturwissenschaften, von seiner Mitarbeit an einem Forschungsprojekt zu Internetpornographie. Gekonnt spielt der Text mit der Wissenschaftssprache, selbst die eingeflochtenen soziologischen Überlegungen fügen sich gut ein. Am Ende schwächt der Effekt dann etwas ab – aber gelungene Satire war der Text allemal. In meinen Augen zumindest, die Jury war sich darüber uneins. Paul Jandl fand den Text langweilig, Burkhard Spinnen griff erneut auf die Suppenmetapher zurück, Sulzer fand den Text komisch, „wenn auch begrenzt“. Daniela Strigl beschied hingegen, dass sie selbst als Universitätsangestellte sagen könnte, dass diese Satire nicht übertrieben sei.
Am Ende des Tages lautet nun die große Frage, wer die Preise gewinnen wird. Der Verleger Klaus Schöffling sah Maja Haderlap als große Entdeckung der Lesetage, und sie ist auch in meinen Augen die Favoritin für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2011. Kandidaten für den Publikumspreis sind hingegen Maximilian Steinbeis, weitaus stärker schätze ich allerdings Linus Reichlin und vor allem Leif Randt ein, dessen Text heute sehr gut angekommen ist. Mir persönlich fällt die Wahl recht schwer. Nach mehrmaligem Lesen finde ich Maja Haderlaps Beitrag schon sehr gut, außerdem sehe ich mich durch sie mit einer mir fremden Welt konfrontiert. Und gute Literatur hat diese Wirkung. In dem Beitrag von Leif Randt habe ich mich hingegen sogleich wohlgefühlt. Daher werde ich für ihn auch beim Publikumspreis stimmen – und gespannt warten, wie sich denn die Jury entscheidet …