Krimi-Kritik: „Unruhe“ von Jesper Stein

„Ich bin achtundreißig, geschieden, ich habe eine fünfjährige Tochter. Ich habe eines der am häufigsten durchgecheckten Herzen auf der Welt. Und ich habe panische Angst zu sterben“, sagt Kommissar Axel Steen eines Morgens zu sich selbst. Er ist Mordermittler bei der Kopenhagener Polizei, hat bei seinen Vorgesetzten aufgrund seines oftmals eigenmächtigen Handelns sämtlichen Kredit verspielt – sofern er jemals welchen hatte. Aber „(e)r wusste, er meckerte zu viel und beschwerte sich zu oft, nahm Abzweigungen vom Dienstweg, die jeglicher Rechtsgrundlage entbehrten. Seine Personalakte war voll von Dienstaufsichtsbeschwerden – eingereicht sowohl von Kriminellen, die behaupten, sie seien bedroht worden, als auch von Kollegen, die sich von ihm unter Druck gesetzt fühlten.“ Noch dazu denkt er dauernd an seine Ex-Frau Cecilie, die mittlerweile in einer neuen Beziehung mit einem Karrierejuristen des dänischen Geheimdiensts PET lebt, bekämpft seine Schlafprobleme mit einem Joint und wird tagsüber von gelegentlichen Kurzschlafattacken heimgesucht.

(c)  Kiepenheuer & Witsch

(c) Kiepenheuer & Witsch

Mit Axel Steen hat Jesper Stein in seinem Krimidebüt „Unruhe“ einen Ermittler mit vielen Macken geschaffen, aber natürlich ist er auch einer der besten Ermittler der Kopenhagener Polizei. Deshalb soll er mit seinem korrekten und bei den Vorgesetzten beliebten Kollegen mit dem sprechenden Namen John Darling auch einen brisanten Fall untersuchen: Während sich Polizei und Autonome aufgrund der Schließung eines alternativen Jugendzentrums im Stadtteil Nørrobro (neben Nordvest) Straßenschlachten liefern, wird eine Leiche gefunden, die auf einem Friedhof an einer Mauer lehnt. Der Mann trägt die Kleidung eines Autonomen und auf den Friedhof hatten nur Polizisten Zutritt. Sollte auch nur der Verdacht die Runde machen, dass die Polizei einen Autonomen ermordet hat, würde die Lage eskalieren. Deshalb sollen Steen und Darling den Fall so schnell und unauffällig wie möglich aufklären.

Die titelgebende Unruhe ist somit nicht nur Teil der Ermittlerfigur, sondern auch wesentliches Merkmal der Atmosphäre, in der Steen ermittelt. Längst sind Autonome aus ganz Europa auf den Weg nach Dänemark, die Presse beäugt die Arbeit der Polizei kritisch, die Chefs üben Druck aus und wollen das richtige Ergebnis erhalten. Dadurch erhält man beim Lesen nicht nur viele Eindrücke von der Stadt Kopenhagen, sondern auch von den medialen und polizeilichen Strukturen. Darüber hinaus verweist „Unruhe“ weitaus weniger ausgestellt als zuletzt beispielsweise Arne Dahls Eurocop-Reihe auf die europäische bzw. weltweite Dimension von Verbrechen und die Universalität von kriminellen Taten.

Am bemerkenswerten ist jedoch, dass „Unruhe“ der erste Fall mit Axel Steen ist, der als Figur viele genretypischen Entwicklungen schon hinter sich hat: die Ehe ist bereits gescheitert, Affären sind begonnen, er ist bei seinen Vorgesetzen schon in Misskredit geraten, hat aber durchaus noch einflussreiche Fürsprecher. Gelegentlich erinnert er sich an alte Fälle, die oftmals mit Lösung erzählt werden. Dadurch ist Axel Steen eine nicht unbedingt originelle, aber sehr runde, reife Hauptfigur. Ohnehin ist „Unruhe“ gerade für den oftmals gescholtenen skandinavischen Krimi erfreulich frei von Stereotypen. Axel ist nicht depressiv oder melancholisch, sondern von seiner Arbeit besessen und etwas selbstmitleidig. Der Fall ist nicht besonders düster oder grausam, sogar das Wetter spielt nur am Rande eine Rolle. Sicher gibt es einige störende Kleinigkeiten wie beispielsweise ein Handy, das gerade noch leer war, sehr schnell wieder benutzt werden kann. Auch sind alle Frauenfiguren sehr auf ihre Funktion für Axel bzw. den Fall beschränkt sind. Aber Jesper Stein behält die Übersicht über seine Handlung, der Fall ist spannend und ausgeklügelt, lediglich die letzte Wendung wäre nicht notwendig gewesen, und die titelgebende Unruhe gibt bis zur letzten Seite den Takt vor. Deshalb ist „Unruhe“ ein gelungenes Krimidebüt, das sehr viel Lust auf eine Fortsetzung macht.

Jesper Stein: Unruhe. Übersetzt von Patrick Zöller. Kiepenheuer & Witsch 2013.

Andere:
tatort:krimi

Diesen Beitrag teilen

3 Gedanken zu „Krimi-Kritik: „Unruhe“ von Jesper Stein

  1. My Crime Time

    Okay, jetzt ist es offiziell: ich komme derzeit mit dem Lesen nicht hinterher. In den vergangenen Wochen sind so viele gute Krimis erschienen, da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. “Unruhe” liegt hier auch schon bei mir herum. Bis dato hatte der Krimi absolut keine Priorität. Jetzt schon. Das Problem dabei ist nur, dass ungefähr zehn weitere Krimis auch Priorität haben – und du, liebe Sonja, bist daran nicht ganz unschuldig, denn einige Empfehlungen habe ich hier abgegriffen. Ach was soll’s, ich höre dann mal hier mit dem Gelaber auf und fange lieber an zu lesen … 😉

    Antworten
    1. Zeilenkino Beitragsautor

      Mancher Dinge bekenne ich mich ja allzu gerne schuldig. 🙂 Aber ich finde auch, dass in diesem Frühjahr auffällig gute Krimis erschienen sind – und mir fehlen noch so einige Titel …

      Antworten
  2. Pingback: Wenn sich verhärtete Fronten auflösen: „Unruhe“ von Jesper Stein | My Crime Time

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert