Heute ging es wieder, das Lesen um den Bachmannpreis, das offiziell „Tage der deutschsprachigen Literatur“ heißt. Drei Tage lang lesen 14 Autorinnen und Autoren aus ihren Texten, die von einer sechsköpfigen Jury interpretiert, gedeutet, bewertet und am Sonntag teilweise ausgezeichnet werden.
Den Auftakt am heutigen ‚Tag des Schamhaars’ (Daniela Strigl) machte Larissa Boehning, die auf Einladung von Meike Feßmann einen Auszug aus ihrem Romanmanuskript „Zucker“ gelesen hat. Darin erzählt sie von einem Versicherungsvertreter, der sich in das Haus und Leben einer an Knochenkrebs erkrankten älteren Dame einschleicht. Während sie ihn mit allerhand altmodischen Köstlichkeiten wie Ochsenzunge und Buttercremetorte versorgt, will er ihr Alleinerbe und endlich reich werden.
Die Zusammenfassung klingt abgründiger als der Text letztlich war. Obwohl mir die beinahe wechselnden Erzählperspektiven sehr gut gefallen haben, fehlte mir entweder Düsternis oder Komik in dem Text. Hubert Winkels hob hervor, dass der Text „well made“ sei – und schuf damit unfreiwillig ein Schlagwort, das in den Rest des Tages noch häufiger fiel – und betonte die Innenambivalenzen, die allerdings auch nicht darüber hinwegtäuschten, dass dem Text weitere Ambivalenzen fehlen würden. Die Mehrduetigen vermusste auch Paul Jandl. Daniela Strigl sprach von einem „Erbschleicher-Kammerspiel“ und lobte das Böse an beiden Charakteren, kritisierte aber die offensive ödipale Inszenierung. Hildegard Keller lag ausnahmsweise mit mir auf einer Linie und bemängelte, dass das Schräge, Unheimliche zu wenig herausgestellt sei und zu wenig Geheimnis bliebe.
Es folgte Joachim Meyerhoff, dessen Vorstellungsvideo mich spontan an „Schlag den Raab“ denken ließ und der expressiv eine Coming-of-Age-Geschichte eines 22-jährigen Studenten vorlas, für den ein Foto-Band zum Objekt der Begierde und der Selbstvergewisserung wird. Unterhaltsam vorgetragen hat mir der Text durchaus Spaß bereitet, allerdings teile ich Daniela Strigls und Paul Jandls Bedenken hinsichtlich des Anekdotischen des Textes. Es ist unterhaltsam und bunt, aber es fehlt ein Gegenstück, etwas, das dem Text mehr Tiefe verleiht. Dass der Text zu sehr ‚ästhetisiert’ sei wie Meike Feßmann erwähnte, sehe ich nicht so, ebenso wenig verstehe ich, wie Hubert Winkels hierin eine Erbauungsgeschichte sehen kann. Denn letztlich schämt sich der Dieb ja gerade nicht seiner Beute.
Den dritten Text von Nadine Kegele habe ich sehr anders gelesen als die Jury und wohl auch vieler meiner Mitgucker bei Twitter. Dazu sollte ich vielleicht sagen, dass ich mir in der Regel die ersten Sätze des Vorlesenden anhöre, dann den Ton ausstelle und den Text alleine lese, ehe ich den Ton wieder einschalte. Und bei Nadine Kegeles Beitrag war ich sehr froh darüber, da es ein schwer zugänglicher, sperriger Text über – und nun beginnt bereits meine Interpretation – eine schwer traumatisierte Frau ist, die missbraucht und verletzt wurde. Diese Erfahrung wird, da sie zugleich die Erzählerin ist, in dem Text sprachlich als auch strukturell ausgedrückt. Dabei sind die agierenden Personen anfangs schwer zu entschlüsseln, die Comtess erschien mir als (ehemalige) Therapeutin, die Füchsin ist wohl nicht nur eine Freundin und ihre schwerkranke Mutter scheint sie an einen Mann oder sogar verschiedene Männer ausgeliefert zu haben. Es ist alles rätselhaft und schwierig, aber ich mag Literatur, die sich mir nicht gleich beim ersten Zuhören erschließt.
Auch Hildegard Keller mag Texte, die sie herausfordern, allerdings bemängelte sie, dass dieser Text ihr nicht die Gelegenheit gibt, die Stücke zusammenzusetzen. Andere Jurymiglieder hatte weitaus größere Schwierigkeiten mit dem Text. Meike Feßmann und Paul Jandl kritisierten die rudimentäre Sprache und viele Fehler, die für mich hingegen Ausdruck der Psyche der Erzählerin waren. Daniela Strigl sieht in dem Text eine Geschichte über den Zwang, dem Opfer sein zu entkommen. Auch da würde ich widersprechen, dass dieser Text eine Geschichte über den Versuch ist, mit einem Trauma zu leben. Immerhin gefallen ihr die fragmentarische Erzählweise, die das Pathos durchbricht, und der feine Humor des Textes, während Hubert Winkels in ihm die ‚Sinngebung des Sinnlosen’ sieht. Erst Burghard Spinnen, der die Autorin auch eingeladen hat, sieht in der Sprache ebenfalls die Beschädigung der Figur.
Nach der Mittagspause folgte dann Verena Güntner, die nach dem heutigen Tag als Anwärterin auf einen der Preise gesehen werden muss. Ihr Romanauszug erzählt von einem 16-jährigen Jungen, der sich seine Haut langsam abschabt, damit sie weicher wird. Es ist ein guter Text, der gut vorgetragen wurde, allerdings fühlte ich mich zu vielen Elementen bekannte Bücher erinnert – und damit meine ich nicht den „Fänger aus dem Roggen“ und Holden Caufield, der von Juri Steiner genannt wurde, sondern ich musste vielmehr an Herndorfs „Tschick“ und Woodrells „Sweet Mister“ denken, die eine ähnliche Geschichte besser erzählt haben – zumindest dem Auszug nach zu urteilen. Denn der düstere Anfang, die Andeutungen, des Hautabziehens und der Machtposition des Jungen innerhalb seiner Klasse lassen mich hoffen, dass in dem gesamten Roman mehr steckt.
Die Jury lobte weitgehend, dass der Erzählton gut durchgehalten und die Geschichte unaufdringlich und authentisch erzählt wurde. Winkels zeigte sich ob der Rollenprosa angetan und lobte, dass das Freud’sche Ich, Es und Über-Ich in der Rolle des Plans, der Mannschaft und des Trainers sehr gut getroffen sei. Paul Jandl, der Verena Güntner auch eingeladen hat, war schlicht weg begeistert. Einzig Burkhard Spinnen fragte sich, ob es ausreiche, dass ein Text handwerklich gut gemacht sei, da ihm hier das Neue fehle. Dem pflichtete Meike Feßmann bei, dass sie nicht die Stimme der Autorin höre, aber – so das Argument der anderen – das solle man bei Rollenprosa ja auch nicht.
Die letzte Autorin des heutigen Tages war Anousch Müller, die die Geschichte einer Trennung erzählt hat: Die Ich-Erzählerin, ein „psychiatrischer Grenzfall“, reist mit ihrem Freund Leo nach Schweden. Sie leidet unter verschiedensten Erkrankungen, beobachtet ihren Freund und scheint unterlegen, aber insgeheim bereitet sie nur den Moment vor, in dem sie ihm verkünden kann, dass sie ihn nicht liebe. Bei Twitter ist dieser Text sehr gut angekommen, ich stehe ihm etwas gleichgültig gegenüber. Einige Sätze fand ich schön, anderes war mir zu prätentiös, vor allem aber habe ich mich über sprachliche Nachlässigkeiten geärgert – beispielsweise vermute ich, dass ‚scheinbar’ und ‚anscheinend’ verwechselt wurden, auch die später von Paul Jandl angeführten schiefen Bilder haben mich gestört. Aber es war der einzige Text des heutigen Tages, in dem kein Schamhaar vorkam.
Insgesamt war es ein solider Auftakt für die Tage der deutschsprachigen Literatur, die mir Lust auf die nächsten zwei Wettbewerbstage gemacht haben. Positiv ist festzuhalten, dass heute alle gut gelesen haben – das war nicht immer so. Dass wir den Bachmannpreisträger heute gehört haben, bezweifle ich. Aber Joachim Meyerhoff und Anousch Meier haben gute Chancen auf den Publikumspreis. Überzeugt bin ich hingegen, dass ich auch am Ende des diesjährigen Durchgangs wieder ein oder zwei Autoren entdeckt habe, die ich mir merken werde. Das war im letzten Jahr so – und auch im vorletzten.
Alle Texte und Zusammenfassungen der Jury-Diskussionen lassen sich auf der Seite des Bachmannpreises nachlesen, dort gibt es auch die Videos zu den einzelnen Auftritten.
Rückblick auf Tag 2 und Tag 3.
Andere:
Eine Einschätzung der Texte gibt es auch im Blog Sammelmappe.
Atalantes Historien
Ergänzung: Lesenswert ist die auch Eröffnungsrede, die Michael Köhlmeier gestern Abend hielt und nun als PDF abzurufen ist.
Vielen Dank für diese hervorragende Zusammenfassung und für deine persönliche Einschätzung der Beiträge! Ich habe das heutige Wettlesen ebenfalls mitverfolgt, jedoch nicht mit der nötigen Konzentration, um mir ein Urteil erlauben zu können, da ich nebenbei gearbeitet habe. Die Texte werde ich deshalb noch mal für mich im Stillen lesen, der von Güntner scheint mir bisher der interessanteste, wirklich begeistert hat mich auf den ersten (wie gesagt sehr oberflächlichen) Blick keiner. Sehr gespannt bin ich auf die Beiträge von Roman Ehrlich und Benjamin Maack.
Herzlich,
caterina
Danke schön. Wenn ich nebenbei arbeiten würde, würde ich auch kaum etwas mitbekommen, mir reicht es ja schon, hin und wieder bei Twitter mitzulesen und nebenbei zuzuhören. Auf Roman Ehrlich und Benjamin Maack freue ich mich ebenfalls, außerdem noch auf Cordula Simon.
Ach ja, auf Cordula Simon freue ich mich auch 🙂
Ich werde deine Technik, den Bachmannpreis zu schauen & zu hören & zu lesen morgen mal ausprobieren. Sie erscheint mir eine sehr angemessene Form, um nicht in die Oberflächendiskussion zu verfallen, um sich auf den Text einzulassen, uneingefärbt von den Eindrücken von Aussehen, Stimme, Inszenierung, Juryblicken. Danke für diese Idee!
Gerne. Ich bin keine ‘Hörerin’ von literarischen Texten, sondern lese sie lieber. Außerdem gab es in den letzten Jahren auch immer Texte, bei denen das Vorlesen fast unerträglich war. Deshalb bin ich auf diese Idee verfallen, zumal ich auch schneller lese als dort vorgelesen wird, so dass ich mehr als genug Zeit habe, auch noch etwas dem Vortrag zu lauschen, zu twittern usw. 🙂
Ein schöner Rückblick auf den ersten Lesetag. Interessant fand ich auch unser Getwitter. Ich habe mir erlaubt, Dich zu zitieren.
Da fühle ich mich aber geschmeichelt. 🙂
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