Nach dem guten gestrigen Beginn startete der zweite Tag des Lesens um den Bachmannpreis mit einer Performance, die manche als Kunst, andere als Kabarett betitelten. Eingeladen von Burkhardt Spinnen präsentierte Zé do Rock seinen Reisebericht aus Brasilien, der sowohl schriftlich als auch vorgelesen sehr eigen ist. Zé do Rock verwendet eine eigene Schreibweise, in der bis auf Eigennamen und Satzanfänge alles klein geschrieben ist, vieles wird geschrieben wie gesprochen, aber ich bin überzeugt, dass sich innerhalb des geschriebenen Textes eine Schreiblogik verbirgt, die sich erst bei einer genauen Analyse offenbart – und Sprachwissenschaftler erfreuen wird. Dank der Vortragsweise war es ein sehr unterhaltsamer Auftakt, der sprachliche Innovation mit teilweise schönen Beobachtungen kombinierte, sich aber auch sehr auf den naiven Blick des Reisenden verlässt.
Einen Sprachwissenschaftler würde auch Daniela Strigl gerne an diesen Text setzen, außerdem betonte sie neben der phonetischen auch die optische Wirkung des Textes. Hildegard Keller attestierte dem Text einen „Fetzigkeitsfaktor“ und verortet ihn an der Grenze der Literatur. Außerdem meint sie, dass sich in dem Text einer dümmer stelle als er sei. Für Winkels war der Text ein „synkretistisches Gesamtkunstwerk“ und eine phonetische Bearbeitung der deutschen Sprache.
Danach las Cordula Simon einen Auszug aus ihrem im Herbst erscheinenden Roman. In dem titelgebenden kleinen Dorf Ostrov Mogila lebt die Ich-Erzählerin mit ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, die Männer der Familie sind bis auf den Urgroßvater verstorben. Alle vier Frauen scheinen über eine seherische Gabe zu verfügen, die die Erzählerin aber verängstigt. Als ihr ihre Urgroßmutter die Schuld am Tod des Bruders zuspricht, will sie den Ort verlassen. Doch ausgerechnet an diesem Tag kommt der LKW nicht, der sonst das Dorf mit dem Rest der Welt verbindet.
Mir fehlten in diesem Auszug die Düsterheit, das Abgründige und die Spannung. Es wurde sehr viel erzählt, allerdings wurde die „Blumenschürzenhölle“, von der Daniela Strigl anschließend sprach, höchstens ansatzweise deutlich. Meike Feßmann bezeichnete den Text als „gefaktes Märchen“ und fand Gefallen an der Fabulierlust der Autorin, letztlich störte sie aber, dass fast alles als böse und magisch erscheint. Paul Jandl und Hubert Winkels kritisierten die Sprache, die zu altmodisch sei und die magische Welt nicht sichtbar mache. Juri Steiner empfand die Geschichte hingegen als guten Einstieg in einen Roman, in dem die Protagonistin möglicherweise einmal eine Mörderin werde.
Anschließend las Heinz Helle, auf den ich mich ebenfalls sehr freute, eine Beziehungsgeschichte über zwei Durchschnittsmenschen mit einem durchschnittlichen Leben, die den Luxus haben, sich zu langweilen und sich selbst beständig zu reflektieren. Die Erzählhaltung, das beständige Schwanken zwischen dem Ich und Wir, war hier für mich das Hauptproblem, wenngleich mir bewusst ist, dass der Erzähler dadurch seine Position gegenüber der Beziehung und dem Leben ausdrückt. Sprachlich schön, aber auch langweilig und banal, störte mich zudem das Abarbeiten der populären Motive Fußball (WM 2006), Bruce Willis und „24“. Dennoch würde ich von Heinz Helle gerne mehr lesen, da mich die Atmosphäre des Textes zwischenzeitlich eingenommen hatte.
Hubert Winkels markierte die Entindividualisierung als Thema des Textes und schloss eine schöne Sprachkritik an seine Ausführungen an, innerhalb derer er das „Psychologisieren“ des Autors als Fehler markiert. Für Paul Jandl war es ein phlegmatischer Text über einen phlegmatischen Protagonisten, Juri Steiner sprach von „Wohlstandsunentschiedenheit“, die aus dem „nicht-können ein nicht-wollen“ mache. Letztlich einigte sich die Mehrheit der Jury, dass dieser Text auf die Schwierigkeiten der Individualisierung in unserem Zeitalter hinweise – selbst Burkhardt Spinnen, der zuvor einen Reflex auf die Familienpolitik ableitete, konnte dem zustimmen.
Nach der Mittagspause folgte der Text von Philip Schönthaler, der von der Konzertreise des „Rebellflötisten“ Metnev durch Deutschland mit detaillierten Beschreibungen der SAP-Arena in Mannheim und eines Essens im ICE-Board-Restaurant erzählt. Die Geschichte lies sich gut lesen, allerdings habe ich mir bis zum Ende die Frage gestellt, warum er sie erzählt. Natürlich sind die Parallelen zu David Garret offensichtlich, aber als Kunst/Kulturkritik ist mir der Text zu harmlos. Erst am Ende wird er etwas doppelbödiger, indem sich der Erzähler als Simultanübersetzer des Flötisten zu erkennen gibt und nahezu mit ihm verschmolzen ist. Aber auch diese Wendung kommt zumindest in diesem Textauszug zu spät und bringt auch einige Probleme mit sich. So kann – wie Daniela Strigl anschließend ausführte – der Erzähler nicht anwesend sein, wenn Medvev nachts im Hotelzimmer aufwacht. Meike Feßmann stellte sich ebenfalls die Frage, was der Text uns erzählen wolle, wenn wir doch sogar die Figur kennen, der Medvev nachgebildet ist. Paul Jandl sah in dem Text die Langeweile als ästhetische Funktion, da alles bis ins Detail aufgezählt werde. Sehr gut gefiel allen Juroren die Szene, in der Medvev im Zug auf der Toilette Flöte spielt.
Dann folgte Katja Petrowskaja, die mit ihrem Text „Vielleicht Esther“ für mich die derzeitige Favoritin auf den Bachmannpreis ist. Sie erzählt die Geschichte ihrer Urgroßmutter, die nicht kaum mehr laufen kann, und deshalb bei der Evakuierung in Kiew 1941 anfangs zurückbleibt, dann aber doch einem Aufruf folgt, nach dem sich alle Juden melden müssten. Diese langsame Bewegung der Urgroßmutter verbindet Katja Petrowskaja mit poetologischen Überlegungen und erzählerischen (Selbst-)Reflexionen, so dass der Text zugleich anrührend als auch witzig ist. Sicherlich ist manches etwas pathetisch, aber mir hat der Text gut gefallen.
Meike Feßmann zeigte sich ebenfalls von der „locker, leicht gewebten“ Geschichte angetan, die durch die Autobiographie fast schwebe und doch gewichtiges Thema habe. Für Paul Jandl ist das hingegen der Text, in den er sich unglücklich verliebt habe. Ihm war unklar, wie die einzelnen Teile montiert sind, außerdem fragt er sich, ob die „allzu malerische“ Erzählhaltung tatsächlich durchbrochen werde. Dann stellte er noch die Frage, ob diese Geschichte tatsächlich Autobiographisches oder Fiktion sei – warum das allerdings eine „entscheidende“ Frage sei, wie Paul Jandl betonte, erschließt sich mir nicht. Hubert Winkels machte hingegen gut deutlich, wie die Geschichte als ein einziger Aufschub konstruiert ist: Solange die Erzählerin von dem Mord an ihrer Urgroßmutter nicht erzählt, ist er nicht passiert. Und so ist der Text für ihn eine Rettung der Großmutter.
Für den Bachmannpreis stellen sich nun vor allem zwei Fragen: Ist die Ähnlichkeit des Textes und der Biographie von Katja Petrowskaja mit Maja Haderlap und Olga Martynova zu groß? Und wird morgen vielleicht noch der alles überragende Text gelesen? Bisher gab es meines Erachtens keine allzu großen Ausreißer – weder nach oben noch nach unten. Aber es kommt ja noch ein Tag.
Alle Texte und Zusammenfassungen der Jury-Diskussionen lassen sich auf der Seite des Bachmannpreises nachlesen, dort gibt es auch die Videos zu den einzelnen Auftritten.
Rückblick auf Tag 1 und Tag 3.
Andere:
Eine persönliche Einschätzung der Texte des Vormittags und Nachmittags gibt es auch im Blog Sammelmappe.
Atalantes Historien