Ein Mann kommt in eine Stadt, um einen weitaus mächtigeren Mann zu erpressen – das ist der Ausgangspunkt von Dorothy B. Hughes‘ Kriminalroman „Ride the pink horse“, der in der deutschsprachigen Ausgabe von Goldmann 1981 den Titel „Der Tod tanzt auf den Straßen“ bekommen hat. Tatsächlich ist dieser Titel zwar weit weg vom Original, aber er beschreibt die Atmosphäre vor Ort: In der Stadt findet gerade eine Fiesta statt mitsamt Umzug und Prozession.
In der deutschsprachigen Ausgabe wird dieser Ort fälschlicherweise als „eine kleine Stadt in der Nähe von Chicago“ angegeben. Tatsächlich aber spielt der Roman in Santa Fe in New Mexico; das ist über 1000 Meilen entfernt von Chicago. Die Fiesta erinnert an die blutige Eroberung von Santa Fe durch die Spanier 1692, als die Spanier das Gebiet von den native americans, in diesem Fall die Pueblo, wieder zurückerobert haben.
Diese Ortsangabe ist leider nicht die einzige Ungenauigkeit in der Goldmann-Ausgabe. Das vorangestellte Personenregister (mit immerhin fünf Charakteren) führt die Hauptfigur Sailor als „Möchtegern-Pistolenheld“ an. Tatsächlich ist Sailor ein Verbrecher, aber nun nicht unbedingt ein Pistolenheld. Als Privatsekretär des ehemaligen Senator Douglass hat er dafür gesorgt, dass dieser krumme Geschäfte mit anderen Verbrechern machen kann, ohne sich selbst direkt die Hände schmutzig zu machen. Dadurch weiß Sailor etwas über die Ermordung der Frau des Senators. Und für sein Schweigen will er Geld vom Senator. An diesem Wissen ist nun wiederum der Polizist McIntyre interessiert, der ebenfalls nach Santa Fe gekommen ist, um Sailor und den Senator zu belauern.
Damit bietet dieser Roman einen hervorragenden Ausgangspunkt für eine klaustrophobische Kriminalgeschichte: es gibt Mord, Erpressung, Korruption, einen aufrechten Cop, drei Männer, die einander verfolgen und belauern, alles auf den vollgepackten Straßen von Santa Fe während einer Fiesta. In drei Teilen und an drei Tagen entfaltet sich das Geschehen, der Roman zieht einen regelrecht in diese Hitze und das Menschengetümmel hinein – und obwohl nicht viel passiert, lässt er einen gelegentlich atemlos zurück.
Dorothy B. Hughes nutzt dieses sehr enge Setting, um über Gewalt, Armut und Chancen zu schreiben. Obwohl mit der Fiesta die Rückeroberung gefeiert wird, haben längst nicht mehr die Spanier oder Mexikaner das Sagen in der Stadt, sondern die Weißen. Es ist beeindruckend, mit wie wenigen Sätzen Dorothy B. Hughes diese Geschichte im Hintergrund skizziert und in die Handlung einfließen lässt. Es gibt eine klare, rassistische Hierarchie in dem Leben in diesem Bundesstaat (und den USA), die hier sehr deutlich wird. Klar markiert von einer weißen Autorin im Jahr 1946.
Diese Hierarchie ist ihrer Hauptfigur Sailor eingeschrieben. Er wusste nichts von der Fiesta in der Stadt und bekommt deshalb kein Hotelzimmer mehr. Also irrt er durch die Stadt und mehrfach wird ihm von einem Karussellbesitzer geholfen, der eigentlich Don Jose Patricio Santiago Morales y Cortez heißt. Aber Sailor macht sich nicht die Mühe, seinen Namen zu lernen. Er fühlt sich ihm überlegen und nennt ihn nur „Pancho Villa“ nach dem mexikanischen General. Sailor fühlt sich ihm genauso überlegen wie den Pueblo, die regelrecht mit der Stadt verschmelzen. In Sailor erwecken sie Unbehagen, er fühlt sich verfolgt von ihren Augen, reagiert mit fast aggressiver Abwehr. Auch hier mit einer Ausnahme: Er kümmert sich um das 14-jährige Pueblo-Mädchen Pila. Sie ist noch nie auf einem Karussell gefahren, und er will ihr unbedingt diesen Wunsch erfüllen. Es ist vor allem das rosa Pferd, das im Original titelgebende „pink horse“, das für ihn wichtig ist. Es steht für all die Wünsche, die er als Kind hatte, für das, was er ersehnt, aber nie bekommen hat. Es ist als würde er mit dieser Geste gegenüber Pila alte, namenlose Ängste damit beschwichtigen.
Pila und der Karussellbesitzer sind die einzigen Menschen, um die er sich – abgesehen von sich selbst – Gedanken macht. Das ändert aber nichts daran, dass er rassistische Wörter benutzt und in seinem Verhalten erkennen lässt, dass er ein Rassist ist. Sailor ist keine Karikatur, sondern eine komplexe Figur, die zeigt, wie selbstverständlich rassistische Vorurteile und rassistisches Denken in Menschen verankert sein können.
Es ist bemerkenswert, wie viele komplexe Fragestellungen Dorothy B. Hughes in ihrem hochspannenden, noch nicht einmal 200 Seiten langen Kriminalroman verhandelt. Es geht um Herkunft, Identität, Gut und Böse. Wie in ihrem Gesamtwerk interessiert sie weniger, wer das Verbrechen begangen hat, sondern die Frage, wer man eigentlich ist – und was das Böse an sich ist.
Weiterhin ist für mich ein Rätsel, warum Dorothy B. Hughes fast vergessen ist, warum es nur drei ihrer Bücher überhaupt in deutscher Übersetzung gibt, alle drei nur noch antiquarisch erhältlich sind. Diese Verbindung aus psychologischem Gespür, Spannung, präziser Sprache, knackiger Dialoge und komplexer Themen ist schlichtweg beeindruckend.
Dorothy B. Hughes: Der Tod tanzt auf den Straßen. Übersetzt von Friedrich A. Hofschuster. Goldmann 1981. Die amerikanische Originalausgabe „Ride the Pink Horse“ ist von 1946.