Philadelphia, USA: Die Polizistin Mickey wird zu einem Einsatz an dem Bahndamm an der Guerney Street in Kensington gerufen. Eine Leiche wurden gefunden. „Weiblich, Alter unklar, wahrscheinlich Überdosis“. Sofort bekommt Mickey Angst. Ihre Schwester Kacey lebt auf der Straße. Sie ist drogensüchtig, prostituiert sich. Bei jeder weiblichen Leiche fürchtet Mickey daher, es könnte Kacey sein.
In diesem Fall ist sie es nicht. Dennoch beunruhigt Mickey der Leichenfund: die Tote wurde stranguliert, sie war eine Prostituierte. Es gibt weitere Fälle, die Opfer sind alles drogenabhängige Prostituierte, die stranguliert wurden. Aber Mickeys Kollegen interessieren diese Fälle nicht. Niemand will ihnen nachgehen, also forscht sie auf eigene Faust nach.
Liz Moores „Long Bright River“ beginnt wie eine typischer Polizeiroman: eine leicht gestresste Ermittlerin – sie ist alleinerziehende Mutter, hat eine Trennung hinter sich, die sie noch nicht so gut verkraftet hat, dazu ihre Schwester –, die diesen Fall aufklären und sich in dem durch und durch männlich dominierten Polizeiumfeld durchsetzen will. Dazu kommt aber noch etwas anderes: Kensington ist einer der größten Drogenmärkte an der Ostküste der USA. Über 900 Tote gibt es im Jahr, die verlassenen Häuser werden von Junkies bewohnt, Hinterzimmer verwandeln sich in Fixerstuben. Drogen gehören hier zum Alltag, sie schreiben sich in Familiengeschichten ein. Mickeys und Kaceys Eltern leben nicht mehr, sie sind bei der Großmutter aufgewachsen. Während Mickey den Drogen ferngeblieben ist, war Kacey schon als Teenagerin süchtig.
Hier verbindet sich Familien- mit Kriminalgeschichte. Eindringlich und schonungslos erzählt Liz Moore von diesem Leben, von der Opioidkrise in den USA – die Atmosphäre, die Charaktere sind stimmig. Auch Mickey hat mehr Dimensionen als es auf den ersten Blick scheint, ihre Abgründe zeigen sich erst im Verlauf des Romans, aber hier mit aller Drastik.
Leider funktioniert der Polizei-Serienmörder-Part dieses Romans weniger: so gut wie alle Polizisten sind Männer, korrupt und böse; Mickey ist erstaunlich leichtgläubig und bereitwillig, ihre Ansichten selbst über langjährige Kollegen und Freunde zu ändern, nur um bei vermeintlichen Gegenspielern Widersprüche großzügig zu ignorieren. Die Auflösung ist dann kaum überraschend, sondern fügt sich in dieses einfache, klischeehafte, schematische Narrativ.
„Long Bright River“ ist daher ein Roman, dem das Genre fast aufgestülpt erscheint: Drogen und Verbrechen, passt gut zusammen, verkauft sich vielleicht auch besser. Das ist schade. Denn ohne diese unnötige Serienmördergeschichte wäre „Long Bright River“ ein ungemein starker Roman über den emotionalen, psychischen und physischen Preis der Drogensucht.
Liz Moore: Long Bright River. Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. C.H. Beck Verlag 2020.