Dass der Mensch fähig ist, sich an die ungeheuerlichsten Umstände so weit anzupassen, dass er überlebt, ist zwar eine Binse, aber sie zeigt sich immer wieder. In jedem Krieg. In jedem Verbrechen. In jeder Ausnahmesituation. Nach Unfällen und Unglücken. Es ist der Überlebensinstinkt, der dafür sorgt, dass man durchhält, sich durchkämpft. Dieser Willen zum Überleben zeichnet alle Figuren in „Innen Leben“ (Originaltitel: Insyriated) aus: Nur eine Wohnung in dem Wohnblock in Syrien steht noch und dort versammelt sich Oum Yazan (Hiam Abbas) mit ihrem Schwiegervater, ihren drei Kindern, einem Freund der Tochter, dem jungen Nachbarspaar mit seinem Baby und der Hausangestellten. Es ist eine Schicksalsgemeinschaft, die der Krieg zusammengeführt hat. 24 Stunden verweilt der Film in dieser Wohnung. 24 Stunden, in denen Menschen sterben und gequält werden. 24 Stunden, in denen die Bomben explodieren und die Scharfschützen allgegenwärtig sind.
Es gibt das berühmt-umstrittene Beispiel von Kevin Carters Fotos zu der Hungersnot im Sudan. Es zeigt ein Kind und einen Geier. Die Umstände dieses Fotos sind widersprüchlich und zwei Monate nach der Pulitzerpreisauszeichnung beging Kevin Carter Selbstmord. Aber dieses sorgte auch dafür, dass die Situation im Sudan ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit rückte und die Hilfsbereitschaft stieg. Im Krieg in Syrien war es wieder ein Foto eines Kindes. Es zeigte einen kleinen Jungen in Aleppo, der mit Staub bedecktem Gesicht im Krankenwagen sitzt und apathisch in die Leere starrt. Wieder sorgte das Foto eines Kindes dafür, dass der Krieg ins Bewusstsein gerückt wurde. Denn ebenso wie der Mensch fähig ist, sich an die ungeheuerlichsten Umstände anzupassen, ist er fähig, manche Wahrheiten nicht an sich heranzulassen. Und eine diese Wahrheit ist, dass seit sechs Jahren in Syrien Krieg herrscht. Dass auf den einen Tag, der in „Innen Leben“ zu sehen ist, ein weiterer folgt, der neue Gräuel und Angst mit sich bringt, dass auf diesen Tag wieder einer folgt und so weiter und so weiter. Bis dieser Krieg irgendwann vorbei ist. Man vielleicht doch noch eine Fluchtmöglichkeit findet. Oder man stirbt.
„Innen Leben“ braucht kein großes Panorama, keinen Bogen, keine Dramatisierung, um unter die Haut zu gehen und sich tief einzubrennen. Vielmehr ist dieses Kammerspiel gerade aufgrund seiner Reduktion so eindringlich. Es zeigt, wie eine Wohnung von einer Zufluchtsstätte zu einem Tatort wird, an den die Gefahr jederzeit zurückkommen kann – und man noch nicht weiß, ob diese Gefahr eine Bombe oder ein „Besuch“ sein wird. Es zeigt drei erwachsene Frauen, die versuchen, in diesem Krieg zu überleben. Indem sie Kinder beschützen. Indem sie einander beschützen so gut es eben geht. Es zeigt einen alten Mann, der zu alt zum Kämpfen ist, es zeigt einen jungen Mann, der noch zu jung ist, und es zeigt vier Kinder, für die Krieg und Angst zunehmend zum Alltag gehören. Und dazu gehört in einer der schmerzlichsten Szenen des Films auch, dass eine Elfjährige Schuldgefühle offenbart, weil sie für einen Moment froh war, dass sie noch einmal davongekommen ist. Aber dieser Film erzählt auch von einer jungen Liebe, von wagemutigen Einfällen, ohne in übertriebene Gesten zu verfallen. Vielmehr zieht damit ein wenig Vorkriegsalltag ein – und Kinder sind eben Kinder.
Hoffentlich wird „Innen Leben“ von vielen Menschen gesehen. Damit der Krieg in Syrien nicht vergessen wird, damit nicht ignoriert wird, warum viele Syrer ihr Land verlassen. Und damit man nicht hinterher sagt, man hätte ja von nichts gewusst.