Der Herumtreiber Sammy erwartet nicht mehr nicht viel von seinem Leben. Er ist gerade nach West Table in Missouri gezogen und hat einen Job in der Hundefutterfabrik angefangen. Am Zahltag ist er auf der Suche nach neuen Bekanntschaften und stößt auf einen Platz mit Wohnwagen und Trailern. Er schließt sich dem bunte „Haufen von Taugenichtsen“ an, trinkt mit ihnen, nimmt Speed und lässt sich schließlich zu einem Einbruch überreden. Aber seine neuen Freunde lassen ihn schnell im Stich – und so begegnet er der neunzehnjährigen Jamalee Merridew mit ihren tomatenroten Haaren und ihrem wunderschönen Bruder Jason. Sie leben mit ihrer Mutter Bev in Venus Holler, einem heruntergekommenen Viertel von West Table, und bieten Sammy den erhofften Familienanschluss: „Ich wollte immer nur dazugehören, irgendwo, und hier waren Leute, die mich wollten.“ Er zieht bei ihnen ein, nimmt alles klaglos hin und unterstützt sie in ihrem Versuch, aus Jasons Aussehen Kapital zu schlagen. Endlich fühlt er sich wohl, wenngleich er fürchtet, seine Zufriedenheit könnte nicht von Dauer sein. Und da „Tomato Red“ ein country noir ist, liegt er damit auch richtig.
West Table in den Ozarks
West Table ist – nach „Stoff ohne Ende“ – abermals der Handlungsort in einem Roman von Daniel Woodrell. Diese Stadt, angelehnt an Woodrells Wohnort West Plains, liegt in den Ozark Mountains. Dort gibt es Familien-Clans, die sich wegen einer Marihuana-Ernte gegenseitig umbringen, Crystal-Meth-Küchen, Armut, korrupte Polizisten und dumme Reiche. Dass „Tomato Red“ aber trostloser ist als „Stoff ohne Ende“, liegt vor allem an dem Erzähler Sammy. Er hat vor einiger Zeit entschieden, dass er nicht mehr versuchen wird, sein Leben zu verbessern und er hat auch keine Ziele. Er will einfach die guten Momente genießen und die schlechten Zeiten durchstehen. Deshalb ist er überzeugt, dass Jamalees ehrgeizige Pläne, den Absprung aus West Table zu schaffen, scheitern werden – so wie er auch bereits gescheitert ist. Oder wie Bev es ausdrückt: Mit dem Namen hat „deine Ma dir (…) ein trauriges, beschissenes Leben prophezeit und der Name wird dir helfen, dass alles Traurige und Beschissene wahr wird.“ Daraufhin entgegnet Sammy nur: „Erzähl mir mal was Neues“. Sammy ist ein typischer noir-Held: Er ist verloren, zynisch und durch Gewalt abgehärtet, hat aber einen guten Kern.
Doch „Tomato Red“ ist ein nicht einfach ein trauriger Roman, sondern Woodrell setzt dieser Tragik Lebendigkeit, Witz und einiges schlechtes Benehmen seiner Hauptfiguren entgegen. Denn Jamalees Ausweg aus diesem Leben sieht vor, dass sich ihr hübscher Bruder Jason nicht mehr länger von den Kundinnen des Friseurladens anhimmeln lässt, sondern ihnen sexuelle Gefälligkeiten erweist. Dafür sollen die Damen dann bezahlen – so wie es die Kunden ihrer Mutter ja auch tun. Jason lässt sich darauf ein, obwohl er vermutet, dass er schwul sein könnte. Daniel Woodrell porträtiert hier die sexuellen Ängste seiner männlichen Figuren: Jasons Homosexualität würde seine Familie gefährden, da er in der Gesellschaft als Bedrohung angesehen werden würde. Und Sammy fühlt sich gefangen zwischen einer Hure (Bev) und einer unnahbaren Göttin (Jamalee). Folglich ist dann auch der Sex, der die Handlung vorantreibt.
Woodrells Country Noir
In „Tomato Red“ ist bereits Woodrells unverkennbarer Stil zu entdecken: Er mischt kurze Aussagesätze mit komplexeren Satzgefügen, verwendet kurze Inversionen, die seiner Prosa mitunter einen alttestamentarischen Ton verleihen. Es gibt Wiederholungen, Metaphern und Alliterationen. Bei „Winters Knochen“ wird sich dann deutlich zeigen, dass diese Sprachbilder nicht willkürlich gewählt sind, sondern bereits auf das Ende hindeuten. Daneben bringt er die regionale Sprachfärbung in seine Bücher ein, so dass die Dialoge sehr authentisch wirken. Die Kriminalgeschichte dient ihm dabei meist als Motor einer Erzählung, in der es im Kern um das Leben in den Ozarks geht. „Tomato Red“ ist ein toller country noir – und ein Muss für alle Woodrell-Anhänger.
Daniel Woodrell: Tomato Red. Übersetzt von Volker Oldenburg. Rowohlt 2001. Das Buch ist leider nur noch antiquarisch erhältlich.
Die Ozarks-Romane
„Stoff ohne Ende“ ist der Anfang der Ozarks-Romane „Tomato Red“, „Der Tod von Sweet Mister“ und „Winters Knochen“. Sie erlauben Einblicke in einen Landstrich der USA, der fernab jeglicher Mainstream-Kultur ist – und haben unvergessliche Figuren.
Links zu Daniel Woodrell und „Stoff ohne Ende“
Sehr empfehlen kann ich das schöne Porträt von Martin Compart über Daniel Woodrell.
Pingback: Daniel Woodrell: Tomatenrot – SchöneSeiten