„Zeitoun“ von Dave Eggers steht schon eine ganze Weile auf meiner Leseliste. Nach jeder Folge „Treme“ denke ich, dass ich es lesen wollte. Nun ist Dave Eggers aktuelles Buch „Ein Hologramm für den König“ recht präsent in den Medien und er saß – so meine ich jedenfalls – auf dem Flug zur Leipziger Buchmesse hinter mir. Also habe ich über die Osterfeiertage endlich „Zeitoun“ gelesen. Es hat mich nach der Lektüre fassungslos zurückgelassen. Als ich anschließend im Internet ein wenig zu Dave Eggers und seinem Buch las, kam jedoch eine weitere Frage hinzu, die wohl jeden Kulturinteressierten immer wieder beschäftigt: Welche Rolle spielt die Wirklichkeit bei der Bewertung von Kunst. Aber zunächst zu dem Buch – und meinem Entsetzen.
Inmitten einer Naturkatastrophe
Dave Eggers erzählt in „Zeitoun“ eine wahre Geschichte weitgehend subjektiv aus den Perspektiven der Betroffenen, daher strebt er keine Rekonstruktion der Ereignisse an, sondern – wie es zu Beginn des Buches heißt – berichtet er nach Überprüfung der Daten etc. anhand unabhängiger Quellen von den Erlebnissen einer Familie vor und nach dem Hurrikan Katrina.
Der Syrer Abdulrahman und Kathy Zeitoun sind seit elf Jahren verheiratet, haben drei Töchter und Kathy hat einen Sohn aus erster Ehe. Sie leben schon seit Jahren in New Orleans und führen gemeinsam einen florierenden Handwerksbetrieb. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 hat sich das Klima verändert, aber Zeitoun – so wird Abdulrahman genannt, weil kaum jemand seinen Vornamen richtig ausspricht – ist überzeugt, dass sich mit harter Arbeit alle Vorurteile beseitigen lassen. Sie haben bereits einige Stürme erlebt, deshalb nehmen sie die Warnungen anfangs gelassen hin. Schließlich verlassen wenigstens Kathy und die Kinder New Orleans, während Zeitoun anfangs dort bleibt, um sich um seine Häuser zu kümmern. Als ihm später das ganze Ausmaß der Zerstörung bewusst wird, bleibt er dennoch, ja, er glaubt, er sei berufen, den Menschen in New Orleans zu helfen. Er rettet eine eingeschlossene alte Frau, hilft bei der Rettung eines älteren Ehepaares, füttert die zurückgelassenen Hunde in der Nachbarschaft und gleitet mit seinem Kanu durch die zerstörte Stadt. Eindringlich schildert Dave Eggers die eigentümliche Ruhe, die sich mit dem Wasser durch New Orleans ausbreitet. Anfangs klar, wird das Wasser immer trüber – und spiegelt damit die Entwicklung des Klimas in der Stadt wider. Es gibt Nachrichten von Plündereien, marodierenden Banden und Übergriffen. Dennoch weigert sich Zeitoun, die Stadt zu verlassen – und ist plötzlich verschwunden.
Das Versagen der staatlichen Stellen
Es ist ein Kunstgriff von Dave Eggers, nach Zeitouns Verschwinden die folgenden 23 Tage zunächst aus Kathys Perspektive zu schildern. Dadurch wird die Hilflosigkeit der Bewohner, die New Orleans verlassen haben, sehr deutlich. Darüber hinaus entsteht Spannung, da wir Zeitoun in dem Moment verlassen hat, in dem bewaffnete Männer an der Tür eines seiner Mietshäuser standen. Was Zeitoun jedoch erlebte, wird in dem folgenden Teil – wieder aus seiner Perspektive geschildert – deutlich: Er und drei Bekannte – ein weiterer Syrer, zwei Amerikaner – wurden verhaftet und zu einem Busbahnhof gebracht, der zu einem provisorischen Gefängnis umgebaut wurde. (Das von verurteilten Schwerbrechern aus dem Angola-Gefängnis gebaut wurde, während die Menschen in New Orleans noch auf den Dächern saßen.) Ihnen wurden sämtliche Rechte vorenthalten – sie durften nicht telefonieren, sprachen mit keinem Anwalt und erfuhren erst allmählich was ihnen vorgeworfen wurde: Sie sollen Terroristen sein. Dadurch schließt sich der Naturkatastrophe des ersten Teils im zweiten Teil des Buches die persönliche Katastrophe dieses Mannes an.
Ungeklärte Zuständigkeiten, die Missachtung der Bürgerrechte und absurde Strafen ließen mich nach der Lektüre fassungslos zurück. Dass vor, während und nach Katrina in New Orleans Missmanagement betrieben wurde, ist hinlänglich bekannt. Doch „Zeitoun“ macht die fatale Vermischung aus Unfähigkeit, Vorurteilen, Überforderung und Angst sehr deutlich. Dabei klagt das Buch nicht an, sondern schildert lediglich die Ereignisse – und verstärkt auf diese Weise die Wirkung. Dave Eggers hat auch mit zwei Polizisten gesprochen, die damals bei der Verhaftung dabei gewesen. Einer vertraute auf das Funktionieren der Justiz und glaubte, er habe nur seinen Job gemacht. Bei dem zweiten ist zumindest zu bemerken, wie sehr persönliche Ressentiments und Frustrationen bei seinem Verhalten während der Verhaftung eine Rolle spielten.
Sicherlich hat das Buch einige Längen, gerade die Rückblicke auf Zeitouns Vergangenheit, die Tradition seiner Familie, die sich stets zum Meer hingezogen fühlt, ist meines Erachtens zu ausführlich geschildert und das Meer als Motiv wird zu deutlich betont. Daneben erscheint das Leben allzu idyllisch. Es gibt in der Familie kaum Probleme oder Streit. Selbst eine Zukunft in Syrien erscheint Kathy zeitweise als verlockende Alternative – aus heutiger Sicht kaum vorzustellen. Es ist verständlich, dass sie bei ihrer Erinnerung an diese Zeit etwaige Schwierigkeiten ausblenden und nach ihren Erfahrungen nicht mehr objektiv sind. Aber diese Passagen hätten etwas kürzer ausfallen können. Dennoch zeigt „Zeitoun“ sehr eindrücklich, wie fragil der Rechtsstaat bei einer Katastrophe ist.
Wenn die Wirklichkeit die Literatur einholt
Nachdem ich obigen Text weitgehend fertig hatte, las ich andere Beiträge zu dem Roman und erfuhr, dass sich Zeitoun und Kathy mittlerweile getrennt haben – und Zeitoun nach einem Angriff auf sie im Gefängnis war. Außerdem wird ihm vorgeworfen, dass er ein Mordkomplott gegen sie und ihren Sohn aus erster Ehe geschmiedet haben soll. Diese Meldungen versetzten mich nun in die Lage, dass ich gerade mehrere hundert Seiten mit einem Mann mitgelitten habe, der seine Frau misshandelt hat und womöglich ermorden lassen wollte. Dennoch – so wird Kathy zitiert – sei die Schilderung ihrer Ehe in „Zeitoun“ richtig gewesen. Aber nach den Erlebnissen sei er immer radikaler geworden.
Ändern diese Vorwürfe etwas an dem Buch? Zum Teil fühle ich mich in meinem Misstrauen gegen die familiäre Idylle der Zeitouns und ihren Edelmut bestätigt, vielleicht haben sie damals etwaige Probleme nicht erwähnt – und am Ende klingt bereits an, dass ihre Zukunft mit den Belastungen aus dieser Zeit schwierig sein wird. Allerdings ist es müßig zu spekulieren, inwieweit die damaligen Erlebnisse mit Zeitouns heutigen Gewaltausbrüchen im Zusammenhang stehen. Sie verändern die Wahrnehmung des Protagonisten, ändern jedoch letztlich nichts daran, dass Zeitoun nach dem Hurrikan zu Unrecht festgehalten und gedemütigt wurde. Er ist kein Held. Aber Grundrechte stehen nicht nur Helden zu.
Dave Eggers: Zeitoun. Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch 2011.
Das Buch soll von Jonathem Demme als Animationsfilm verfilmt werden.