Heute Morgen begann wieder das Lesen um den Bachmann-Preis in Klagenfurt. Bis Samstag werden 14 Autoren aus bisher unveröffentlichten Texten lesen und sich dem Urteil der Jury stellen. Mein Fazit nach dem ersten Tag: Zahnfehlstellungen als Charakteristikum für weibliche Figuren entwickeln sich zu einem Topos der Literatur und an den nächsten Tagen folgt hoffentlich noch ein Text, der mich begeistert.
Den Anfang am heutigen Tag machte Stefan Moster, der in seinem Vorstellungsvideo erzählt, er habe aus der Angst, seine Sprache zu verlieren, in Finnland mit dem Schreiben deutschsprachiger Romane begonnen. Sein Text „Der Hund von Saloniki“ dreht sich vor allem um das Erinnern und Zuschreiben von Bedeutungen. Einst wurde der Ich-Erzähler seiner Geschichte von einem Hund ins Bein gebissen und hielt dieses Ereignis aufgrund der Umstände für prägend und erinnerungswürdig. Doch nun stellt er Jahrzehnte später im Urlaub mit seiner 17-jährigen Tochter fest, dass er dieses Erlebnis fast vergessen habe. Die Jury einigte sich letztlich darauf, dass sie diesen Text weder herausragend gut noch schlecht fanden. Einige schöne Wortschöpfungen lobte sie, auch die Frage des Erinnerns wurde thematisiert. Mein Hauptkritikpunkt wurde von Meike Feßmann angesprochen, die die Konstruktion mit der Tochter unglaubwürdig fand. Während sie hier vor allem den mangelnden Realismus nannte, halte ich die Anlage dieser Geschichte für unnötig schwierig: Die Geschichte beginnt mit einer kurzen Erinnerung an den Hund, es folgt der Wechsel in die Gegenwart, ausgelöst durch ein Zucken der Tochter, dann geht es wieder in die Vergangenheit. Das ist meines Erachtens zu konstruiert.
Danach folgte Hugo Ramneck, dessen Text „Kettenkarussell“ von den Verwirrungen eines pubertierenden Jugendlichen erzählt, der sich während einer Kirmes, die für drei Tage Halt in Bleiburg macht, in ein Mädchen verliebt. Sie aber gehört zu der slowenischen Gruppe, mit der er keinen Kontakt hat. Bei diesem Text stimme ich mit Hubert Winkels überein, dass die Gegensätzlichkeit der Welten schön inszeniert, teilweise aber übertrieben ist. Das trifft auch auf die Sprache zu: Neben vielen schönen Wörtern („hauchfeines Luftwirbelchen“) und Bildern ist die Symbolik an vielen Stellen zu viel – und vor allem zu deutlich.
Danach war die Webseite des Bachmannpreises nicht zu erreichen, was einen entscheidenden Nachteil hat: Ich konnte den vorgelesen Text nicht mitlesen, sondern war allein auf das Vorlesen von Miriam Richner angewiesen. Das war schwierig, zumal mich ihr Text „Bettlägerige Geheimnisse“ auch nicht sehr angesprochen hat. Ihr Text erzählt von zwei Lehrerinnen, die möglicherweise von einer Lawine verschüttet wurden. Vielleicht ist alles aber auch surreal. Meiner Meinung nach war der Text zu selbstreflexiv und bemüht, außerdem hat mich auch der Wechsel zwischen Wahn und Realität nicht überzeugt.
Nicht nur der Jury, sondern auch mir gefiel der folgende Text von Andreas Stichmann besser. In dem Romanauszug „Der Einstieger“ erzählt er von einem jungen Mann, der sehnsuchtsvoll eine vermeintlich durchschnittliche Kleinfamilie von außen beobachtet. Er will dazugehören, Teil dieser Familie werden. Dabei entsteht durch seine Beobachtung eine leise Bedrohung, die sich durch den Text zieht. Allein die Grundidee – ein Mann will in die Gesellschaft einsteigen – finde ich sehr gut, darüber hinaus ist die Sprache schlicht, aber präzise. Die Jury diskutierte intensiv über die Frage, inwiefern dieser Text eine Apotheose der Kleinfamilie sei – und kam nicht wirklich zu einer Einigung. Mich würde vielmehr interessieren, wie diese Geschichte weitergeht. Während seiner Lesung entspann sich bei Twitter eine kleine Diskussion über die „Literaturinstitutsprosa”, die sicherlich in den nächsten Tagen nicht nachlassen wird.
Abschließend las Sabine Hassinger einen Auszug aus „Die Taten und Laute des Tages“. Es ist ein sehr experimenteller Text, zu dem ich während des Vorlesens keinen Zugang gefunden habe. Der erste Absatz war vielversprechend, aber danach habe ich mich in den unklaren Personen verloren. Nun bin ich keineswegs der Meinung, dass Literatur einfach sein müsse – eher im Gegenteil, gerade schwierige Texte können großartig und herausfordernd sein. Aber deshalb ist nicht jeder schwierige Text gleich gelungen. Leider endete die Übertragung von 3sat mitten in der Diskussion. So löblich es ist, dass die Lesungen überhaupt übertragen werden – aber wenn ich mich entscheide, sie zu zeigen, dann doch bitte auch in ganzer Länge.
Nach dem ersten Tag ziehe ich ein eher durchwachsenes Fazit. Am besten hat mir Andreas Stichmanns Text gefallen, der mir auch Lust auf den dazugehörigen Roman gemacht hat. Ich könnte mir vorstellen, dass Sabine Hassinger für ihren experimentellen Text einen Preis erhält. Sehr gut gefallen hat mir heute insbesondere Corina Caduff, die neu in der Jury ist, und eine große Bereicherung war. Weiterhin glaube ich, dass es für die Zuhörer besser wäre, wenn die Texte von professionellen Sprechern vorgelesen würden. Gefehlt hat mir hingegen der übliche Vergleich mit Thomas Bernhard, immerhin sind die Namen Musil, Jelinek und Haushofer schon gefallen. Aber morgen geht es ja weiter …
Noch ein Hinweis: Alle Vorstellungsvideos, Lesungen und Jury-Diskussionen können auf der Seite vom Bachmannpreis nachträglich gesehen werden.
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Schöner Beitrag! Danach kann man sich das Ansehen der Lesungen ja fast sparen 🙂 Habe gerade die Lesung von Andreas Stichmann gesehen, weil er auf der Internetseite vom Bachmannpreis als Favorit des heutigen Tages dargestellt wird, aber besonders überzeugt hat mich weder der Text noch die Jury-Diskussion. Viele Juronen schienen mir sofort von der Idee der Geschichte begeistert, ohne sich allzu sehr um die Umsetzung zu kümmern, weil man da so viel reinlegen kann. Z.B. Meike Feßmann: Nur weil es so gut ins Konzept passt, erkennt sie in Anna, von der man nun wirklich nicht viel erfährt, eine dieser schrecklich überforderten jungen Frauen, die noch dazu zum Komasaufen neigt … merkwürdig.
Wo genau findet man übrigens die Twitter-Diskussion?
Freut mich, dass er Dir gefallen hat. Bei Twitter sind die meisten Tweets zum Bachmannpreis-Lesen mit dem Hashtag #tddl versehen, dort ergeben sich immer wieder Diskussionen. Falls es sich mit der “Literaturinstitutsprosa” aber weiter entwickelt, werde ich mal versuchen, die Tweets zu sammeln und dann hier zu verlinken.
Super, danke für die schnelle Info. Werde mal schauen …
auch hier in Moskau verfolge ich die Lesungen mit Interesse. Schwer für mich, sich da zu entscheiden. ich bin in Klagenfurt geboren, lebe aber schon viele Jahre in Russland. Und die russische Authorin wird ja als heisser Favorit gehandelt.
Trotz allem, der oder die Beste möge gewinnen.
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