Was hat sich Lee Daniels nur dabei gedacht? Diese Frage habe ich mir im Verlauf dieses Films mehr als einmal gestellt – und eine eindeutige Antwort habe ich bis heute nicht gefunden. Lee Daniels‘ Adaption von Pete Dexters „Paperboy“ ist ein schwüler, hitziger Southern-Gothic-Film geworden, in dem vor allem die unterdrückten sexuellen Leidenschaften der Figuren dargelegt werden. Von dem Geflecht aus Journalismus, Wahrheit und Rassismus aus Pete Dexters Roman ist dabei aber nur wenig übriggeblieben.
Roman wie Film spielen im Jahre 1969 in der Kleinstadt Lately im Moat County, Florida. Vor vier Jahren wurde Sheriff Thurmond Call ermordet und Hillary van Wetter (John Cusack) als Täter zum Tode verurteilt. Nun tauchen die Journalisten Yardley Acheman (David Oyelowo) und Ward Jansen (Matthew McConaughey) auf, um einigen Ungereimtheiten des Falls nachzugehen. Ward kommt aus Lately, sein Vater W.W. (Scott Glenn) und sein jüngerer Bruder Jack (Zac Efron) wohnen dort noch. Also kann er sich zumindest auf Jacks Hilfe verlassen. Zu den Journalisten stößt außerdem noch Charlotte Bless (Nicole Kidman), eine verblassende Südstaaten-Schönheit mit einer Vorliebe für Häftlinge, die mit Hillary verlobt ist und an seine Unschuld glaubt. Im Vergleich zum Roman gibt es nun im Film eine Reihe Umdeutungen, die sich letztlich auf die gesamte Rezeption auswirkt.
(Hinweis: Dies ist über weite Strecken ein Vergleich zwischen Buch und Film, in dem einige Spoiler enthalten sind. Wer diese vermeiden möchte, sollte gleich zum Absatz „Abseits der Unterschiede“ scrollen.)
Die Erzählsituation
Erzähler von Pete Dexters Roman ist Jack, der bei allen wichtigen Entwicklungen anwesend ist und somit weitgehend zuverlässig, wenngleich nicht objektiv von den Geschehnissen berichtet. Er erzählt diese Geschichte aus dem Rückblick als Abstieg seines Bruders. Für eine filmische Adaption ist diese Erzählsituation schwierig, da Jack sowohl Erzähler als auch Hauptfigur ist. Also macht Lee Daniels die Hausangestellte Anita (Macy Gray) zur Erzählerin. Zu Beginn des Films wird sie von einem Reporter zu den Vorgängen befragt, der auf ein Buch anspielt, das sehr gut „Paperboy“ sein könnte. Diese Rahmensituation wird aber nie erklärt und ist ein Beispiel für die losen Enden in der Geschichte; sie wäre zudem auch nicht nötig gewesen, da das Büro von Ward und Yardley direkt neben Wards Elternhaus liegt und Anita somit oft zugegen ist. Hier wäre ein einfacher Rückblick die bessere Wahl gewesen.
Abgesehen davon bringt diese Veränderung aber einen neuen, interessanten Blickwinkel und eine Erweiterung der Geschichte mit: Anita ist gleichermaßen Beteiligte und Beobachterin, und sie eine wichtige Bezugsperson für die Jansen-Jungen, so dass sie ihr Verhalten deuten kann. Darüber hinaus ist sie ein Beispiel für die afroamerikanischen Hausangestellten, die die Kinder weißer Familien großziehen und letztlich einfach aus ihrem Leben geworfen werden können (man erinnere sich an „The Help“). Damit verlagert Lee Daniels den Schwerpunkt der Geschichte zum einen auf den alltäglichen Rassismus im Florida der späten 1960er Jahre, zum anderen von Ward auf Jack – und damit auf dessen Faszination für Charlotte Bless.
Sex statt Journalismus
Durch die veränderte Erzählsituation rückt das im Roman sehr präsente Thema Journalismus in den Hintergrund. Stattdessen sind in der ersten halben Stunde insbesondere Jacks Fantasien von Charlotte zu sehen. Aus einer Geschichte über Justiz, Journalismus und dem Leben im Süden Floridas wird dadurch die flirrende Schwärmerei eines Jungen, der unbeholfen durch eine Geschichte stolpert, die zu groß für ihn ist. Gibt es im Buch noch ein kurzes Intermezzo mit der zukünftigen Frau seines Vaters, das auch seine ablehnende Haltung ihr gegenüber bestimmt, bleibt Charlotte im Film sein einziges ‚love interest‘. Dadurch ist Jack aber nicht mehr ein junger Mann auf der Suche nach sich selbst und seiner sexuellen Identität, sondern ein Junge, der unter der abwesenden Mutter leidet – hierfür findet Lee Daniels lediglich das Motiv eines Rings, den seine Mutter einst als Verlobungsring trug – und sich deshalb in die Arme einer älteren Frau flüchtet. Das ist alles ein wenig zu einfach, zumal auch sein Vater lediglich auf die Rolle eines versoffenen, alternden Weiberheldes reduziert wird und noch nicht einmal angedeutet wird, dass er einst eine der wenigen liberalen Stimmen im Ort war.
Im Verlauf seines Films entwickelt Lee Daniels ein Geflecht aus Begierde, in dem sich – bis auf Yardley und Anita – alle auf unterschiedlichste Weise verfangen. Doch für einen Erotikthriller fehlt diesem Film der Thrill, da die spannenden Elemente des Kriminalplots nachlässig behandelt werden. Das wichtigste Puzzlestück wird nebenbei geliefert, die Rückkehr von Jack und Ward in die Sümpfe ist unmotiviert – und auch das Schicksal Charlotte Bless‘ ist im Roman ungleich schrecklicher. Außerdem ist nun nicht mehr die Suche nach der Wahrheit der Antrieb, sondern hauptsächlich Jacks Liebe und Begierde.
Yardley Acheman
Die Verschiebung hin zu einer stärkeren Akzentuierung des Rassismus und der Erotik kulminiert in der Figur Yardley Acheman. Im Roman ist er ein weißer, gewiss talentierter, aber gewissenloser Schreiberling mit Hang zu Verallgemeinerungen und Übertreibungen. Es ist die bittere Ironie des Romans, dass er durch den Van-Wetter-Beitrag Karriere macht, während es für den sorgfältigen Ward bergab geht. Im Film nun ist Yardley schwarz und offenbart Jack, dass er den Job lediglich bekommen hat, weil er seinem Bruder ‚den Schwanz gelutscht‘ habe. Alle Fakten seines Lebenslaufs sind erlogen. Nun könnte aus dem Film-Yardley eine Figur werden, an der die Folgen des Rassismus deutlich werden. Doch hier forscht Lee Daniels nicht nach. Zugleich ist Ward in dem Film nicht nur schwul, sondern hat eine Vorliebe für Schwarze. Diese in der damaligen Zeit doppelte Brisanz entlädt sich in dem Überfall auf Ward, der Jack die Wahrheit über seinen Bruder verrät. Und es scheint dieser Überfall zu sein, der Ward in den Abgrund zieht. Die Folgen des falschen Artikels über Hillary van Wetter – der Pulitzer-Preis, Buchvertrag und Absturz – werden hingegen ausgespart.
Dadurch ist Lee Daniels Film eine Adaption, die das Buch umdeutet, dabei aber nicht auf die emblematischen Szenen verzichten will. Hier wäre es interessant zu wissen, wie das Drehbuch von Pete Dexter ausgesehen hätte, der im Abspann mit Lee Daniels als Drehbuchautor genannt wird. Ich vermute – und darauf deutet auch eine Aussage von Lee Daniels in den Extras hin –, dass es einen Entwurf von Pete Dexter gab, den Lee Daniels dann umgearbeitet hat.
Abseits der Unterschiede – Die Schauspieler und das Drehbuch
Vermutlich wirkt der Film völlig anders, wenn man das Buch von Pete Dexter nicht gelesen hat. Womöglich lässt man sich dann leichter auf die Geschichte ein und ist weniger irritiert, vor allem begeht man nicht den Fehler, diesen Film ernst nehmen zu wollen. In diesem Fall bereitet „The Paperboy“ durchaus Vergnügen. Das Produktionsdesign ist stimmig, durch die vielfältige Verwendung von Filtern erhält er einen schönen Retro-Look und insbesondere Zac Efron wird mehr als in Szene gesetzt. Beständig zeigt die Kamera ihn und seinen Körper, so dass es fast unverständlich ist, warum diesem jungen Mann in Unterhose nicht jeder verfällt. Doch selbst innerhalb der Figurenzeichnung ist nicht alles stimmig. So gelingt es Macy Gray zwar, ihrer Rolle in wenigen Szenen Tiefe zu verleihen, aber sie muss auch Sätze sagen, die lachhaft sind. John Cusack als Hillary van Wetter ist so unbedrohlich, daran können auch sein irrer Blick und der Sabber, der ihm aus dem Mund fließt, nichts ändern. Matthew McConaughey ist immerhin gegen den Typ besetzt, aber diese schmierige Frisur hat man an ihm schon sehr oft gesehen – und auch er kann nur in wenigen Szenen vergessen lassen, dass die Figur nicht differenziert genug angelegt ist. Dadurch wird die von Nicole Kidman gespielte Charlotte Bless in dem Film die interessanteste Figur, obwohl sie fast eine Parodie ist. Immerhin darf sie zum Ende hin eine traurige Seite zeigen – und Nicole Kidman damit ihr schauspielerisches Können. Allerdings lässt auch das Ende nicht vergessen, dass die Szene, in der Charlotte erstmals auf Hillary trifft, so lächerlich ist, dass sie über mindestens genauso viel Kult-Potential verfügt wie die nach den Aufführungen in Cannes 2012 oft erwähnte Szene, in der Nicole Kidman auf Zac Efron pinkelt.
Letztlich bezweifle ich, dass Lee Daniels tatsächlich die Absicht hatte, ein trashiges, mit Stars besetztes B-Movie zu drehen. Darauf deuten die ernst gemeinten Szenen hin, die Betonung der Rassenthematik und die Rolle von Anita. Immerhin war es eine gute Entscheidung, diesen Film nur auf DVD herauszubringen. Denn hier hat er die Chance, als schwüles Southern-Sexploitation-Filmchen sein Potential zu entfalten.
Der Film erscheint am 17. Juli auf DVD und Blu-ray.
Das Buch “Paperboy” von Pete Dexter ist im Liebeskind Verlag erschienen.
Anmerkung: Mit der Frage, was sich Lee Daniels wohl dabei gedacht hat, qualifiziert sich der Film nach Auffassung von Michael Schulmann im New Yorker für die ‚camp classic’-Filme, die so schlecht sind, dass sie gut sind.
Da ich Nicole Kidmans Karriere immer noch interessiert verfolge, würde ich ihn mir glatt nur deswegen ansehen. Meinst du, das ist Grund genug?
Ja, auf jeden Fall.
Und da ich jetzt mal davon ausgehe, dass Du das Buch nicht gelesen hast, würde mich auch Deine Meinung zu dem Film sehr interessieren. Denn ich glaube schon, dass es meine Rezeption sehr beeinflusst hat. 🙂
Alles klar, auf die Leihliste gesetzt. Das Buch habe ich nicht gelesen, nein.
Ich mag Kidman nicht besonders gern, werde aber dennoch mal reinschauen. Fand den Film nach deinem Artikel erst recht spannend, mal schauen wie ich den finde. Danke für den Tipp!