Finnland ist das Gastland der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt und deshalb habe ich für das Magazin BÜCHER einen Beitrag über finnische Kriminalliteratur geschrieben, der – ihr werdet es euch denken können – in der Oktober-Ausgabe pünktlich zur Buchmesse erscheinen wird. Beim wochenlangen Wühlen durch finnische Kriminalliteratur habe ich tolle Bücher und Autoren entdeckt, außerdem habe ich gute Interviews geführt, die nicht alle in den Beitrag einfließen konnten. Deshalb starten heute die finnischen Kriminalwochen im Zeilenkino! Bis zur Buchmesse wird jeden Dienstag ein Interview mit einem finnischen Autor erscheinen, außerdem werde ich einige Bücher besprechen. Und als Anfang habe ich sehr bewusst Pekka Hiltunens „Die Frau ohne Gesicht“ ausgesucht.
„Die Frau ohne Gesicht“ ist der Auftakt zu einer Thriller-Reihe, in deren Mittelpunkt ein Spezialistenteam namens „Studio“ steht. Im ersten Teil lernt die finnische Graphikerin Lia, die in London bei einer Zeitung arbeitet, in einer Bar scheinbar zufällig ihre Landesfrau Mari kennen. Sie kommen ins Gespräch, freunden sich an und schon bald erfährt Lia, dass Mari ein Talent hat: Durch genaues Beobachten und dank ihrer psychologischen Ausbildung kann sie Menschen regelrecht ‚lesen‘. Diese Fähigkeit setzt sie zusammen mit einem Team anderer Experten ein, um die Welt ein wenig besser zu machen. Lia gefällt diese Idee, also lernt sie die Mitglieder des „Studios“ kennen und schon bald wollen sie zusammen einen korrupten Politiker stürzen und einen Zwangsprostitutionsring aushebeln.
Normalerweise hätte ich bei der Formulierung „Mari könne Menschen lesen“ nicht nur einen skeptischen Gesichtsausdruck bekommen, sondern das Buch gar nicht gelesen – solche besonderen Fähigkeiten erscheinen mir im (Kriminal-)roman meist als einfache Lösung für potentielle Unstimmigkeiten im Plot. Nun ist aber gerade der zweite Teil („Das schwarze Rauschen“) der Reihe erschienen, den ich für meinen Beitrag in Betracht gezogen habe. Also griff ich zum ersten Teil – und entdeckte einen Thriller, in denen Frauen keinen Mann brauchen, um das Richtige zu tun oder mutig zu sein (ja, Lisbeth Salander, das geht!). Identifikationsfigur für den Leser ist Lia, sie hält sich für unsicher, allerdings weiß sie sich ganz gut zu behaupten und wird durch die Freundschaft zu Mari und die an sie gestellten Herausforderungen selbstbewusster und stärker. Mari ist geheimnisvoller, sie ist sehr analytisch, außerdem verfügt sie über Geld. Sie wünscht sich eine Freundin, an deren Seite sie sich auch einmal entspannen kann – und sie glaubt, sie in Lia gefunden zu haben. Durch diese Freundschaft werden beide Frauen stärker und ausgeglichener, sie füllt eine Lücke. Wie zuletzt schon in „Wie sollten wir sein?“ wird daher in diesem spannenden Thriller auch von einer überzeugenden Frauenfreundschaft erzählt. In einer Szene treffen sich Lia und Mari, um sich zu betrinken. Sie bezeichnen es als Kännit „Sie wollten nicht drunk, einfach nur betrunken werden, und auch nicht pissed, ein unangenehm und unkontrollierter Zustand, in den sich vor allem Jugendliche soffen. Sie waren erwachsene Frauen, und sie betranken sich planmäßig.“ Kännit ist „ein kameradschaftliches Saufen“, stellt Lia fest, sie trinken und diskutieren alle möglichen Themen.
Aber nicht nur diese Hauptfiguren sind bemerkenswert, sondern „Die Frau ohne Gesicht“ ist eines der wenigen Büchern, die ohne Voyeurismus von Verbrechen erzählen, bei denen Frauen mehrheitlich die Opfer sind. Als die Nachforschungen in einem Mordfall zu Zwangsprostitution führen, verliert sich Pekka Hiltunen nicht in Schilderungen der Erlebnisse der Prostituierten, die letztlich dazu dienen, sich an dem Leid zu ergötzen oder Ekel zu erzeugen, sondern belässt es bei knappen Ausführungen, die den Schrecken aber nicht vermissen lassen. Auch ist am Ende dieses Thrillers die Moral nicht einfach gegeben, sondern bleibt die Frage offen, wie viel Lüge die Wahrheit verträgt. Aufgrund dieser vielen positive Aspekte nehme ich es auch gerne, dass einem Team von Spezialisten vieles gelingt. Denn man ehrlich – in wie vielen Thrillern gibt es schon starke weibliche Hauptfiguren?
Pekka Hiltunen: Die Frau ohne Gesicht. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Berlin Verlag 2013.