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Über „Die Experten“ von Merle Körger

Wer genau erzählt hier eigentlich? Diese Frage ließ mich nicht los bei Merle Krögers „Die Experten“, sie war es, die sich von Seite zu Seite immer drängender stellte. Noch auf der ersten Seite habe ich notiert, die Perspektive erinnere mich an eine Kamera, präziser ausgedrückt eine Überwachungskamera, eine jener runden Dinger, die an Decken oder in Ecken angebracht sind. Dieser Vergleich drängt sich auf, Merle Kröger ist auch Filmemacherin – und doch greift er zu kurz: denn hier wird nicht nur beobachtet, nicht nur hingeschaut.

Raketenboom in Ägypten
„Die Experten“ verbindet bundesrepublikanische Nachkriegs- mit der Familiengeschichte der Hellbergs und besteht aus drei Teilen. Jeder Teil ist benannt nach einem Fotoalbum, innerhalb des jeweiligen Teils beginnt ein neuer Abschnitt mit einem neuen Foto, das aber nicht abgedruckt ist. Es wird beschrieben, was auf dem Bild zu sehen ist, dazu wird die Bildunterschrift und ein Datum angegeben. Und auch hier sind wieder diese Einschränkungen: ein Bild zeigt immer mehr als das, was es abbildet. Auf dem ersten Bild ist nun die 16-jährige Rita Hellberg in ihrem Internat im Dezember 1961 zu sehen; das letzte Bild wird fehlen, es wurde „nachträglich entfernt“ und im November 1970 aufgenommen. Diese Bilder verstärken den Eindruck des genauen Beobachtens, sie transportieren eine äußere Entwicklung, die aber zugleich getragen wird von dem Eindruck und der Erinnerung, die erweckt werden sollen. Gerade auch durch die Beschriftungen, die mit dem Wissensstand der Lesenden oftmals eine weitere Bedeutungsebene haben.

Am Anfang jedoch geht es erst einmal um Rita, die von ihrem vier Jahre älteren Bruder Kai im Internat besucht wird, weil sie dort rausgeworfen wurde. Sie soll nun ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester nach Ägypten nachreisen. Dorthin ist Friedrich Hellberg gegangen – als deutscher Experte, der für die ägyptische Raketenforschung arbeitet. Wie viele andere Deutsche wurde der Flugzeugingenieur von der ägyptischen Regierung unter Nassar angeworben, um eine eigene Flugzeug- und Raketenindustrie aufzubauen.

Für Rita hat er eine Anstellung als Sekretärin in einer anderen Abteilung gefunden, sie steckt mittendrin im Raketenboom. Zunächst ist Ägypten für sie aber eine willkommene Abwechslung vom bundesrepublikanischen Mief der frühen 1960er Jahre: Sie genießt die Villa in Maadi, den mondänen Club mit Pool, Whiskeys auf der Terrasse des Nile Hilton. Sie fühlt sich freier als zuvor, ernst genommener und wird zusehends selbstbewusster. Jedoch muss sie auch erkennen, dass sie im Grunde genommen gar nicht weiß, in was sie geraten ist: Während ihr älterer Bruder Kai, der bei der Großmutter in Hamburg geblieben ist, in klarer Opposition zum Vater, dessen Vergangenheit in der NS-Rüstungsindustrie und seiner gegenwärtigen Arbeit in Ägypten steht, glaubt Rita anfangs die Beteuerungen der „German Experts“, dass es eine friedliche Forschung sei. Aber dann verschwinden Ingenieure, werden Briefbomben in die Labore geschickt und niemand weiß, ob der israelische Mossad oder ägyptische Mukhabarat dahintersteckt. Je länger Rita in Ägypten ist und je älter sie wird, desto klarer erkennt sie, dass sie sich früher oder später für eine Haltung in einer unüberschaubaren Welt entscheiden muss. Weiterlesen

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