Es ist das Los Angeles der späten 1940er Jahre, das Los Angeles von Raymond Chandler, von Dorothy B. Hughes‘ „In a lonely place“, das Los Angeles, das ich aus zahlreichen Film noir zu kennen glaube, in dem Charlotte Armstrongs „The Chocolate Cobweb“ spielt. Doch ist es ganz anders, nicht düster und und heruntergekommen, sondern strahlend hell. Und nicht nur der Ort, auch die Figuren sind andere.
Durch eine Bemerkung ihrer Tante hat die 23-jährige Amanda Garth erfahren, dass es bei ihrer Geburt einen kurzen Moment der Verwirrung gab: Im selben Krankenhaus hat zur selben Zeit Belle Garrison entbunden – und für einen kleinen Moment wusste man nicht, wessen Kind zu wem gehört. Aber Amandas verstorbener Vater hatte aufgepasst, er wusste genau, wer seine Tochter ist. Dennoch gibt sich Amanda den Gedanken hin, was wäre, wenn diese Verwechslung stattgefunden hätte. Ihr Vater wäre dann Tobias Garrison, ein berühmter Maler, dessen Bilder – insbesondere das berühmte „Belle in the Doorway“ gerade in Los Angeles zu sehen sind. Amanda studiert Kunst und sie glaubt zwar nicht ernsthaft daran, dass sie nicht die Tochter ihrer Eltern ist, fasst aber den Entschluss, die Garrisons aufzusuchen.
Tatsächlich erinnert sich Tobias Garrison an diesen Moment im Krankenhaus und ist neugierig auf Amanda. Auf diese Weise erhält sie Zugang zu der Familie und dem verwickelten Haus am Hang des Canyons. Belle Garrison ist verstorben, Tobias hat abermals seine erste Ehefrau Ione geheiratet, auch sein Sohn Thone ist derzeit zu Besuch. Dann bemerkt Amanda durch ein Versehen etwas, was die Leserin längst weiß: Ione will Thone vergiften, aber Amanda ist ihr in die Quere gekommen. Fortan sieht es Amanda als ihre Aufgabe an, Thone zu beschützen – und was könnte ein besserer Schutz sein als Ione glauben zu machen, Tobias hat womöglich eine Tochter, die das Familienvermögen erben könnte.
Auf den ersten knapp 70 Seiten ist bereits vieles enthüllt: die Geschichte einer möglicherweise folgenreichen Verwechslung, die Identität der Mörderin, die Tat, die sie begehen will sowie die Tat, die sie schon begangen hat. Dazu kommt der Schatten einer verstorbenen Ehefrau – festgehalten auf einem Porträt – und alles spielt in dem verwinkelten Haus einer offensichtlich wohlhabenden (weißen) Familie. Die Spannung aber lässt nach den ersten 70 Seiten keinesfalls nach, im Gegenteil: „The Chocolate Cobweb“ entwickelt sich zu einem sehr leisen, sehr bestechenden Pageturner, der mit einer Handvoll Personen und einem Handlungsort auskommt.
Das liegt insbesondere an den ausgefeilten Charakteren: Jede Figur hat ein Handlungsmotiv und Hintergrund, ohne dass es allzu ausführlich erzählt wird. Die Männer in diesem Buch – Thone und Tobias – stehen dabei vor allem am Rande und sehen zu, wie ihre Vorstellungen von Männlichkeit, vom Beschützen und Retten nach und nach zerplatzen. Die handlenden Figuren sind indes Amanda und Ione – zwei Frauen aus verschiedenen Generationen und Klassen. Immer wieder lässt Armstrong erkennen, wie verschiedene ihre Handlungsräume allein deshalb sind: Alles, was Ione hat, ist ihr Ehemann und ihre Eifersucht. Sie konnte nicht ertragen, dass Tobias eine andere Frau liebt; nun will sie deren Geld haben und den Sohn loswerden. Amanda indes will mehr als einen Ehemann von ihrem Leben – was genau das sein könnt, weiß sie indes noch nicht. Sie wird in „The Chocolat Cobweb“ mal als Amanda und mal als Mandy bezeichnet, gelegentlich wechselt die Anrede sogar innerhalb desselben Satzes. In seinem Vorwort sieht A.J. Finn darin Ausdruck ihres Coming-of-Age – ihren „tug-of-war between post-teenage adolescence and womanhood”. Jedoch ist es kein Ringen, es ist eine Suche. Im zweiten Kapitel konstatiert sie, dass sie noch niemals in ihrem Leben verliebt war – aber das ist kein theatralisches Seufzen, es ist mehr eine Feststellung ebenso wie sie weiß, dass ihr momentaner Verehrer mehr Gefühle für sie hat als sie für ihn, aber in jedem Fall eine gute Wahl wäre. Weiterlesen