Eines der spannendsten Bücher des Herbstes ist „Die amerikanische Nacht“ von Marisha Pessl. Dieser über 800 Seiten lange Roman beginnt wie ein typischer film noir: der krisengeplagte Journalist Scott McGrath läuft in einer „regnerischen Nacht Mitte Oktober“ durch einen Park in New York. Plötzlich entdeckt er eine junge Frau in einem roten Mantel, die in der Nähe eines Laternenpfahls steht. Es ist mitten in der Nacht, sie ist allein an einem unsicheren Ort, also läuft er auf sie zu – doch als er ankommt, ist sie verschwunden. Einen Tag später erfährt er, dass Ashley Cordova, die Tochter des geheimnisvollen Regisseurs Stanislas Cordova, tot aufgefunden wurde. Er ist sich sicher, dass sie die junge Frau in dem roten Mantel war – und dass sie ihm etwas mitteilen wollte. Immerhin hatte er einst an einem Enthüllungsartikel über ihren Vater gearbeitet, ist dann aber einem falschen Informanten aufgesessen und hat damit seiner Karriere als investigativer Journalist mehr als nur einen Dämpfer verpasst. Seither ist er überzeugt, dass Cordova seinen Artikel verhindern wollte und deshalb den Informanten auf ihn angesetzt hat. Doch was wollte nun seine Tochter von ihm? Und vor allem: Warum sollte sie Selbstmord begehen?
Scott kommt von dem Geheimnis ihres Ablebens und ihres Vaters nicht los und forscht abermals wie besessen nach. Mit Hopper und Nora begegnet er auf rätselhaft-zufällige Weise zwei Helfern, die ihn auf seiner Reise zu Sex-Clubs, einem Laden für Hexenbedarf, eine Psychiatrie und zu dem geheimnisumwitternden Anwesen des Regisseurs begleiten. Dabei legt Marisha Pessl sehr gekonnt die Fährten aus, so dass sich ihr Roman als regelrechter Pageturner entpuppt. Dazu trägt insbesondere am Anfang bei, dass sie verschiedene Quellen mischt. Neben den Erzählungen Scotts gibt es Zeitungsartikel und eine Webseite sowohl im Roman als auch tatsächlich, die wichtige Hinweise liefert. Dadurch vermittelt sie dem Leser sehr schnell wissenswerte Informationen, ohne die Erzählperspektive zu ändern oder auf einen Rückblick zurückgreifen zu müssen. Vielmehr wird man auf diesen ersten Seiten zu einem weiteren Gehilfen, ehe dann im weiteren Verlauf zu Erzählstimme dominanter wird. Hinzu kommen zahllose Filmzitate und Anspielungen quer durch die amerikanische Filmgeschichte, die einen weiteren Reiz ausmachen. Ohnehin spielt der Film im Roman eine wichtige Rolle (das deutet auch schon der Originaltitel „Night Film“ an): Cordova ist ein exzentrischer Horrorfilm-Regisseur, der angeblich die Verstümmelung seines eigenen Sohnes gefilmt hat und mit seinen Werken das Publikum manipuliert. Wie Alfred Hitchcock und Roman Polanski fordert er alles von seinen Darstellern, wie Orson Welles lebt er zurückgezogen, außerdem steckt noch ein wenig von Stanley Kubrick und Dario Argento in ihm. Seine Filme dürfen nicht mehr öffentlich aufgeführt werden, aber Scott ist überzeugt, dass sie Hinweise auf Cordovas Wahn enthalten. Deshalb wird seine Recherche insbesondere von dessen Filmen angetrieben, so dass diese Charaktere und Motive die Handlung des Romans formen. Auf diese Weise zeigt Marisha Pessl, wie unsere Erwartungen und Wahrnehmungen beeinflusst werden. Dadurch wird „Die amerikanische Nacht“ auch zu einem Roman über die Erkenntnis über die eigenen Ziele, die Unerklärbarkeit und Mehrdeutigkeit mancher Ereignisse, aber auch über die Gefahren der Neugier und des Wissens wollens – und des Fan-Daseins.
„Die amerikanische Nacht“ ist ein clever konstruierter Roman, der weitgehend funktioniert. Sicherlich folgen die Cliffhanger am Ende des Kapitels oftmals den gleichen Mustern, auch sind nicht alle Dialoge gelungen. Zudem flacht der Roman zum Ende hin zunehmend ab. Hier verrennt sich Marisha Pessl in den Verweisen und Querverbindungen, hier will sie mehr als spannende Unterhaltung – und das gelingt ihr nicht. Doch die ersten 600 Seiten hält sie die Spannung konstant hoch, daher ist man am Ende so sehr in das Buch versunken, dass man wissen will, wie es ausgeht. Und der Abschluss ist dann erstaunlich sanftmütig.
Marisha Pessl: Die amerikanische Nacht. Übersetzt von Tobias Schnettler. S. Fischer 2013.
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Angeblich weist ihr Roman erstaunliche Parallelen mit dem 1991 erschienenen Roman „Schattenlichter“ von Theodore Roszak auf.
Weitere Regisseure, mit denen Stanislas Cordova Ähnlichkeit hat.