Yunior lebt mit seinem älteren Bruder Rafa und seiner Mutter in Santo Domingo in der Dominikanischen Republik. Seine Mutter arbeitet in einer Schokoladenfabrik, das Geld ist ständig knapp und gelegentlich schickt sie ihre Söhne deshalb zu ihren tiós oder tiás, die eine Weile für sie sorgen. Der Vater ist vor einiger Zeit in die USA gegangen, aber er schickt nur unregelmäßig Geld und kaum einer weiß, ob er die Familie wirklich nachholen wird. Yunior kann sich kaum an ihn erinnern, kennt ihn im Grunde genommen nur von einem Foto. Als ein Besuch wieder einmal abgesagt wird, heult und schreit er dennoch tagelang – als würde er ahnen, dass ihm etwas fehlt. Später wird die Familie tatsächlich vom Vater in die USA geholt – und es ist Yunior, der mit seinem Vater und dessen Regeln die größten Schwierigkeiten hat.
Zehn Geschichten über hispanische Einwanderer erzählt Junot Díaz in seinem Erzählungsband „Abtauchen“, der bei Erscheinen 1996 bereits für Aufmerksamkeit sorgte. Dazu trägt nicht zuletzt bei, dass es einige Parallelen zwischen seinen Protagonisten und dem Leben des Autors gibt. Sie stammen aus der Dominikanischen Republik und sind – wie Junot Díaz – in die USA eingewandert. Insbesondere bei Yunior, der Erzähler der meisten Geschichten dieses Bandes, gehen die Parallelen noch weiter: der Vater ist in die USA gegangen, Yuniors Mutter blieb mit seinem älteren Bruder in Santo Domingo und folgte später nach. Junot Díaz lebte als drittes von fünf Kindern die ersten sechs Jahre bei seiner Mutter und seinen Großeltern in Santo Domingo, während sein Vater Rafael in den Vereinigten Staaten arbeitete. Er ging im Alter von sechs Jahren nach New Jersey, und lebt mittlerweile als Schriftsteller in New York und Boston und unterrichtet am MIT kreatives Schreiben. Obwohl ich mit solchen Begriffen und autobiographischen Lesarten vorsichtig bin, kann Yunior als ein literarisches Alter Ego des Autors gesehen werden: Er durchlebt all die verschiedenen Phasen, Gefühle und Erfahrungen eines Kindes, Jugendlichen und Mannes, der nicht so recht in die Gesellschaft der hispanischen Einwanderer und ihr machismo passen will. Außerdem taucht er in allen der bisher in deutscher Sprache erschienen Bücher von Junot Díaz– „Abtauchen“, der pulitzerpreisgekrönte Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ und „Und so verlierst Du sie“ – mehr oder weniger häufig als Erzähler der Geschichten auf, so dass sich die Bücher insgesamt allmählich zu dessen Biographie verdichten.
Junot Díaz erzählt in seinen Büchern von den hispanischen Immigranten in den USA aus einer männlichen Perspektive. Es sind die Kämpfe, Frustrationen, die Wut und Bedürfnisse der männlichen Einwanderer, auf die er sich konzentriert. Selbst Yuniors Mutter ist in „Abtauchen“ lediglich aus der Perspektive des Sohnes zu sehen. In einer ebenso traurigen wie lustigen Geschichte erzählt Yunior, dass er sich in dem neuen Auto seines Vaters jedes Mal übergeben musste. Sein Vater ließ ihn deshalb schon nichts mehr essen – aber es half nichts. In diesem Auto ist er auch mit seinem Vater zu dessen Geliebten gefahren, ein Besuch, der ihm erstmals die Untreue der Männer seiner Familie eindringlich vor Augen führte. Wie seine Mutter darüber dachte, wird jedoch nicht deutlich.
Eine weitere Besonderheit ist zudem die Sprache des Buches: Das Englisch ist durchzogen von hispanischen Ausdrücken, so dass der Einfluss zweier Kulturen deutlich wird. Da ich das Buch im Original gelesen habe, kann ich zur Übersetzung und der Verständlichkeit der Ausdrücke im Deutschen nichts sagen, allerdings hatte ich dank meines Gastro- und Film-Spanisch mit den Wörtern keinerlei Schwierigkeiten. Vielmehr entsteht dadurch ein sehr unmittelbarer und lebendiger Eindruck von Yuniors Leben.
Junot Díaz: Drown. 1996. Deutscher Titel: „Abtauchen“. Übersetzt von Hans M. Herzog. S. Fischer. Vergriffen.