Im Jahr 1965 wird die indonesische Regierung vom Militär aus dem Amt geputscht. Daraufhin töten in weniger als einem Jahr von den Militärs beauftragte Todesschwadrone mehr als eine Million vermeintliche Kommunisten, Indonesier chinesischer Herkunft und Intellektuelle. Bis heute wird über diese Massenmorde nicht gesprochen – die Täter leben nicht nur unbehelligt, sondern verehrt und gefürchtet inmitten der Bevölkerung, sie haben politische Ämter inne und rühmen sich ihrer Taten.
In seinem Dokumentarfilm „The Act of Killing“ lässt Joshua Oppenheimer einen der Täter von damals – Anwar Congo – seine Taten schildern und nachinszenieren. Bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck habe ich mich mit Joshua Oppenheimer getroffen.
Ich fange mit einer Frage an, die Du vermutlich schon hunderte Male beantwortet hast: Wie bist Du auf die Geschichte von „The Act of Killing“ gestoßen?
Ich kam nach Indonesien im Jahr 2001, um mit Christine Cynn einen Film über Arbeiter auf einer Ölpalmen-Plantage in belgischem Besitz zu drehen, die nach Ende der Suharto-Diktatur eine Gewerkschaft gründen wollten. Sie liegt ungefähr 60 Meilen von der Stadt Medan. Die Arbeiter brauchten unbedingt eine Gewerkschaft, da sie gezwungen wurden, ohne Schutzkleidung ein Herbizid zu versprühen, das ihre Leber angreift und tödlich wirken kann. Aber sie hatten Angst, eine Gewerkschaft zu gründen, weil ihre Eltern und Großeltern in einer Gewerkschaft waren und deshalb 1965 beschuldigt wurden, dass sie kommunistische Sympathisanten seien – nur weil sie in einer Gewerkschaft waren – und getötet wurden. Nun hatten die Arbeiter Angst, das würde wieder geschehen.
Nachdem wir uns also getroffen haben, sagten sie, wir sollten zurückkommen und einen anderen Film über ihre Angst machen – nicht nur über die Ereignisse 1965, sondern darüber, wie es ist, mit den damaligen Opfern verwandt zu sein, während die Menschen, die die Ermordungen organisierten, immer noch die Macht haben. Das war die Ausgangssituation 2003. Doch es sprach sich herum, dass wir an den Ereignissen von 1965 interessiert waren, die Armee tauchte auf und ließ uns nicht mehr mit den Überlebenden drehen. Daraufhin sagten die Überlebenden zu uns, dass im selben Ort auch Mitglieder der Todesschwadronen lebten, die eventuell erzählen würden, wie sie ihre Verwandten damals getötet haben. Keiner wusste, ob es möglich wäre – oder sicher oder weise. Wir haben uns diesen Männern vorsichtig genähert, aber sie haben sofort detailliert über die Ermordungen geredet und sie sogar noch hochgespielt. Dadurch sind weitere Fragen entstanden: Vor wem geben sie damit an? Warum machen sie es? Wie wollen sie gesehen werden – in dem Film, den wir drehen; von ihren Nachbarn? Wie sehen sie sich selbst? Das sind fundamentale Fragen über die Imagination und über das Jetzt.
Ist es eine besondere Situation in Indonesien?
Anfangs fühlte ich mich, als würde ich in Deutschland 40 Jahre nach dem Holocaust sein und herausfinden, dass die Nazis noch die Macht hatten. Aber von meiner Arbeit wusste ich, dass das keine Ausnahme war, dass die Täter an der Macht sind, sondern dass es die Regel ist, und das Angeben mit den Taten ist eine Metapher für diese Regel. Als ich diese schreckliche Norm erkannte, wusste ich, dass ich diesem Thema so viele Jahre meines Lebens wie möglich geben sollte. Also nahm ich das Filmmaterial, das wir mit den Tätern in dem Dorf gedrehten hatten, mit zu dem Human Rights Committee der Überlebenden. Sie sagten, dass unsere Arbeit wichtig sei und wir herausfinden sollten, was geschehen ist. Dann würde jeder Indonesier, der das sehe, gezwungen sein, das verrottete Herz dieses Regimes zu erkennen.
Also machte ich weiter, filmte jeden Täter, den ich in zwei Jahren finden konnte, und arbeitete mich die Kommandokette nach oben. Anwar war der 41. Täter, den ich gefilmt hatte. Fast alle zeigten mir die Orte, an denen sie getötet haben, spielten die Tötungen nach. Bei dem ungefähr zehnten Täter habe ich ihnen sehr offen gesagt, dass sie Teil einer der größten Ermordungen der Geschichte der Menschheit waren, ihre gesamte Gesellschaft, ihr Leben darauf aufgebaut ist. Ihr wollt mir zeigen, was damals passiert ist? Also zeigt mir – wie auch immer –, was damals passiert ist, und ich filme eure Unterhaltungen darüber, was ihr zeigen wollt, wie ihr es zeigen wollt und was ihr nicht zeigen wollt, um die Frage zu beantworten, wie ihr gesehen werden wollt – und was es für euch und ihre Gesellschaft bedeutet.
Also sollte von Anfang an kein anderer Film entstehen?
Nein, der Film im Film ist auch kein Versuch, sie zu öffnen. Es eine Methode, eine Analyse, ihre Offenheit zu verstehen, warum sie so offen sind – und wem gegenüber. Als ich dieses Vorgehen zum ersten Mal vorschlug, hatte ich nicht erwartet, dass wir diese surrealen, genrebasierten Ausschnitte drehen würden, das entstand im Prozess mit Anwar.
Warum bist Du bei Anwar geblieben?
Ich blieb bei Anwar, weil sein Schmerz dicht an der Oberfläche war, und ich begann zu ahnen, dass das Angeben kein Zeichen des Stolzes war, sondern das Gegenteil: Er wusste, dass sein Handeln falsch war, und versucht verzweifelt, eine Rechtfertigung für sich zu finden. Also blieb ich bei Anwar und zeigte ihm das Material, das wir gedreht hatten, um zu sehen, ob er sich selbst im Spiegel des Films, des gedrehten Materials erkennt. Und ich glaube, er erkennt sich. Wenn er in der Szenen auf dem Dach am Anfang sehr beunruhigt wird, sich aber stattdessen mit seinen Klamotten und seiner Haarfarbe beschäftigt, schlägt er diese Verbesserungen meiner Meinung nach vor, um dem Schmerz zu entfliehen, den er beim Ansehen des Materials spürt. Von da an wurde jede Verbesserung grotesker, surrealer und absurder, aber ich glaube, letztlich wird er von seinem Gewissen angetrieben. Deshalb werden diese nachgespielten Szenen am Ende vielleicht zu einer Art Prisma, durch das er seine Taten sieht.
Also weiß er, dass Du mit ihm nicht übereinstimmst?
Ja, fast von Anfang an. Wobei – was heißt, ich stimme nicht mit ihm überein. Er weiß auch, dass das, was er getan hat, falsch ist. Er weiß, dass ich verstört bin, von dem was ich sehe, ich sage es zu ihm. Es gibt eine Szene in der längeren Festivalversion, in der er ein Kind abschlachtet – es ist ein Teddybär, den er abschlachtet, der als Kind fungiert, die Szene ist Teil des film-noir-Abschnitts, bevor er das Opfer filmt – als ich das filmte, strömten die Tränen über meine Wange, ich war wirklich aufgewühlt, musste weinen. Er wusste, wo meine moralischen Sympathien liegen. Ich war so offen, wie ich sein konnte, ohne meine indonesische Crew zu gefährden.
Wie stehst Du zu dem Anspruch – gerade an dokumentarische Filmmacher –, dass sie neutral bleiben müssen.
Ich glaube nicht, dass irgendein Filmmacher neutral bleibt. Und ich glaube, ein Dokumentarfilmmacher wird keinen guten Film machen, wenn er seinem Thema nicht nahe kommt. Ich werde diese Frage oft gefragt, und ich glaube, die Leute hoffen auf Neutralität gerade bei einem Thema wie Massenmord, weil sie glauben, es ist ein Weg, sich selbst zu distanzieren. Sie wollen sich versichern, dass das, was sie sehen, nicht sie sind. Doch Richter sollten neutral bleiben, Gerichte sollten neutral bleiben, ich bin kein Richter oder Anwalt – wäre ich es, hätte ich Fälle und könnte ein Urteil sprechen, aber wen kümmert das? Wir haben doch gerade schon Schwierigkeiten, dass sich die Menschen für die Verbrechen interessieren, die in diesem Moment in Syrien geschehen. Wie sollen wir dann ihr Interesse für die Taten wecken, die Anwar vor 47, 48 Jahren begangen hat?
Früh im Prozess habe ich entschieden, dass ich nicht die Verbindung von „der Mann hat etwas Ungeheuerliches getan“ zu „dieser Mann ist ein Monster“ mache. Ich habe sehr viel Glück, dass ich nicht herausfinden werde, was ich getan hätte, wenn ich zu dieser Zeit in Anwars Familie groß geworden wäre. In dem Moment, in dem ich ihn aber zum Objekt mache – und das hinter Neutralität verstecke – weigere ich mich, ihn als Menschen zu sehen. Ich bin in einer Familie groß geworden, die gerade so den Holocaust überlebt hat, und die die Prämisse hat, solche Dinge zu verhindern. Die Message war „never again“ – nicht nur zu uns, sondern zu allen Menschen. Und wir müssen die Augen darauf richten, wie Menschen sich das antun. Denn sie tun es wieder und wieder. Und in dem Moment, in dem wir Anwar zum Monster machen, verschließen wir die Augen vor dem, wie Menschen sich das antun können.
In einer der eindringlichsten Szenen Deines Films erzählt ein Mitwirkender – ein Nachbar – wie sein Stiefvater damals aus dem Haus gezerrt wurde und er ihn später ermordet aufgefunden hat. Es ist zu sehen, wie sehr er darunter leidet, dennoch lacht er die ganze Zeit, um Anwar und den anderen Täter zu versichern, dass er es ihnen nicht übel nimmt. Hat er freiwillig bei dem Film mitgemacht?
Das ist eine sehr schmerzvolle Geschichte für mich. Es gibt drei Szenen in dem Film, die fast eine Grenze überschreiten, zwei kann ich leicht erklären. Bei dem Massaker im Dorf kann ich einfach sagen, es war ein Set, alle Kinder waren Kinder und Enkelkinder der Täter und sie wurden danach gecastet, dass sie spontan weinen können. Die Takes waren sehr kurz und sie wurden sofort von ihren Familien umsorgt. Außerdem waren sie die einzigen am Set, die nicht verstanden haben, worum es bei dieser Szene geht – auch wenn sie anders wirken.
Die zweite Szene ist, wenn Anwar und die anderen Männer über den Markt gehen und das Geld einsammeln. Es war sehr wichtig für mich, dass ich das filme, aber nicht zum Beteiligten werde, zu einem Komplizen ihres Verbrechens. Also habe ich sie vorangehen lassen und ihnen erzählt, ich lasse die erpressten Marktverkäufer ein Freigabe-Formular unterschreiben, aber tatsächlich habe ich ihnen das Geld zurückgezahlt. Es ist wirklich wichtig, wenn man über fünf Jahre lang diesen Film dreht: Man will nicht an der Gewalt teilhaben.
Die Szene, die für mich aber am schmerzvollsten ist, ist die mit dem Nachbarn. Sie ist ein Fehler. Es war eine sehr wichtige Regel für mich, dass es niemals irgendwelche Überlebenden in den nachgespielten Szenen gibt. Alle Beteiligten sollten Täter sein. Dieser Mann wurde mir als Teil von Hermans ehemaliger Theatercrew vorgestellt, der ein guter Schauspieler sein sollte. Wir haben in diesem Fernsehstudio mit drei Crews gedreht, also drehte ich eine Szene, während mein Kameramann, der kein indonesisch spricht, diese Mittagspause drehte, in der der Nachbar seine Geschichte erzählt. Er konnte mir nicht sagen, was passiert ist, nur dass der Nachbar eine intensive Geschichte erzählt hat. Als ich dann nach den vier Monaten Drehzeit das Material sichtete, habe ich mit den nachgespielten Szenen angefangen und danach das ganze Nebenmaterial gesichtet, ob ich etwas verpasst hatte. Als ich diese Geschichte hörte, war ich entsetzt. Wenn ich gewusst hätte, dass er ein Opfer war, hätte ich ihn sofort aus dieser Szene herausgeholt, er hätte ja schon gar nicht dort sein sollen. Dann wurde ich neugierig: Er taucht auch danach noch auf, er war in der Talkshow, in der Dorfmassaker-Szene und ich fragte mich, warum macht er mit? Ich war beunruhigt, auch wenig beschämt, also suchte ich seine Nummer heraus und rief ihn an. Seine Frau erzählte er mir, dass er sechs Monate vor meinem Anruf an den Folgen von Diabetes gestorben sei. Aber sie erzählte mir, dass er in dem Film sein wollte, weil er dieses schreckliche Erlebnis als Kind hatte und es durch meinen Film ausdrücken wollte. Das hat er getan. Er wusste, dass dieser Film die offizielle Version der Geschichte unterlaufen würde. Er war dort auf einer Mission, die für ihn erfolgreich war. Hätte ich ihn herausgeholt, wäre er nicht erfolgreich gewesen und mein Film wäre weniger kraftvoll. Wenn ich es aber noch einmal machen könnte, würde ich ihn trotzdem herausholen. Er sollte dort nicht sein.
Du hast sehr lange gedreht, viel Material gesammelt. Wie hast Du die erzählerische Struktur des Films gefunden?
Ich habe in fünf Jahren 1200 Stunden gedreht, die Szenen auf dem Dach am Anfang ist das erste Mal, das ich Anwar gefilmt habe, den ersten Tag, und die Szene am Ende ist das letzte Mal, das ich ihn gesehen habe. Deshalb folgt die längere Festivalversion dieser Chronologie der Methode: Wir filmen eine Szene, dann schaut sich Anwar diese Szene an, dann filmen wir die nächste Szene, er sieht sich an usw. Der Film ist ein wenig wie eine Leinwand: Wir malen ein wenig, treten ein Stück zurück, malen wieder ein wenig. Diese Methode war für Anwar wie eine Reise, deshalb konnte sie nur in dieser Art und Weise präsentiert werden. Bei der Kinoversion habe ich ein Stück vom Ende an den Anfang gestellt, um ihm eine Richtung zu geben. Das ist in diesem Fall die noir-Szene, die kommt eigentlich später im Film.
Wurde der Film in Indonesien gezeigt?
Um der Zensur zu entgehen, wurde der Film nicht kommerziell in Indonesien ausgewertet, sondern kostenlos in über 1100 Orten und 18 Städten gezeigt, nun gibt es ihn als kostenlosen Download in Indonesien. Unsere ganze Strategie bei der Veröffentlichung war, das Verbot des Films zu verhindern. Also haben wir ihn beim Menschenrechtstreffen in Jakarta Journalisten, Künstlern, Menschenrechtlern gezeigt. Jeder der ihn gesehen hat, sagte, dieser Film müsse von den Menschen in Indonesien gesehen werden. Also haben sie ihn in ihre Städte gebracht und Screenings veranstaltet. Anfangs waren diese nur auf Einladung, damit wir nicht durch die Zensur mussten. Aber aufgrund der hohen kulturellen Unterstützung konnten wir öffentliche Screenings machen. Der Herausgeber einer der wichtigsten Zeitungen und Magazine hat sogar ein Sonderausgabe zu den Morden gemacht, in der er weitere Täter aufgesucht hat, um zu zeigen, dass Anwar nur einer unter vielen ist. Diese Ausgabe verkaufte sich sehr schnell, und sie zeigt, dass diese Morde systemisch sind. Das Ergebnis ist, dass sich die Täter nicht mehr mit ihren Taten brüsten, über den Genozid wird als Genozid gesprochen und die Menschenrechtsgemeinschaft muss weniger Angst haben.
Was ist mit Anwar?
Anwar hat den Film auch gesehen. Er war sehr bewegt und sagte anschließend, dass dieser Film zeige, wie es ist, er zu sein. Wir sind auch weiterhin in Kontakt. Auch wenn ich mit der Menschenrechtsgemeinschaft eng verbunden bin, ist es mir wichtig, mit Anwar einen respektvollen und anständigen Kontakt zu haben, zumal wir durch einen sehr intimen Prozess gemeinsam gegangen sind.
Und was sind Deine nächsten Projekte?
Über mein übernächstes Projekt denke ich gerade nach, aktuell schneide ich einen zweiten Film über Indonesien. Es ist ein Film über eine Familie von Überlebenden, die herausfinden will, wie ihr Sohn ermordet wurde. Der jüngste Bruder der Familie will nicht hinnehmen, dass über diese Morde nicht gesprochen wird. Er ist ungefähr unser Alter und will das Schweigen nicht akzeptieren. Also besucht er alle Männer, die mit dem Tod seines Bruders zu tun hatten. Er ist ein Optiker, daher testest er erst ihre Augen und spricht sie dabei auf die schrecklichen Dinge an, die diese Augen gesehen haben müssen. Dann erzählen sie, was sie getan haben, und er eröffnet ihnen anschließend, wer er ist. Es wird ein kleinerer Film, fast ein Gedicht.
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