„Mein Bruder Ward war einmal berühmt.“ Mit diesem Satz beginnt Pete Dexters „Paperboy“ und er gibt sogleich den Tenor vor: Hier wird von einem erzählt, dessen Ruhm nicht dauerhaft war. Von Anfang an steuert Pete Dexters „Paperboy“ daher auf einen Abgrund zu, dessen Ausmaß sich lange lediglich erahnen lässt, aber stets im Hintergrund zu spüren ist. Dabei ist „Paperboy“ zugleich eine Parabel über das Zeitungswesen und das Verbrechen.
Zwei Journalisten und ein Kriminalfall
Nachdem er sein Schwimm-Stipendium verloren hat, ist Jack James – der Erzähler von „Paperboy“ – von der Universität geflogen und ins heimatliche Lately, Florida zurückgekehrt. Es ist das Jahr 1969 und Jack weiß nicht recht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Also verdingt er sich als Fahrer für die Zeitungen seines Vaters W.W. Sein Bruder Ward arbeitet hingegen als Reporter für die Miami Times und hat einige Aufmerksamkeit für einen Artikel über einen Flugzeugabsturz erhalten, den er mit seinem Kollegen Yardley Achman zusammen geschrieben hat. Es heißt, Ward habe die exakten Recherchen und genauen Analysen beigesteuert, während Yardley Achman den schillernden Schreibstil habe. Für Familie James ist Ward nunmehr der Hoffnungsträger, der die liberale Familienzeitung eines Tages fortführen könnte.
Dann kehrt Ward nach Lately zurück, um sich einen vier Jahre zurückliegenden Fall noch einmal anzusehen. Im Jahr 1965 wurde Thurmond Call, der Sheriff von Moat County, ermordet aufgefunden. Obwohl die Beweislage schwach war und Thurmond Call jede Menge Feinde hat, würde Hillary van Wetter als vermeintlicher Täter zum Tode verurteilt. Die Berichterstattung über seine Verhandlung erregte die Aufmerksamkeit der blonden Postangestellten Charlotte Bless, die sich zu Mördern hingezogen fühlt und ihm einen Brief schrieb. Mittlerweile sind sie verlobt und sie will seine Unschuld beweisen. Die Reporter wittern eine pulitzerpreisverdächtige Story über Korruption und falsche Urteile – und sehen sich deshalb vor Ort um.
Ein subjektiver Erzähler und sehnsüchtige Figuren
Jack wird von seinem Bruder und Yardley als Fahrer angeheuert und ist somit bei ihren Recherchen als parteiischer Beobachter hautnah dabei. Subjektiv erzählt er von den damaligen Ereignissen, die seinen Bruder nicht nur ein Auge kosten werden. Zugleich hadert er mit sich selbst und seinem Vater, kommt einem Geheimnis seines Bruders auf die Spur und liefert Einblicke in das alltägliche Leben in Florida am Ende der 1960er Jahre. Dadurch entsteht eine hohe atmosphärische Dichte, die zu der melancholischen noir-Stimmung des Romans beiträgt. Vieles wird eher beiläufig geschildert, doch die Schwüle der Sümpfe Floridas ist beim Lesen fast zu spüren.
Vor allem aber ist „Paperboy“ ein Roman voller unvergesslicher Figuren. Mit wenigen Strichen charakterisiert Pete Dexter sie und verleiht ihnen Tiefe, die sie sehr lebendig werden lässt. Sie stecken voller Sehnsüchte: Yardley Achman sehnt sich nach Ruhm. W.W. nach den guten alten Zeiten, Ward nach investigativem und aufrichtigem Journalismus sowie einem offenen Leben, Charlotte nach Aufregung und James nach einem erfüllten Leben. Einzig der unsympathische Hillary Van Wetter und seine Verwandten scheinen keine Sehnsüchte mehr zu haben. Sie haben sich in den Sümpfen in ihrer Verderbtheit eingerichtet. Zugleich fasst er in schnörkelloser Prosa die Fragilität der Beziehungen und der Zeit ein. Rassismus und Gewalt sind allgegenwärtig, Toleranz und Freiheit brüchig, das Land scheint von einer Fiebrigkeit erfasst zu sein, die auf jeder Seite dieser Mischung aus Entwicklungs- und Kriminalroman zu spüren ist.
„Paperboy“ ist ein großartiger Roman von dem hierzulande immer noch wenig bekannten Pete Dexter. Lee Daniels Verfilmung dieses Romans wird am 25.06.2013 auf DVD erscheinen. Sie hat gemischte Kritiken erhalten, aber immerhin ist es zum Teil auch ihr zu verdanken, dass dieser Roman nun abermals in deutscher Übersetzung erscheint.
Pete Dexter: Paperboy. Übersetzt von Bernhard Robben. Liebeskind 2013.
Andere über „Paperboy“:
crimenoir (Erst nach Fertigstellung meines Beitrags habe ich gesehen, dass auch der Beitrag bei crimenoir mit einem Zitat des ersten Satzes beginnt. Ich habe meinen Anfang nun nicht mehr geändert und hoffe, dass dieser Zufall vor allem für die Stärke dieses großartigen Eröffnungsatzes von Pete Dexter spricht.)
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