Am Ende von „Sommer bei Nacht“ fragte ich mich, wie Jan Costin Wagner mit seiner Hauptfigur, dem pädophilen Polizisten Ben Neven, bloß weitermachen will. Nun: er macht in „Am roten Strand“ einfach weiter, wo er aufgehört hat.
Das Buch schließt gleich mehrfach an den Vorgänger an: der Fall, der dort aufgeklärt wurde, hat weitaus größere Dimension, so dass es eine bundesweite Ermittlung gibt, die sich insbesondere gegen vier Männer richtet, die Gewalt gegen Kinder verüben und Bilder sowie Videos davon vertreiben. Die Ähnlichkeiten des Falls in diesem Buch mit dem Fall auf dem Campingplatz von Lügde sind sicherlich nicht zufällig. Ganz vertraut Wagner aber diesem einen Fall doch nicht, dazu kommt eine Mordserie, die sich gegen die Verdächtigen richtet. Das ist schade, denn eigentlich braucht dieses Buch diesen zusätzlichen Strang nicht. Ohne ihn wäre noch deutlicher geworden, wie mühsam und kleinteilig diese Ermittlungen sein können – und es hätte auch Raum gegeben, um auf einen Aspekt des Falls zu verweisen, der auch in der öffentlichen Darstellung von dem Fall Lügde oft zu kurz kommt: das Versagen der öffentlichen Stellen, deren Aufgabe der Schutz von Kindern und Jugendlichen ist – und auch die Tatsache, dass die Polizei bereits 2016 Hinweise auf die Taten bekommen hat.
Wagner konzentriert sich indes auf die Auswirkungen, die die Ermittlungen auf die Polizist*innen haben – sie beschäftigen sich Tag für Tag mit Gewalt gegen Kinder, das geht nicht spurlos an ihnen vorbei. Das Team arbeitet gut zusammen, auch vermeidet Wagner hier viele Klischees. Da sie dazu aber noch jemanden suchen, der Menschen umbringt, kommt eine Dringlichkeit hinzu, die von dieser Art Polizeiarbeit wieder etwas wegführt.
Es fehlt hier die letzte Konsequenz, sich dem Genremuster zu verweigern, dass unbedingt ein Mord, eine unmittelbare Bedrohung nötig ist. Und dieses Fehlen der Konsequenz zeigt sich ausgerechnet auch in der Charakterisierung von Ben Neven. Wir wissen mittlerweile, dass er auf Kinder, auf Jungs steht und seine Arbeit ihm die Möglichkeit verschafft, an Material zu kommen, mit dem er seine Lust befriedigen kann. Er weiß, dass es falsch ist, was er tut und er empfindet. Er hat Angst, dass sein Umfeld es herausfinden könnte. Bisher hat er sich Bilder angeschaut, nun aber steht er kurz davor, selbst zu handeln. Und hier ist der Punkt, an dem ich mich frage, warum er selbst da nicht versucht, Hilfe zu bekommen – und sei es anonym im Internet. Er ist Polizist, falls er selbst nicht weiß, wie er sich unerkannt im Netz bewegt, dürfte er es wohl herausfinden können. Ben Neven trifft Entscheidungen nicht leichtfertig, aber lässt sich alles tatsächlich mit dem Trieb begründen?
Und es gibt noch einen zweiten Punkt, den ich im ersten Teil noch erleichternd fand, nun aber etwas kritischer sehe: Ben Neven ist Vater einer Tochter. Sie ist – anders als andere Kinder in diesem Buch – sicher vor ihm, weil er Jungs bevorzugt. Aber auch hier wird eher behauptet, er sei ein guter Vater als dass es zu lesen ist. Zeit verbringt er mit ihr eher wenig. Und deshalb frage ich mich nun auch, ob es nicht bequem ist, dass er eine Tochter hat. Gibt es einen Unterschied zwischen einem Kind, dass er nicht kennt, und seinem eigenen Kind?
Es ist ein gewagtes Unterfangen, das Jan Costin Wagner eingegangen ist – und man muss für dieses Buch auch bereit sein zu akzeptieren, dass es ihm hier um die Frage geht, wie ein Mann, der weiß, dass es falsch ist, was er empfindet und tut, damit umgeht. Falls ich mich aber darauf einlasse und verstehen will, warum Männer solche Taten begehen, dann will ich mehr Anhaltspunkte, mehr von dem inneren Kampf lesen, eine tiefergehende Charakterisierung erhalten. Zumal sich in dem Buch das Verstehenwollen auch auf Ben Neven beschränkt und sich nicht auf die anderen Täter erstreckt.
Jan Costin Wanger: Am roten Strand. Galiani Berlin 2022.