„Beraubt“ von Chris Womersly

(c) DVA

Vor Jahren musste Quinn Walker die heimatliche Kleinstadt Flint verlassen, als er für den Mörder seiner jüngeren Schwester gehalten wurde. Die Bewohner, sein Onkel und sogar sein Vater sind seit damals von seiner Schuld überzeugt, weil er blutbesudelt mit dem Messer über ihrer Leiche gefunden wurde. Nun ist er aus dem Großen Krieg zurückgekehrt; zerlumpt, traumatisiert und verwundet. Er hält sich in den Bergen in der Nähe von Flint versteckt und will seiner Mutter die Wahrheit gestehen: Er hat seine Schwester nicht getötet, aber er weiß, wer ihr Mörder ist. Noch immer hegen sein Vater und sein Onkel, der mittlerweile das Gesetz in Flinn vertritt, Rachegelüste und wollen ihn hängen sehen, also muss er sich vorsichtig verhalten. Da seine Mutter an der Spanischen Grippe leidet und unter Quarantäne steht, schleicht er sich heimlich zu ihr hin und erzählt ihr von seinem Leben und seinen Erinnerungen. Ist er nicht bei ihr, streift er durch die Berge. Dort trifft er auf das Waisenmädchen Sadie Fox. Seit ihre Mutter gestorben ist, wartet sie in einer einsam gelegenen Hütte auf die Rückkehr ihr Bruders und hält versteckt sich ebenfalls t vor Quinns Onkel, der sie in Waisenhaus bringen will. Sadie ist ein merkwürdiges Mädchen: Sie spricht mit Tieren und Pflanzen und ist erstaunlich hellsichtig. In ihr findet Quinn – anfangs widerwillig, später willkommen – eine ideale Begleiterin. Es scheint fast, als würde sie seine dunkelsten Geheimnisse kennen.

Australien im Jahr 1919 ist ein ungewöhnlicher Schauplatz für eine packende Rachegeschichte. Chris Womersley nutzt die Nöte und Schrecken des Krieges als Folie für die Traumatisierung eines jungen Mannes und schildert die Folgen des Krieges, der Grippewelle und der allgegenwärtigen Not so eindringlich, dass man beim Lesen die Sehnsucht der Hauptfigur nach einer Orange fast teilt. Dabei spiegelt sich die Grausamkeit eines weltumspannenden Krieges in der Rachsucht und Ignoranz einer kleinen Dorfgemeinschaft, treffen die Schrecken und Tötungen des Krieges auf einen psychopathischen Polizisten, der das Dorf kontrolliert. Es sind verstörte und verunsicherte Gesellschaften in Europa – und in Australien.

Chris Womersley (c) Privat

In seinem zweiten Roman konzentriert sich Chris Womersley fast ausschließlich auf Quinn und Sadie. Sie sind starke Figuren, die den Plot fast komplett ausfüllen kommen – gerade Sadie ist hinreißend interessant gestaltet. Deshalb fällt nur wenig Gewicht, dass die Hintergründe zu Sarahs Ermordung schnell vorherzusehen sind. Es sind vielmehr die Charaktere, die in diesem Roman überzeugen – und die eindringliche, fast poetische Sprache, die die Erlebnisse der Hauptfiguren kontrastiert. Dadurch wird ein Ritual mit Knochen, das Sadie durchführt, zu einer magischen Szene.

Zugleich ist „Beraubt“ ein Roman über die Macht des Unterbewussten. Die Interpretation eines Zettels führt Quinn nach Australien zurück, auch lässt er sich schließlich von Sadies Deutung der Knochen von der Notwendigkeit der Rache überzeugen. Daher ist es nur folgerichtig, dass in „Beraubt“ schön deutlich wird, wie Legenden und Ammenmärchen entstehen. Dadurch wird Chris Womersley Buch zu einer unterhaltsamen Abwechslung innerhalb der Neuerscheinungen dieses Frühjahrs.

Chris Womersley: Beraubt. Übersetzt von Thomas Gunkel. Deutsche Verlags-Anstalt 2013.

Andere über das Buch:
Christian Koch von Hammet

Diesen Beitrag teilen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert