Über Verbrechen schreiben

„Vielleicht ist die Scham, die ich empfinde, eine Stellvertreter-Scham, von der ich meine, irgendwer müsse sie doch schließlich empfinden.“

Im Jahr 1969 wurde Jane Mixer im Alter von 23 Jahren ermordet. Offiziell galt der Fall als ungelöst, allerdings wurde vermutet, dass sie Opfer des sogenannten Michigan Murderer John Norman Chapman geworden ist. Sie ist die Tante der Autorin Maggie Nelson, die Anfang 2000 angefangen hat, zu diesem Fall zu recherchieren und den Gedichtband „Jane: A Murder“ geschrieben, der 2005 veröffentlicht wurde. Anfang November 2004 rief ein Detective der Michigan State Police Maggie Nelsons Mutter an und sagte ihr, er habe die vergangenen fünf Jahre fieberhaft an diesem Fall gearbeitet und glaube nun, er habe ihn gelöst. Zwei Menschen hatten sich also unabhängig voneinander mit diesem Fall beschäftigt: Detective Sergeant Eric Schroeder um ihn zu lösen; Maggie Nelson um zu erzählen, wie eine Familie „im Schatten des Todes eines Familienmitglieds (…), das offenkundig einen schrecklichen und furchtbaren Tod gestorben war, jedoch unter Umständen, die für alle Zeit unbekannt bleiben würden“ leben konnte. Nun hatte Schroeder eine DNA-Probe, die einem Mann zugeordnet werden konnte, der nicht John Norman Chapman ist. Gary Earl Leitman wird verhaftet, es kommt zu Prozess.

(c) Hanser Berlin

Von dieser Zeit schreibt Maggie Nelson eindrucksvoll in „Die roten Stellen“. Sie erzählt von dem Gerichtsprozess, wie sie ihn wahrgenommen hat – und wie es ist, wenn Gewalt und Tod immer wieder über eine Familie hereinbrechen. Sie will die Details aufzeichnen, „bevor sie verschluckt würden, sei es durch Angst, Trauer, Vergessen oder Schrecken“; sie will sich und ihr Material „in ein ästhetisches Objekt verwandeln – eines, das neben oder anstelle oder zumindest als Hindernis im Weg der stumpfsinnigen Sprachlosigkeit stehen könnte, die Erinnern und Formulieren möglich macht.“ Maggie Nelson setzt sich mit der Erinnerung auseinander, der Verarbeitung, mit dem Schreiben über ein wahres Verbrechen, zu dem sie eine Distanz hat – sie hat ihre Tante nicht gekannt, sie starb vor ihrer Geburt. Doch weil sie ihrer Tante war, weil ihr Tod ihre Mutter und ihre Großeltern verändert hat, weil durch ihn Gewalt in all ihre Leben eingebrochen ist, hat dieses Verbrechen sie wenigstens mittelbar geprägt.

Innerhalb diesen hochspannenden Ambiguität von Nähe und Distanz, von Erinnerung und Verarbeitung verhandelt sie zahlreiche Aspekte, die bei True Crime immer wieder diskutiert werden: das Spekulative, das True Crime allzu oft anhaftet; die wiederkehrenden narrativen Muster aus Sentimentalität und die Frage, wem es zusteht, über dieses Verbrechen zu schreiben. Sie analysiert die nahezu pornographischen Beschreibungen der Gewalt, die die Opfer erlitten haben, und die Sprache von Schlagzeilen, die „Mitgefühl“ darin entdecken, wenn ein Mörder sein Opfer zudeckt, nachdem er es brutal ermordet hat.

Maggie Nelson (c) Harry Dodge

Dadurch analysiert sie sehr klar, dass die Art und Weise, wie über ein Verbrechen erzählt wird, die Wahrnehmung beeinflusst. Zudem aber fragt sie sich, über welche Verbrechen überhaupt berichtet wird – ganz konkret: hätte die Wiederaufnahme des Falls medial ein ähnliches Aufsehen erregt, wenn ihre Tante nicht eines jener hübschen toten weißen Mädchen gewesen wäre? Dazu kommen immer wieder Beschreibungen von Beobachtungen – beispielsweise, dass vor allem männliche Film-Nerds „Taxi Driver“ feiern oder James Ellroy in „Die Rothaarige“ zu „keinem Moment die Zwecklosigkeit seines Unterfangens begreift“, sondern seine „Zwanghaftigkeit (…) nur mit größerer Geschwindigkeit gegen diese Zwecklosigkeit“ schlägt. Sie versucht einem Fernsehproduzenten zu erklären, dass es bei ihr und ihrer Tante nicht um „Verschmelzung“ geht, „weil niemand tatsächlich weiß, was es heißt, in der Haut eines anderen zu stecken. Dass keine lebende Person einer anderen erzählen kann, was es heißt, zu sterben. Dass wir an dieser Stelle unseres Lebens auf uns allein gestellt sind.“ Dadurch markiert und unterläuft sie gängige Narrations- und Rezeptionsmuster, die genau diese Identifikation bis zur Verschmelzung erzielen wollen. Dazu gehört auch die Sprache, mit der wir uns mit Verlust und Tod auseinandersetzen. „Wir sprechen darüber, was die Leben benötigen oder wovon die Lebendenden glauben, die Toten benötigen es, oder wovon die Lebenden glauben, die Toten hätten es benötigt, wenn sie nicht tot wären. Allein, die Toten sind tot. Vermutlich haben sie mit dem Wollen abgeschlossen.“

Zu dem Mord an ihrer Tante kommt ein weiterer Verlust, der Maggie Nelsons Leben geprägt hat. Als sie zehn Jahre alt war, starb ihr 40-jähriger Vater ganz plötzlich an einem Herzinfarkt. Sie konnte lange nicht glauben, dass er tot war – seine Abwesenheit, die Unbegreiflichkeit seines Todes beschäftigt sie immer wieder auf diesen Seiten. Ihre Schwester Emily rebelliert fortan, sie reißt aus, wird schwanger, wird von der Mutter und deren neuen Partner auf ein Internat, in ein religiöses Camp geschickt. Maggie hingegen bleibt brav, gut in der Schule, aufgrund des „arschkriecherischen Teil von mir“, der die Erwachsenen beeindrucken wollte. Sie wollte unbedingt tapfer sein, obwohl sie gar nicht weiß, was es in diesem Zusammenhang bedeutet.

Nichts davon hat mit dem Mord an der Tante zu tun – oder eher: alles hat mit dem Mord an der Tante zu tun. Denn Maggie Nelson schafft Zusammenhänge, um sie wieder zu untergraben, „Die roten Stellen“ ist ein steter Fluss, ein Strom der Überlegungen und Verbindungen. Deshalb ist dieses beeindruckende, kluge und berührende Buch eine Erzählung über ein Verbrechen und über ihr Leben, es ist zugleich True Crime und literarisches Memoir. Einen Abschluss gibt es für Maggie Nelson nicht. „Außerdem glaube ich langsam, dass es Ereignisse gibt, die nicht „verhandelt“ werden könne, Dinge, die nicht „abgehakt“ werden können, über die man nicht einfach sagen kann, man habe „genug“, schreibt sie. Es wird immer Leerstellen geben, Rätsel, die nicht gelöst werden können. Auf der Leiche ihrer Tante wurde ein Blutstropfen gefunden, der einem vierjährigen Jungen zugeordnet wurde. Es gibt zahllose Möglichkeiten, wie er dorthin gekommen ist. Gewissheit aber, die gibt es nicht.

Maggie Nelson: Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses. Übersetzt von Jan Wilm. 224 Seiten. Hanser Berlin 2020. 23 Euro.

Dieser Text erschien zuerst im April 2020 im CrimeMag.

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