Ägypten nach Revolution. Ägypten im Jahr 2023. Die Mittelklasse ist verschwunden, die Gesellschaft klar aufgeteilt: Die Reichen wohnen im Norden des Landes einer bewachten Kolonie an der Küste namens Utopia, die „Anderen“, die Armen hausen in selbstgebauten Siedlungen, umgeben von Elektrozäunen und Mauern. Degeneration ist auf beiden Seiten zu spüren: Die Reichen langweilen sich: „schlafen, Drogen konsumieren, essen bis zum Umfallen, kotzen, bis man wieder Lust auf Essen hat, Sex haben“ beschreibt ein junger Mann seinen Alltag. Er ist die eine Perspektive des Romans „Utopia“ von Ahmed Khaled Towfik. Die Anderen streiten sich um Hühnerreste und durch ihre Armut sind alle moralischen Grenzen gefallen, daher ist „nichts einfacher zu haben als Sex. Sex gegen einen geringen Preis, ansonsten Vergewaltigung“. Aber letztlich gibt es nur eine Sache, die Arme und Reiche gemeinsam haben: Phlogostin. Eine Droge, von der man sich einfach ein paar winzige Tropfen auf die Haut träufelt. Dann verschafft sie einem für einen gewissen Zeitraum einen Rausch, der die Realität vergessen lässt.
Towfik unterteilt seinen Roman in Abschnitte, die jeweils mit Jäger und Beute überschrieben sind und jeweils einen Ich-Erzähler haben. Bei den „Jägern“ ist es ein reicher 16-jähriger Jugendlicher, der sich dem neuesten Hobby der Reichen hingibt: die Jagd auf den Arm eines Armen. Also schleicht er sich mit seiner Freundin Germinal in deren Gebiet, aber er wird enttarnt. Bei der „Beute“ ist ein junger Mann aus den Gebieten namens Gâbir, der Erzähler. Er will seine Schwester beschützen und sich noch einen Rest Humanität bewahren. Dabei ändern sich die Zuschreibungen des Jägers und Gejagten, sie wechseln je nach Ereignissen. Jedoch wird stets deutlich, wie sehr sie einander bedingen, wie sehr sie einander ausgeliefert sind. Ihr Zustand ist ähnlich, das zeigt sich schmerzhaft an einem Satz, den beide Erzähler sagen: „Lesen“ sei für sie „nur eine billige Droge. Ich mache es nur, um meinen Bewusstsein zu entfliehen. Früher, man stelle sich das vor, las man, um sich ein Bewusstsein zu bilden!“. Jedoch kann sich Gabir von diesem Bewusstsein nicht völlig befreien. Er durchschaut die Zusammenhänge, er ist besonnener und weiß, wie es zu diesem Zustand gekommen ist.
Towfik entwirft eine dichte und packende Dystopie eines Landes, das niemand mehr braucht, wenn Israel hat eine Alternative zum Suezkanal gebaut und die Amerikaner eine Alternative zum Öl gefunden haben. Und er verweist sehr deutlich darauf, was geschehen wird, wenn sich die Grenzen zwischen Arm und Reich weiter auseinanderklaffen und nur noch Gleichgültigkeit um sich greift.
Ahmed Khaled Towfik: Utopia. Übersetzt von Christine Battermann. Lenos Verlag 2017.
Klingt ja sehr heftig. Mir sagt weder der Buchtitel noch der Autor was, scheint aber gut in mein Leseschema zu passen. Danke für die Buchrezension, ich merke mir das gleich mal vor.