Am 27. Mai 1942 wurde in Prag Reinhard Heydrich durch ein Attentat so schwer verletzt, dass er acht Tage später verstarb. Heydrich war Chef des Reichssicherheitshauptamtes und damit maßgeblicher Organisator des Holocausts und seit September 1941 stellvertretender Reichsprotektor für Böhmen und Mähren. Einen Tag vor dem Begräbnis Heydrichs, am 9. Juni, wollte die NS-Führung ein Exempel statuieren: Sie zerstörten das Dorf Lidice in der Nähe von Prag, die 177 männlichen Bewohner wurden erschossen, die Frauen ins Konzentrationslager Ravensbrück verbracht, die Kinder des Ortes – bis auf neun, die als „germanisierbar“ eingestuft wurden – ermordet.
In Gerald Kershs 1942 geschriebenen und ein Jahr später erschienenen Roman „Die Toten schauen zu“ wird aus Heydrich nun von Bertsch, aus Lidice wird Dudicka. Bis heute ist umstritten, warum Lidice für die Racheaktion ausgewählt wurde, auch bei Kersh ist es mehr oder minder ein Zufall: Ein Motorrad, das angeblich jenem ähnelt, das bei dem Attentat verwendet wurde, wurde in der Nähe gefunden. Dabei ist es erstaunlich, wie es Kersh gelingt, aus dem, was damals bekannt war, einen dichten Roman zu entwickeln, in dem die Dorfgemeinschaft und die Täter gleichermaßen knapp wie präzise entwickelt sind.
In 21 Kapiteln treffen die Schilderungen einer organisierten Tötung und einer Dorfgemeinschaft aufeinander, die sich nichts zuschulden hat kommen lassen. Der Dorfschullehrer, der Pastor, der Metzger, ein Gastwirt, ein Glasbläser und seine Söhne wachen eines Morgens auf bzw. werden geweckt – teilweise in fremden Betten – und nach einigen Stunden ist ihnen gewiss, dass sie sterben werden. 405 Menschen, die aus ihren Häusern, ihrem Dorf, aus ihrem Leben gerissen werden, von Befehlsempfänger und ehrgeizigen Soldaten, die zu Boden schauen, wenn sie die Bestrafung eines Kindes nicht mit ansehen wollen. Geleitet wird die Aktion von Heinz Horner, der – schon die Initialen zeigen es – für Heinrich Himmler steht. Der „Schreibtischtäter“ Himmler, der er – wie Angelika Müller im ausführlichen Nachwort informiert – niemals war, wird hier vor Ort aktiv, er ist der Verantwortliche, der die ganze Aktion zu jeder Zeit stoppen könnte. Aber stattdessen setzt er einen Plan um, den er selbst erdacht hat: sämtliches Metall in dem Dorf wird zur Weiterverwertung gesammelt, die werden abgeholzt, Frauen in die Kirche, Kinder in der Schule, Männer im Gasthaus versammelt. Dabei ist das Ziel klar: Das Dorf soll dem Vergessen anheimfallen. Aber das ist ihnen nicht gelungen.
„Die Toten schauen zu“ rückte die Verbrechen der Nationalsozialisten schon damals ins Bewussstsein der Menschen, die ihn lasen – und er tut dies auch heute. In einer Zeit, in der Rassisten und Nationalisten in Deutschland, Schweden und vielen anderen Ländern marschieren, die AfD sich ein Parteiprogramm gibt und sich Hass gegen Flüchtlinge und Einwanderer ausbreitet, ist dieses Buch eine wichtige Mahnung an das, was schon einmal da war – und wiederkommen könnte. Zudem macht es sehr deutlich, was unsere Zeit von späten 1920er und frühen 1930er Jahren unterscheidet: Wir wissen, was passieren kann. Nichts ist mehr unvorstellbar. Und niemand kann hinterher sagen, wir hätten ja von nichts gewusst.
Gerald Kersh: Die Toten schauen zu. Übersetzt von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master 2016.