Krimi-Kritik: „Unter dem Auge Gottes“ von Jerome Charyn

Isaac Sidel ist designierter Vize-Präsident der USA, Bürgermeister von New York, Ex-Commissioner der Polizei und voller ‚ehrlicher Grausamkeit‘. Seit 1974 steigt der Cop aus der Bronx die Karriereleiter hinauf – „Unter dem Auge Gottes“ ist daher der elfte Band von Jerome Charyns Reihe über Isaac Sidel. Hierzulande erscheint er als erster Band der neuen Pulp-Penser Reihe des Verlags Diaphanes und hat nahezu hymnische Kritiken erhalten.

(c) diaphanes

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Tatsächlich ist „Unter dem Auge Gottes“ ein atemberaubender Kriminalroman mit einer charismatischen Hauptfigur. Isaac Sidel ist bei den Menschen beliebt, weil er knallhart und unbestechlich ist. Selbst im Wahlkampf läuft er noch mit „einer Glock in der Hose durch die Gegend“ und macht „Verbrecher dingfest“. Deshalb ist er ein „Rabauke mit einer Kanone. Er geriet in Faustkämpfe. Sein ganzer Körper war mit Narben übersät, wie Gottes eigener Krieger.“ Da er nur die bösen Jungs aus dem Weg räumt, lieben und verehren ihn die Menschen. Deshalb wissen auch die Strategen in der Demokratischen Partei, dass sie ihm den Sieg bei den Wahlen verdanken, haben aber mit seiner Unangepasstheit und seinem Gerechtigkeitssinn einige Schwierigkeiten. Dann wird von einem Attentäter, der sich selbst als das „Auge Gottes“ bezeichnet, ein Anschlag auf Sidel verübt. Das kann er nicht hinnehmen, außerdem zweifelt er an den schnell aufgedeckten Hintergründen des Attentats. Also beginnt er mit eigenen Nachforschungen und kommt dahinter, dass der reiche David Pearl etwas mit dem Anschlag zu tun hat. Pearl war einst der Assistent des berühmt-berüchtigten Arthur Rosenstein und lebt wie einst dieser im 17. Stock des legendären, aber leicht heruntergekommenen Hotels Ansonia. Sidel kennt ihn seit Kindestagen und teilt mit Pearl die Liebe zu dem Mythos des Ansonia, doch er weiß auch, dass er ihm nicht trauen kann. Und so deckt er nach und nach unglaubliche Verstrickungen von Politik und organisiertem Verbrechen auf.

Die Handlung schlägt irrwitzige Haken, es gibt zahllose Anspielungen und knappe Dialoge. Im Zentrum steht deutlich Isaac Sidel und dieser „big guy“ – wie er sich selbst nennt – ging mir gelegentlich gehörig auf die Nerven. Jedoch war ich weitaus häufiger hingerissen von der Originalität dieser Welt, die mit den realen USA im Jahr 1988 nichts gemein hat und doch fest verankert in New York scheint. Bei aller Unglaublichkeit der Handlung – unter der der Aufstieg eines jüdischen Cops aus der Bronx zum Vize-Präsidenten der USA noch die harmloseste ist – ist die Konstruktion dieses fiktiv-realen Landes und der schillernden Metropole in sich stimmig. Es ist eine eigens entworfene Welt, die ich mit wachsender Faszination erkundet habe. Unter anderem aus diesem Grund habe ich mir des Öfteren gewünscht, ich hätte die Reihe chronologisch gelesen. Irgendwo (leider habe ich die Aussage nicht wiedergefunden) habe ich gelesen, dass Thomas Wörtche seine neue Reihe Penser Pulp nicht mit einer Neuauflage von Jerome Charyns erstem Werk beginnen wollte, sondern mit einer Neuerscheinung – und diese Entscheidung ist aus verlegerischer Sicht sicher richtig. Jedoch bin ich überzeugt, dass beispielsweise die Auftritte mancher Figuren wie Sidels Schwiegersohn erst im Kontext der gesamten Reihe ihre volle Wirkung entfalten. Ohne Kenntnis der vorhergehenden Bände erscheint zudem manches als unnötiger Exkurs – als Beispiel wäre die Unterbringung von Sidels Ex-Geliebter in einem Sanatorium zu nennen. Auch hier vermute ich, es gibt einen Grund für die Nennung ihres Aufenthaltsorts und sei es nur, um ihre Geschichte abzuschließen.

Bei diesem Band waren es vor allem die Reibungspunkte mit der Hauptfigur und das faszinierende Roman-New-York, die mich begeistert haben. Und ich freue mich sehr, dass die vorhergehenden Werke nach und nach bei diaphanes neu aufgelegt werden sollen. Denn von diesem Isaac Sidel will ich mehr lesen!

Jerome Charyn: Unter dem Auge Gottes. Übersetzt von Jürgen Bürger. Diaphanes 2013.

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