Nun habe ich endlich „Les Misérables“ gesehen. Erst hat mir eine unangekündigte Terminverschiebung den Film versagt, bei der Berlinale gab es zu viele andere Filme und auch am Freitag stand die Sichtung unter keinem guten Stern. Die reservierten Karten für das gemütliche Woki mussten wir verfallen lassen, weil der Mann länger arbeiten musste, und wir hätten nicht mehr rechtzeitig ins Kino geschafft. Zum Glück lief der Film aber etwas später im Stern, also sind wir dorthin gegangen. Allerdings wusste ich dort schnell wieder, warum ich dieses Kino trotz seines Retro-Charmes nicht mag: die Sitze sind unfassbar unbequem, die Leinwand winzig und insbesondere gestern war der Ton schlechter als am heimischen Fernseher. Das ist Musical, da will ich die Musik und Gesang hören – und zwar laut!
„Les Misérables“ ist ein Film, den ich gerne mögen möchte. Die Musik des Bühnenmusicals ist toll und die Geschichte bietet genug Drama und Leidenschaft für eine opulente, mitreißende Verfilmung. Leider schickt Tom Hooper seinen Cast aber überwiegend durch Kulissen, dessen Künstlichkeit bis in die letzten Reihen zu erkennen ist. Dadurch verliert der Film schon in der Eröffnungsszene: Wenn Jean Valjean (Hugh Jackman) in der Galeere „Look Down“ schmettert, erwecken die Kulissen zu keinem Zeitpunkt einen authentischen Eindruck. Dadurch wirkt die Inszenierung fast schon lächerlich. Das setzt sich auch in weiteren Szenen fort. Ausgerechnet „Can you hear the people sing“ verliert an Leidenschaft, wenn die rebellischen Studenten durch gephotoshoppte Pappkulissen laufen – oder wenn Javert (Russel Crowe) sein „Stars“ singt, während er auf dem Geländer balanciert und im Hintergrund das nächtliche Paris mit Notre Dame zu sehen ist, glaubt man sich weit mehr in einer Traumfantasie. Ohnehin fällt Tom Hooper gerade im letzten Drittel des über zweieinhalb Stunden langen Films nicht mehr viel ein. So lässt er die arme Éponine (Samantha Barks) ihr „On my own“ getreu den Liedtext auf einer Straße singen und es regnet auch noch, so dass die Zeilen „In the rain the pavement shines like silver / All the lights are misty in the river“ unfreiwillig komisch wirken. Dazu kommen kleine kitschige Einfälle, die unnötig wären – und eine Kamera, die fast schon hilflos und hektische durch die Straßen von Paris hektisch fährt.
Dennoch hat mit „Les Misérables“ über weite Strecken mitgerissen. Bekanntermaßen hat sich Tom Hooper dafür entschieden, die Darsteller live singen zu lassen und es aufzunehmen. Die Vorteile dieses Verfahren zeigen sich insbesondere in der Szene, die Anne Hathaway Sonntagnacht den Oscar einbringen könnte: Als sie kahlgeschoren und abgemagert die Zeilen von „I dreamed a dream“ nicht einfach nur singt, sondern singend spricht, hatte ich Gänsehaut. Fantines Verzweiflung, ihre Erkenntnis, dass sich alle ihre Träume nicht mehr erfüllen werden, bringt Anne Hathaway großartig auf die Leinwand. Diese drei Minuten gehören zu den Höhepunkten des ganzen Films – und lassen ihren Auftritt am Ende des Films vergessen, an dem sich Tom Hooper von der Inszenierung im Theater hätte lösen und auf das filmische Mittel des Einblendens einer Stimme zurückgreifen können. Auch Hugh Jackman profitiert von diesem Verfahren. Sein Jean Valjean ist lebendig, wirkt greifbar und noch dazu verfügt er über das gesangliche Können, die Lieder mit seiner Stimme ausfüllen zu können. Es ist ihm sogar gelungen, dass ich keine Vergleiche mit Colm Wilkinson (der hier den Bischof singt) gezogen habe, obwohl ich von dessen Stimme beim ersten Hören das Musicals „Les Misérables“ hingerissen war. Hugh Jackman zeigt in diesem Film die beste Leistung seiner Karriere. Hier fällt gerade in den Szenen mit Russell Crowe der Unterschied sehr deutlich ins Auge: Crowes Stimme ist zwar überraschend angenehm, aber sie verfügt nicht über die Kraft, so dass den gesungenen Duellen Dynamik fehlt – gerade auch dem eigentlichen Höhepunkt „One day more“ zu bemerken. Hier driften die verschiedenen Stränge zu sehr auseinander. Das weist bereits auf das zugrunde Dilemma dieses Films: Tom Hooper hätte sich entscheiden müssen, ob er auf Schauspieler zurückgreift, die singen können, und sie möglichst filmisch inszeniert – oder auf Musicaldarsteller, die schauspielern können, und sie theaterhaft inszenieren. Einzig Hugh Jackman erfüllt beide Voraussetzungen, in vielen anderen Szenen sind die gesanglichen und schauspielerischen Leistungen zu unterschiedlich.
Kurzum: Es gibt einiges, was ich an „Les Misérables“ auszusetzen habe. Neben den oben genannten Kritikpunkten sind Helena Bonham-Carter und Sacha Baron Cohen als komische Figuren zu überzogen inszeniert, manche Lieder sind etwas zu lang und Eddie Redmayne und Amanda Seyfried als Liebespaar fast schon zu unschuldig (wenngleich diese Unschuld vom Skript gefordert ist). Und wer keine Musicals mag, sollte sich diesen Film auch nicht ansehen. Aber allein die Musik und Hugh Jackman haben mich begeistert und lohnen einen Kinobesuch. Mit gutem Ton.